Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018

Das schmerzbezogene quantitative Leistungsvermögen in der sozialmedizinischen orthopädisch- unfallchirurgischen Begutachtung

Die festgestellten Defizite überschneiden sich und führen so zu einer Potenzierung: 3 bis < 6 Stunden

Die psycho-physische Dauerleistungsfähigkeit ist bedeutsam beeinträchtigt: 3 bis < 6 Stunden, < 3 Stunden

Fähigkeit zum Einhalten von Körperhaltungen, Gehen/Stehen/Sitzen nur noch „zeitweise“ (ca. 10 % der Arbeitszeit): < 3 Stunden

Fähigkeit zum Einhalten von Körperhaltungen, Gehen/Stehen nur noch bei „zeitweise“ (ca. 10 % der Arbeitszeit); Sitzen „überwiegend“ (50–90 % der Arbeitszeit), aber nicht im definitionsgemäßen Umfang: 3 bis < 6 Stunden

Schwere spezifische Leistungsbehinderung: < 3 Stunden

Schlechte Prognose

Für die Folgezeit sind häufige krankheitsbedingte Fehlzeiten zu erwarten

Ungünstige Therapieerfahrungen

Keine therapeutischen Ressourcen

Bei organbezogenen Pathologien als mögliche Begründung für ein auch in quantitativer Hinsicht eingeschränktes Leistungsvermögen finden sich Hinweise in den Leitlinien der DRV für diesen Teil der medizinischen Begutachtung aus dem Jahr 2009 [1].

Konkret finden sich Hinweise zur Ermittlung der Leistungsfähigkeit nach operativen Eingriffen bei ausgewählten Krankheitsbildern. So wird ausgeführt, dass nach Nukleotomie und Bandscheibenprothesen bei regelrechtem Verlauf und Rekonvaleszenz von 2 bis maximal 6 Monaten von einem Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr bei körperlich mittelschwerer bis schwerer Tätigkeiten auszugehen ist.

Größere Eingriffe, Laminektomie und Hemilaminektomie bedingen aufgrund ausgeprägter Strukturveränderungen einen späteren Beginn der Tätigkeit, frühestens nach 3, spätestens nach 12 Monaten. Liegen langfristig bestehende, anhaltende schwere Funktionsstörungen vor, die u.U. zu erneutem Operationsbedarf führen, resultiert häufig ein aufgehobenes Leistungsvermögen auf Zeit oder Dauer. Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung nach Spondylodesen wird meist davon abhängen, ob es sich um einen Erst- oder Folgeeingriff handelt und wie das Ergebnis des operativen Eingriffs konkret und individuell einzuschätzen ist. Ein unbeeinträchtigtes zeitliches Leistungsvermögen wird man i.d.R. nach mehrsegmentaler lumbaler Spondylodese erwarten können. Nach mehrsegmentaler lumbaler Spondylodese als Folgeeingriff wegen langanhaltender Schmerzen und/oder Instabilität oder instabiler vorangegangener einsegmentaler Spondylodese wird trotz gemessener rehabilitativer Leistungen u.U. ein Leistungsvermögen von weniger als 6 Stunden bestehen. Einsegmentale Spondylodesen werden bei komplikationslosem Verlauf i.d.R. nach 3 bis spätestens 6 Monaten postoperativ ein tägliches Leistungsvermögen von 6 Stunden und mehr Stunden erreichen. Bei der mehrsegmentalen Spondylodese an der Halswirbelsäule als Ersteingriff muss die Belastbarkeit abhängig von der Beweglichkeit und evtl. bestehenden neurologischen Ausfällen beurteilt werden; in der Regel wird eine 6-stündige Belastbarkeit erreicht. Bei hochgradig beeinträchtigter Funktion der Halswirbelsäule, global um mehr als zwei Drittel der Norm, mit einer korrespondierenden Schmerzhaftigkeit kann das Leistungsvermögen auch bei leichter körperlicher Arbeitsschwere < 3 Stunden liegen. Gleiches gilt für die mehrsegmentale Spondylodese an der Halswirbelsäule als Folgeeingriff wegen persistierender Beschwerden und Instabilität, wobei sinnvollerweise die Belastbarkeit nach intensiven rehabilitativen Maßnahmen einzuschätzen ist.

Bei symptomatischen Spinalkanalstenosen mit Myelopathie findet sich klinisch häufig eine spastisch-paretische Symptomatik, z.B. auch mit ausgeprägten Gang- und Feinmotorikstörungen. Die Prognose zur Frage des quantitativen Leistungsvermögens ist allerdings oft ungünstig in der Auswirkung auf das Restleistungsvermögen, auch in quantitativer Hinsicht. Bei der lumbalen Spinalkanalstenose steht hingegen die Gangqualität bei möglicherweise bestehender Claudicatio spinalis im Vordergrund. Hier geht es insbesondere um die Wiederherstellung der Wegefähigkeit, also einem qualitativen Parameter.

Viele Patienten mit chronischen Schmerzen stehen unter Dauermedikation (bis zur Stufe 3 WHO), sie erhalten eine Co-Medikation, z.B. bei neuropathischen Schmerzen, oder Medikamente zur Behandlung der seelischen Gesundheit. Hier bestehen häufig Einschränkungen der psycho-physischen Dauerleistungsfähigkeit, die ggf. mit einer neuropsychologischen Testung zu verifizieren sind. Geht es um die Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit, sollte immer auch die differenzierte Betrachtung der Medikamente erfolgen, ebenso die Frage nach nicht-medikamentösen Behandlungsstrategien, die ggf. zu bevorzugen sind, und die Frage, ob es sich um eine adäquate Behandlung unter leitlinienorientierten Kautelen (LONTS) handelt. Zur Frage der Wegefähigkeit kann eine Fahrprobe oder Testung bei der zuständigen Behörde ebenfalls Klarheit schaffen.

Die einschlägigen Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung geben Hinweise auf ein evtl. beeinträchtigtes quantitatives Leistungsbild für sich negativ beeinflussende Einschränkungen von Organsystemen, topisch benachbart liegende Strukturen, wie im Fall der Coxarthrose bei bilateraler Störung oder Dekompensation, bei gleichzeitig vorliegenden erheblichen Störungen im Bereich der Rumpfwirbelsäule, im Sinne einer Instabilität der Lendenwirbelsäule bzw. des lumbosakralen Übergangs, einem ausgeprägten degenerativen Bandscheibenschaden oder einer statischen Fehlhaltung mit erheblichen muskulären Dysfunktionen. Geht man davon aus, dass bei hochgradig ausgeprägter bilateraler oder dekompensierter Störung bei Coxarthrose eine nur noch nahezu ausschließlich sitzende Tätigkeit in Betracht kommt, ist dies durch die genannten lumbalen Leiden i.d.R. ausgeschlossen. Wegen der hierdurch bedingten Behinderungen für längeres Sitzen sind u.U. quantitative Beeinträchtigungen des Restleistungsvermögens zu begründen.

Kontextbezogenen Faktoren eines möglichen quantitativ eingeschränkten Leistungsvermögens ergeben sich oft aus der Betrachtung des Alltagslebens und der sozialen Partizipation der Probanden. Es wurde bereits auf die besondere Notwendigkeit, diese Lebensbereiche hingewiesen, vor allem im Rahmen der Begutachtung von chronischem Schmerz. Aus dem ermittelten Lebensvollzug, soweit nachvollziehbar und objektivierbar (Konsistenz, Plausibilität), und der Prüfung der willentlichen Steuerbarkeit ergeben sich zielführende Hinweise. Auch kann sich eine Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens durch sich negativ beeinflussende und überschneidende Faktoren ergeben, die so zu einer Potenzierung führen.

In diesem Kontext anzusprechen sind neben den festzustellenden Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane auch Erkrankungsbilder verschiedener Organsysteme aus der Inneren Medizin, Neurologie, Psychiatrie. Beispiele hierfür finden sich nach frustran verlaufenden multiplen Eingriffen an der Wirbelsäule. Gerade bei Probanden mit chronischen Schmerzsyndromen ist zu ermitteln, ob die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im Lebensvollzug noch erhalten ist und ob schmerzbezogene Einschränkungen bestehen. Ermittlungen im Rahmen der medizinischen Begutachtung helfen hier bei der Einschätzung.

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