Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Degenerative zervikale Myelopathie
Pathogenese, Bildgebung und Therapie

Stephan Klessinger

Lernziele:

Nach der Lektüre dieses Beitrags

kennen Sie die Pathophysiologie einer zervikalen Myelopathie,

können Sie die Symptome und die Untersuchungsbefunde einordnen,

lernen Sie die bildgebende Diagnostik zu bewerten,

kennen Sie die Therapiemöglichkeiten und Indikationen zur Operation.

Zusammenfassung:
Bei einer zervikalen degenerativen Myelopathie kommt es im Rahmen einer Spinalkanalstenose zu einer mechanischen Kompression und damit zu einer Schädigung des Rückenmarks. Zusätzlich spielt eine Minderdurchblutung eine Rolle, die zu einer Ischämie führen kann. Durch eine Instabilität entstehen Mikrotraumen, die eine weitere Schädigung bewirken. Letztendlich resultieren Apoptosen und Nekrosen des neuronalen Gewebes. Neben lokalen Schmerzen im Nacken führt die Rückenmarksschädigung zu einer Feinmotorikstörung, Gangunsicherheit, Sensibilitätsstörungen und Paresen. Typisch ist ein spastisch-ataktisches Gangbild. Daneben finden sich oft zusätzlich radikuläre Beschwerden. Im MRT sind die Spinalkanalstenose und die Kompression des Rückenmarks erkennbar. Typisch ist im T2-gewichteten Bild eine hyperintense Läsion. Der Schweregrad einer Myelopathie wird mit dem mJOA-Score bestimmt. Für moderate und schwere Myelopathien wird eine Operation empfohlen, bei einer milden Myelopathie kommt auch eine konservative Therapie in Frage. Verschiedene Operationsverfahren stehen zur Verfügung. Möglich ist eine ventrale Dekompression mit Fusion, aber auch eine dorsale Dekompression durch eine Laminektomie mit Schraubenfixation oder eine Laminoplastie.

Schlüsselwörter:
Zerviale Myelopathie, zervikale Spinalkanalstenose, Halswirbelsäule, chirurgische Therapie

Zitierweise:
Klessinger S: Degenerative zervikale Myelopathie. Pathogenese, Bildgebung und Therapie
OUP 2023; 12: 121–128
DOI 10.53180/oup.2023.0121-0128

Summary: In cervical degenerative myelopathy, spinal canal stenosis causes mechanical compression and thus damage to the spinal cord. Reduced blood flow also plays a role, which can lead to ischemia. In addition, microtraumas are caused by instability. Ultimately, apoptosis and necrosis of the neuronal tissue result. In addition to local pain in the neck, the damage to the spinal cord leads to impaired fine motor skills, unsteady gait, sensory disturbances and paresis. A spastic-atactic gait pattern is typical. Besides, there are often additional radicular complaints. MRI shows spinal stenosis and spinal cord compression. A hyperintense lesion on the T2-weighted image is typical. The severity of myelopathy is determined using the mJOA score. Surgery is recommended for moderate and severe myelopathies, while conservative therapy is also an option for mild myelopathy. Various surgical procedures are available. Ventral decompression with fusion is possible, as is dorsal decompression through laminectomy with screw fixation or laminoplasty.

Keywords: Cervical myelopathy, cervical spinal stenosis, cervical spine, surgical treatment

Citation: Klessinger S: Degenerative cervical myelopathy. Pathogenesis, imaging and therapy
OUP 2023; 12: 121–128. DOI 10.53180/oup.2023.0121-0128

Neurochirurgie Biberach

Einleitung

Der Begriff Myelopathie bezeichnet eine Schädigung des Rückenmarks. Verschiedene Ursachen und Erkrankungen können dafür verantwortlich sein wie z.B. entzündliche Veränderungen, traumatische Schädigungen oder Tumoren. Bei der degenerativen oder spondylotischen zervikalen Myelopathie (DZM) kommt es zu einer mechanischen Kompression des Rückenmarks durch eine Spinalkanalstenose. Diese Form der Myelopathie ist die häufigste Ursache für eine Schädigung des Rückenmarks [1, 2]. Genaue Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz sind in der Literatur nicht beschrieben, jedoch zeigte sich in einer holländischen Untersuchung, dass ca. 1,6/100.000 Einwohner pro Jahr wegen einer DZM einen chirurgischen Eingriff benötigten [3]. Die Erkrankung kann zu unterschiedlichen neurologischen Symptomen und zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität führen. Die degenerativen Veränderungen und somit auch die Einengung des Spinalkanals mit Kompression des Rückenmarks sind altersabhängig.

Pathogenese

In der Literatur werden statische und dynamische mechanische Prozesse beschrieben, die zu Veränderungen der Nervenzellen und der Glia führen. Durch degenerative Prozesse kommt es zu einer Hypertrophie der Facettengelenke, Ausbildung von Osteophyten, Instabilitäten und Subluxationen sowie zu Verknöcherungen des hinteren Längsbandes und des Ligamentum flavum mit einer Ligamenthypertrophie. Dadurch entsteht die Spinalkanalstenose. Zusätzlich kann Bandscheibengewebe die Kompression auf das Rückenmark verstärken. Eine (kyphotische) Fehlstellung der Halswirbelsäule führt zu einer vermehrten Zugbelastung des Rückenmarks. Diese Veränderungen bewirken die Kompression des Rückenmarks, erklären aber nicht gut, warum die klinische Präsentation bei Patientinnen und Patienten mit nachgewiesener DZM sehr unterschiedlich ist, von asymptomatischen Patientinnen und Patienten bis hin zu Patientinnen und Patienten mit schweren neurologischen Defiziten. Auch der zeitliche Verlauf mit teilweise über eine lange Zeit stabilen Symptomen oder progredienter Verschlechterung ist schwierig zu erklären [4].

Die mechanische Kompression führt zudem häufig zu einer arteriellen Minderversorgung und zu einer Ischämie [4], z. B. durch Kompression der Arteria radiculomedullaris im Foramen. Der Tractus corticospinalis wäre hiervon betroffen, was zur klinischen Präsentation passt. Auch andere radikuläre Arterien und die Arteria spinalis anterior können komprimiert werden. Auch eine venöse Stauung wird diskutiert. Zudem werden mikrovaskuläre Veränderungen mit Schädigung der Endothelzellen und einer Störung der Blut-Rückenmarksschranke beschrieben [5]. Sowohl die Ischämie als auch die mechanische Kompression führen zu einer Aktivierung von Makrophagen und zu Entzündungsreaktionen [6]. Ein weiterer Mechanismus sind Mikrotraumen, die bei Bewegungen und Segmentinstabilität zu dynamischen Verletzungen des Rückenmarks führen. Instabilitäten und Listhesen der Halswirbelsäule finden sich vorwiegend in den Segmenten Hw3/4 und Hw4/5, wahrscheinlich, da in diesen Etagen eine kompensatorische Mehrbewegung stattfindet, da die unteren Etagen der Halswirbelsäule häufiger von degenerativen Veränderungen betroffen sind [7].

Letztendlich kommt es zu Veränderungen des neuralen Gewebes mit Apoptose und Nekrosen der grauen und weißen Substanz und zu einer Gliose und Demyelinisierung [8, 9]. Solche ultrastrukturellen neurovaskulären Veränderungen konnten im Tierversuch nachgewiesen werden [10]. Zusätzlich zu den statischen Veränderungen spielen auch dynamische Prozesse eine wichtige Rolle, welche zu Mikrotraumen führen können [7].

Schließlich wird auch eine genetische Prädisposition unterschiedlicher degenerativer Erkrankungen der Wirbelsäule diskutiert [7]. Untersucht wurden vor allem Veränderungen der Bandscheibe und die Ossifikation des hinteren Längsbandes, oft bezogen auf regionale Besonderheiten.

Symptome

Die klinischen Beschwerden sind vielfältig und zu Beginn häufig unspezifisch [11]. Typisch sind lokale Schmerzen im Nacken mit Ausstrahlung in die Schultern, eine Feinmotorikstörung, Gleichgewichtsstörungen, Gangunsicherheit, Sensibilitätsstörungen, Paresen und in schweren Fällen Blasen- und Darmstörungen. Betroffen sind die Bahnen im Rückenmark ab der Läsion nach caudal. Die Schmerzen im Nacken sind durch die degenerativen Veränderungen zu erklären.

Störungen des Tractus corticospinalis (Pyramidenbahn) führen zu Paresen, von denen die kleine Handmuskulatur, aber häufig auch die Beine betroffen sein können, da die Bahnen für die unteren Segmente im Tractus corticospinalis außen liegen (die Kompression kommt von außen). Da sich die Schädigung auf Rückenmarksebene, also zentral abspielt, handelt es sich um spastische Paresen, was sich in gesteigerten Muskeleigenreflexen äußert. Die Pyramidenbahnen projizieren vor allem auf die ?-Motoneurone der distalen Extremitätenmuskeln und spielen somit eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Feinmotorik. Es kommt daher zu einer Feinmotorikstörung der Hände (das Schließen von Hemdknöpfen fällt schwer) und der Beine (Unsicherheit beim Laufen). Zudem kontrollieren die Fasern der Pyramidenbahn synaptische Prozesse im Rückenmark. Es können von der Pyramidenbahn eigentlich unterdrückte propriozeptive Verschaltungen wieder in Kraft treten, sodass primitive Reflexe (Pyramidenbahnzeichen, Babinski-Reflex, Knips-Reflex) wieder auslösbar sind [12].

Störungen der sensiblen Bahnen führen zu Störungen der Oberflächensensibilität (Parästhesien, Hypästhesien) an Armen und Beinen. Zudem kommt es häufig zu einer Störung der Tiefensensibilität, was die Feinmotorik verschlechtert und zu einer Ataxie führt. Zusammen mit den Paresen entsteht so das typische spastisch-ataktische Gangbild. Bei fortgeschrittener Myelopathie kann es auch zu Störungen der Blasenfunktion kommen.

Bei der klinischen Untersuchung sind daher die Untersuchung der Oberflächensensibilität an Armen und Beinen sowie die Prüfung der Kraft an oberer und unterer Extremität wichtig. Zudem spielt der Reflexstatus eine große Rolle und es ist nach gesteigerten Muskeleigenreflexen und nach Pyramidenbahnzeichen zu suchen. Eine Hyperreflexie hat eine Sensitivität von 72 % und eine Spezifität von 43 % für eine Myelopathie. Der Knips-Reflex (Hoffmann’s Zeichen) kommt auf eine Sensitivität von 49 % und eine Spezifität von 84 %. Ein Fußklonus und ein positiver Babinski-Reflex haben jeweils eine geringe Sensitivität von 13 % aber eine Spezifität von 100 %) [13]. Bei 79 % der Patientinnen und Patienten mit Myelopathie und bei 95 % der Patientinnen und Patienten mit einem auffälligen Rückenmarksignal im MRT findet sich zumindest ein positives Myelopathiezeichen versus 57 % der Patientinnen und Patienten mit Nackenschmerzen ohne Myelopathie.

Ungefähr zwei Drittel der Patientinnen und Patienten mit einer Myelopathie haben zusätzliche radikuläre Beschwerden [11]. Es kommen dann zusätzlich zu den oben genannten Symptomen noch radikuläre Schmerzen im Arm, dem zugehörigen Dermatom entsprechende Sensibilitätsstörungen und Paresen der entsprechenden Muskulatur in unterschiedlicher Ausprägung hinzu. Da die Ursache für die radikulären Beschwerden in der Kompression der Nervenwurzel liegt (distal vom ?-Motoneuron), kommt es zu einer schlaffen Parese und zu einer Reflexabschwächung. Es finden sich also möglicherweise bei einer Patientin/einem Patienten gleichzeitig sowohl Zeichen einer peripheren radikulären Schädigung und Zeichen einer zentralen Rückenmarksschädigung [12]. Paresen und eine Gangunsicherheit als erste Symptome sind negative Prädikatoren bezüglich des postoperativen neurologischen Ergebnisses [11].

Eine Reihe von klinischen Tests und Fragebögen wurde entwickelt zur Diagnose und Verlaufsuntersuchung einer DZM [14]. Funktionelle Defizite werden mit dem Nurick-Score und dem modifizierten Japanese Orthopedic Association (mJOA) Score untersucht, wobei der Nurick-Score vor allem die Schwierigkeiten beim Laufen berücksichtigt. Für die Einschätzung des Schweregrads der Myelopathie ist der mJOA-Score [15] geeignet (Tab. 1). Er besteht aus einer Skala mit insgesamt 18 Punkten, von denen 5 Punkte die motorische Funktion der oberen Extremität, 7 Punkte die motorische Funktion der unteren Extremität, 3 Punkte Sensibilitätsstörungen und 3 Punkte Blasenstörungen berücksichtigen. Mindestens 15 Punkte wurden als milde Myelopathie definiert, 12–14 Punkte als moderate und weniger als 12 Punkte als schwere Myelopathie. Diese Einteilung ist bei der Auswahl einer geeigneten Therapie zur Einschätzung von Risiken und Nutzen wichtig.

Bildgebung

Röntgenbilder der HWS liefern Informationen über das globale Alignement. Die zervikale Skoliose oder eine kyphotische Fehlstellung wird im seitlichen Bild sichtbar [17]. Das physiologische Alignement wiederherzustellen, ist ein Ziel des chirurgischen Eingriffs, weshalb radiologische Kriterien in die Planung der Operation einbezogen werden. Ebenso kann eine statische Instabilität in Form einer Spondylolisthese erkennbar sein [18]. Der Nutzen dynamischer Funktionsaufnahmen wird kontrovers diskutiert. Das Bewegungsausmaß der Wirbelsäule wird dargestellt und chronische Instabilitäten können erkennbar werden. Allerdings wird oftmals nur eine geringe Sensitivität für das Erkennen einer Segmentinstabilität angegeben [19, 20].

In der Computertomographie (CT) lassen sich knöcherne Strukturen als Ursache der Stenose (z.B. Osteophyten, Ossifikationen des hinteren Längsbandes) darstellen. Zudem kann das CT wichtige Knochenstrukturen wie den Wirbelkörper, die Massa lateralis und die Pedikel, aber mit Hilfe einer CT-Angiographie auch die Arterien (A. vertebralis) visualisieren, was zur Planung der Schraubenlage hilfreich sein kann. Wenn ein MRT kontraindiziert ist, kann eine CT-Myelographie sinnvoll sein [18].

Die Kernspintomographie (MRT) ist die Standarddiagnostik bei einer DZM. Beurteilt werden können die direkte Rückenmarkskompression und das Signalverhalten des Rückenmarks, wobei hier besonders ein hyperintenses Signal im T2-gewichteten Bild relevant ist [18], welches häufig als „Myelopathiesignal“ bezeichnet wird. Diese Veränderung entspricht zunächst wohl einem Ödem, welches noch reversibel ist, kann aber auch Zeichen einer Gliose sein. Findet sich im T1-gewichteten Bild ein hypointenses Signal, so korreliert dies mit einer Myelomalazie und dem Verlust von grauer Substanz [22]. Die sichtbare Kompression des Rückenmarks ist sehr sensitiv für eine Myelopathie (> 99 %), hat aber nur eine sehr geringe Spezifität (< 10 %). Auch bei ca. 25 % asymptomatischer Patientinnen und Patienten ist eine Rückenmarkskompression erkennbar. Hingegen ist ein intramedulläres, hyperintenses Signal im T2-gewichteten Bild relativ spezifisch (> 90 %) aber nicht sehr sensitiv [21]. Aus dem MRT-Befund allein ist kein Rückschluss auf die Schwere der klinischen Symptomatik möglich.

Es wurde versucht, die Prognose einer OP anhand der Befunde im MRT vorherzusagen. Generell scheint das Vorhandensein eines hypointensen T1-Signals oder hyperintensen T2-Signals mit einem schlechten Ergebnis assoziiert zu sein. Das hypointense T1-Signal zeigt eine zunehmende Beeinträchtigung des Rückenmarks [18]. Qualitative Messungen der Rückenmarkskompression im MRT korrelieren nur schlecht mit der klinischen Funktion, die Ergebnisse der Studien sind kontrovers [18]. Der Stellenwert eines dynamischen MRT (Flexion und Extension) wird in aktuellen Studien untersucht [23]. Es scheint möglich, Stenosen in Extension zu erkennen, die in Flexion oder Neutralposition nicht sichtbar sind [24].

Zunehmend werden neuere MRT-Techniken zur Diagnostik verwendet. Diffusion Tensor Imaging (DTI) beruht auf der Messung der Diffusionseffekte von Wassermolekülen auf zellulärer Ebene. DTI liefert Bilder, aber auch quantitative Messungen. Es ermöglicht eine Kartierung der Rückenmarksfasern und eine Quantifizierung der Diffusionseigenschaften des Rückenmarks. Es kann so die Integrität der weißen Rückenmarkssubstanz beurteilt werden [25]. Zur Quantifizierung werden 2 Parameter bestimmt. ADC (apparent diffusion coefficient) stellt ein Maß für die mittlere Diffusität dar und FA (fractional anisotropy) bestimmt den Grad der Richtungsabhängigkeit entlang der Gradientenachse. Typisch für eine DZM ist die Abnahme der FA-Werte bei Zunahme der ADC-Werte. DTI korreliert mit der Schwere der Erkrankung und den mJAO-Scores, jedoch nicht so gut mit dem Therapie-Outcome [25]. Problematisch ist DTI bei langstreckigen Stenosen.

Eine vielversprechende Technik ist die MR-Spektroskopie, die die Konzentration spezifischer Moleküle misst, die am neuronalen Zelltod beteiligt sind wie z.B. N-Acetylaspartat (NAA), Cholin (Cho), Kreatinin (Cr) und Laktat (Lac). Untersucht wurde z.B. das NAA/Cr Verhältnis [18]. Weitere Techniken, die in Bezug auf ihre Verwendung bei einer DZM untersucht werden, sind das funktionelle MRT, Perfusions Imaging oder die Positronen Emissions Tomographie (PET).

Therapie

Um eine Therapieentscheidung zu treffen und Patientinnen und Patienten gut zu beraten, ist es notwendig, den Spontanverlauf einer DZM zu kennen. So lassen sich die Erwartungen der Patientinnen und Patienten steuern und Risiken und Nutzen der unterschiedlichen Therapien können abgewogen werden. Es ist zu erwarten, dass sich zwischen 20 % und 62 % der Patientinnen und Patienten mit einer symptomatischen Myelopathie im Verlauf von 3–6 Jahren verschlechtern werden [26]. Dies bedeutet, dass nicht alle symptomatischen Patientinnen und Patienten eine progrediente Symptomatik haben. Es lässt sich allerdings nicht vorhersagen, welche Patientinnen und Patienten von einer Verschlechterung betroffen sein werden. Dieses schlecht vorherzusagende Risiko bei konservativer Therapie muss mit den Ergebnissen einer operativen Therapie verglichen werden, die nicht nur eine Verschlechterung verhindern kann, sondern auch zu einer Verbesserung neurologischer Symptome führt [26]. Von den asymptomatischen Patientinnen und Patienten mit einer Rückenmarkskompression werden 8 % innerhalb eines Jahres symptomatisch werden. Nach 4 Jahren werden 23 % der Patientinnen und Patienten Symptome zeigen [26].

Eine Reihe von Faktoren kann den natürlichen Verlauf der Erkrankung beeinflussen. So spielt der Ausgangs mJOA-Score eine Rolle, eine konservative Therapie wird nur bei Patientinnen und Patienten mit hohen Werten in Betracht gezogen. Auch die Dauer der Beschwerden korreliert mit einem schlechteren Therapieergebnis. Die Signalveränderungen im MRT korrelieren mit der Schwere der Erkrankung (insbesondere die Kombination aus einem hyperintensen Signal im T2-gewichteten Bild mit einem hypointensen Signal im T1-gewichteten Bild). Der natürliche Verlauf der Erkrankung kann aber anhand des MRT-Befundes nicht vorhergesagt werden [2]. In einer prospektiven Studie wurde der Verlauf der Erkrankung von 56 Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie beobachtet. Elf Patientinnen und Patienten (19,6 %) zeigten im Verlauf eine klinische Verschlechterung, 9 von diesen Patientinnen und Patienten wurden operiert. Einzig eine zirkumferente Myelonkompression war ein Prädiktor für einen schlechten Verlauf [27]. Patientinnen und Patienten mit bestimmten genetischen Erkrankungen wie z.B. Down-Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom und Morquio-Syndrom, sind anfälliger für eine DZM, da entweder eine kongenitale Spinalkanalstenose besteht oder eine Bindegewebsschwäche mit Hypermobilität. Bei einem Klippel-Feil-Syndrom kommt es zur Fusion mehrerer Wirbel, was zu einer mechanischen Überlastung benachbarter Segmente führen kann. Auch ein Diabetes mellitus und Rauchen kann den Spontanverlauf der Erkrankung negativ beeinflussen [2].

Bei der Entscheidung, ob ein konservatives Vorgehen oder eine Operation empfohlen wird, ist die Schwere der Myelopathie gemessen mit dem mJAO-Score wichtig. In einer prospektiven Multicenter-Studie der AOSpine Nordamerika haben Fehlings et al. 2013 die Operationsergebnisse von Patientinnen und Patienten mit Myelopathie nach einem Jahr untersucht [28]. 278 hatten eine milde Myelopathie (mJOA ? 15), 110 eine moderate (mJOA 12–14) und 83 Patientinnen und Patienten eine schwere Myelopathie (mJOA < 12). In allen Gruppen fand sich eine Verbesserung der funktionellen Ergebnisse und der Lebensqualität. Insgesamt verbesserte sich der mJOA nach 12 Monaten von 12,8 auf 15,7. Am meisten profitierten Patientinnen und Patienten mit einer schweren Myelopathie. Der mJOA-Score verbesserte sich um 4,91 Punkte. Bei Patientinnen und Patienten mit moderater Myelopathie betrug die Verbesserung noch 2,58 Punkte. Die Komplikationsrate wurde mit 18,7 % angegeben. In der anschließend durchgeführten internationalen Studie [29] wurden diese Ergebnisse bestätigt. Es wurden 479 Patientinnen und Patienten prospektiv untersucht. Nach 24 Monaten verbesserte sich der mJOA-Score von 12,5 auf 14,9. Die Häufigkeit neurologischer Komplikationen wurde mit 3,13 % angegeben.

Die Evidenz in der Literatur spricht für eine chirurgische Behandlung bei einer moderaten oder schweren Myelopathie. Für Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie sind die Ergebnisse nicht so klar. Eine randomisierte, prospektive Studie aus dem Jahr 2011 [30] fand nach 10 Jahren keinen Vorteil einer Operation gegenüber einer konservativen Therapie bei Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie. In einer prospektiven kanadischen Multicenter-Studie aus dem Jahr 2021 zeigte sich bei Patientinnen und Patienten mit einer milden Myelopathie zwar eine Verbesserung der Lebensqualität, nicht aber eine Verbesserung des mJAO-Scores postoperativ nach 1 Jahr. In einer prospektiven Multicenter Studie der AOSpine bezüglich der Ergebnisse nach Operation bei milder Myelopathie [32] fanden sich schließlich Verbesserungen in allen untersuchten Bereichen, auch beim mJAO-Score.

Insofern können Patientinnen und Patienten mit geringgradiger Stenose und konstanten, leichteren Verläufen und ohne erhöhtes Sturzrisiko zunächst auch konservativ behandelt werden [33]. Eine engmaschige Beobachtung der Patientinnen und Patienten ist wichtig. Veränderungen in den elektrophysiologischen Untersuchungen (somatosensorisch evozierte Potentiale, motorisch evozierte Potentiale und Elektromyographie) können eine Verschlechterung frühzeitig erkennbar machen [2]. Für die konservative Therapie stehen Medikamente, physikalische Therapie, Injektionen und Orthesen zur Verfügung. Es ist durch die konservative Therapie nicht mit einer Rückbildung eventuell vorhandener neurologischer Defizite zu rechnen [34].

Operative Verfahren

Das primäre Ziel der operativen Therapie ist die Entlastung der neuralen Strukturen. Sollten Fehlstellungen oder Deformitäten (insbesondere eine Kyphose) vorliegen, muss dies bei der Operationsplanung berücksichtig werden, damit die Rekonstruktion eines physiologischen Alignements gelingt. Zudem besteht häufig eine Instabilität mit Spondylolisthese. Somit ist die Stabilisierung instabiler Segmente ein weiteres Operationsziel. Durch den operativen Eingriff wird nicht nur einer Verschlechterung vorgebeugt, es ist auch eine Verbesserung der Symptomatik zu erwarten. Kontrovers wird allerdings diskutiert, welches Operationsverfahren und welcher Zugang (ventral oder dorsal) wann angewendet werden sollte.

In Frage kommt eine ventrale segmentale Dekompression mit Fusion, ggf. auch langstreckig, mit partieller Wirbelkörperresektion. Dieses Vorgehen ist effektiv, um direkt das Rückenmark zu dekomprimieren, Osteophyten und Bandscheibenanteile zu entfernen, die Bandscheibenhöhe wiederherzustellen und eine segmentale Kyphose zu korrigieren [35]. Bei kurzstreckigen, ventralen Pathologien mit normalem Alignement wird auch die Implantation einer Bandscheibenprothese diskutiert. Alternativ kommt die dorsale Dekompression mittels Laminektomie und dorsaler Schraubenfixation vor allem bei langstreckigen kyphotischen Myelopathien in Frage. Im Sinne eines bewegungserhaltenden Verfahrens wird auch eine Laminoplastie durchgeführt [35]. Die Wahl des chirurgischen Verfahrens und des Zugangs von ventral oder dorsal ist der aktuell am kontroversesten diskutierte Aspekt in der Behandlung degenerativer zervikaler Myelopathien [36].

Satin et al. haben 2022 in einem Review die Ergebnisse prospektiver Studien verglichen [36]. Fehlings et al. [37] untersuchten 264 Patientinnen und Patienten aus der prospektiven AOSpine Nordamerika Studie, die sich entweder einer ventralen Operation mit Diskektomie/Korporektomie mit instrumentierter Fusion (n = 196) oder einer dorsalen (n = 95) Operation unterzogen. Dorsale Techniken umfassten entweder eine Laminektomie mit Fusion (86 %) oder eine Laminoplastie (14 %). Die Auswahl des Verfahrens lag in dieser Studie im Ermessen des behandelnden Chirurgen. Patientinnen und Patienten, die über einen ventralen Zugang behandelt wurden, waren jünger und hatten eine weniger schwere Myelopathie. Es gab keinen Unterschied in der funktionellen Erholung. Die Autoren stellten fest, dass ventrale und dorsale Techniken zu ähnlichen Verbesserungen der neurologischen Funktion und der Lebensqualität führen bei einer niedrigen neurologischen Komplikationsrate. Eine weitere nicht randomisierte, prospektive, multizentrische Studie hat ebenfalls ventrale und dorsale Fusionsoperationen verglichen [38]. Diese Studie war als Machbarkeitsstudie bezüglich einer randomisierten kontrollierten Studie geplant. Es wurden 50 Patientinnen und Patienten (28 ventral und 22 dorsal) eingeschlossen. Das chirurgische Vorgehen lag im Ermessen des behandelnden Arztes. Patientinnen und Patienten, die mit einer dorsalen Operation behandelt wurden, hatten eine signifikant schlimmere Myelopathie. Postoperativ fand sich eine signifikant größere Verbesserung der Lebensqualität bei den Patientinnen und Patienten mit ventraler Operation. In beiden Gruppen wurde aber eine signifikante Verbesserung des mJOA-Scores beobachtet. Die Gesamtkomplikationsrate betrug 16,6 %. Komplikationen in der ventralen Gruppe standen überwiegend im Zusammenhang mit Schluckbeschwerden, während alle Komplikationen in der dorsalen Gruppe mit postoperativen C5-Lähmungen in Zusammenhang standen.

2021 wurde schließlich die bisher einzige randomisierte kontrollierte Studie veröffentlicht [39]. Der primäre Endpunkt war die Veränderung des Short Form 36 Physical Component Summary (SF-36-PCS)-Scores nach 1 Jahr im Vergleich zwischen ventralem und dorsalem OP-Zugang. Die ventrale Dekompression mit Fusion bestand aus einer Diskektomie mit Fusion und Verplattung und konnte eine partielle oder Single-Level-Korporektomie umfassen. Zu den dorsalen Zugängen gehörten entweder eine open-door-Laminoplastie oder eine Laminektomie und Fusion mit Massa lateralis-Schrauben. Bei den Patientinnen und Patienten mit dorsaler Operation konnte der Chirurg zwischen der Laminoplastie und der Laminektomie mit Fusion entscheiden. 163 Patientinnen und Patienten wurden randomisiert, 66 ventrale Fusionen, 69 dorsale Fusionen und 28 Laminoplastien wurden durchgeführt. Die Baseline-Charakteristika waren in allen Randomisierungs- und Behandlungsgruppen ähnlich. Die durchschnittliche Verbesserung der SF-36-PCS-Scores war vergleichbar bei den ventralen und dorsalen Fusionsgruppen nach 1 und 2 Jahren. Alle Patientinnen und Patienten zeigten nach 1 oder 2 Jahren eine klinisch bedeutsame Verbesserung. Die Gesamtkomplikationsrate betrug 47,6 % nach ventraler Operation und 24,0 % nach dorsaler Operation. Dies war jedoch hauptsächlich auf das Auftreten einer Dysphagie nach ventralen Eingriffen zurückzuführen, die sich häufig innerhalb 1 Jahres zurückbildete. Bemerkenswert ist, dass die Patientinnen und Patienten mit einer Laminoplastie nach 1 und 2 Jahren im Vergleich zu den Patientinnen und Patienten mit ventraler oder dorsaler Fusion von signifikant besserer Funktionsfähigkeit, signifikant weniger Komplikationen und signifikant geringerer Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten berichteten.

Bei einer kyphotischen Fehlstellung und kurzstreckiger Kompression eher von ventral kommt eine ventrale Fusion in Betracht, ggf. auch eine Koprorektomie. Eine dorsale Dekompression und Fusion kommt bei einer langstreckigen Kompression in Frage [36].

Es existieren auch eine Reihe von patientenbezogenen Faktoren, die das Ergebnis einer Operation beeinflussen können [40]. Patientinnen und Patienten mit einem Diabetes haben initial schon einen schlechteren mJOA-Score und eine höhere Komplikationsrate und eine längere Erholungsphase nach einer OP. Die Verbesserung der neurologischen Symptome ist abhängig vom Alter der Patientinnen und Patienten. Ab einem Alter von 60 oder 65 Jahren werden schlechtere Ergebnisse berichtet. Auch Raucher haben schlechtere Ergebnisse und häufiger Komplikationen. Auch psychische Erkrankungen (Depression, Angsterkrankungen, bipolare Störungen) beeinflussen das Ergebnis einer Operation negativ. Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten Body Mass Index hatten häufiger Begleiterkrankungen und vermehrt Komplikationen. Ein geringerer Durchmesser des Rückenmarks im MRT und ein helles T2-Signal oder ein T2-Signal über mehrere Segmente ist ein negativer Prädiktor. Je länger Symptome einer Myelopathie vorliegen, desto eher entstehen irreversible Veränderungen am Myelon.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf: www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Stephan Klessinger

Facharzt für Neurochirurgie

Neurochirurgie Biberach

Eichendorffweg 5

88400 Biberach

Fragen zum CME-Artikel:

1. Wie viele Menschen benötigen pro Jahr einen chirurgischen Eingriff auf Grund
einer degenerativen zervikalen Myelopathie (DZM)?

1,6/100.000

1,3/100.000

0,6/100.000

1,9/100.000

0,9/100.000

2. Welcher Faktor spielt in der Pathogenese der DZM keine Rolle?

neurovaskuläre Veränderungen

Segmentinstabilität

Mikrotraumen

Vermehrung der Endothelzellen im Rückenmark

Demyelinisierung

3. Welche Kombination von Symptomen passt am besten zu einer DZM?

Brachialgien mit radikulärer Symptomatik, mit schlaffer Paraparese der Beine

Reflexabschwächung in Armen und Beinen

Sensibilitätsstörung einer Hand, Feinmotorikstörung und spastisches Gangbild

Sensibilitätsstörungen in Armen und Beinen mit fehlenden Pyramidenbahnzeichen

Nackenschmerzen und negatives Hoffmann’s Zeichen

4. Der modifizierte Japanese Orthopedic Assocoation (mJAO) Score dient zur...

Einschätzung der mechanischen Kompression des Rückenmarks

Abschätzung der psycho-sozialen Belastung

Planung der physiotherapeutischen Maßnahmen

Messung der Intensität des T2-Signals im MRT

Beurteilung des Schweregrades der Myelopathie

5. Welche Aussage zur DZM ist richtig?

16 Punkte im mJAO-Score entsprechen einer schweren Myelopathie.

Werden positive Pyramidenbahnzeichen festgestellt, kann eine DZM ausgeschlossen werden.

Genetische Erkrankungen spielen keine Rolle bei einer DZM.

Die Hyperintensität im T2-gewichteten MRT-Bild entspricht einem Ödem oder einer Gliose.

Eine OP wird nur durchgeführt, um eine Progredienz der Symptome zu verhindern. Eine Verbesserung der Symptomatik ist nicht zu erwarten.

6. Welche Aussage zur Bildgebung bei einer DZM ist richtig?

Ein hyperintenses Signal im Rückenmark in der T2-Wichtung hat eine hohe Sensitivität.

Die Kernspintomographie ist die Standarddiagnostik.

Für die Anfertigung konventioneller Röntgenbilder existiert keine Indikation.

Mindestens 40 % der Patientinnen und Patienten mit einer im MRT-sichtbaren Rückenmarkskompression sind asymptomatisch.

Neue Techniken wie z.B. Diffusion Tensor Imaging sind für die Diagnose ungeeignet.

7. Welche Aussage trifft für den Spontanverlauf der Erkrankung zu?

Ca. 20 % der asymptomatischen Patientinnen und Patienten werden erwartungsgemäß innerhalb eines Jahres klinische Symptome entwickeln.

Bei den meisten Patientinnen und Patienten muss im Verlauf von wenigen Jahren nicht mit einer Verschlechterung gerechnet werden.

Es ist auf jeden Fall sinnvoll, für ein paar Jahre den Spontanverlauf abzuwarten, bevor die Entscheidung für eine Operation getroffen wird.

Eine erkennbare Instabilität führt zu einer schlechteren Prognose.

Daten über den Spontanverlauf existieren nicht, da jede Patientin/jeder Patient mit einer Myelopathie operiert wird.

8. Welche Aussage zur konservativen Therapie einer DZM ist nicht richtig?

Eine konservative Therapie kommt vor allem bei einer Ataxie in Frage.

Physiotherapie und Medikamente können Bestandteil einer konservativen Therapie sein.

Regelmäßige elektrophysiologische Untersuchungen können im Verlauf einer konservativen Therapie sinnvoll sein.

Das Sturzrisiko ist bei der Therapieplanung zu berücksichtigen.

Die Entscheidung über eine konservative oder operative Therapie ist individuell.

9. Welche Aussage zur Operation bei einer DZM trifft zu?

Die Evidenz besagt, dass bei einer milden Myelopathie nicht operiert werden sollte.

Bei einer schweren Myelopathie kann nach einer operativen Dekompression mit einer durchschnittlichen Verbesserung um ca. 5 Punkte im mJAO-Score gerechnet werden.

Bei einer moderaten Myelopathie wird durch die OP lediglich eine Verschlechterung verhindert, eine Verbesserung der Symptomatik ist nicht zu erwarten.

Sobald eine Myelopathie festgestellt wurde, sollte unabhängig vom Schweregrad operiert werden.

Es existieren keine Studien zu OP-Ergebnissen bei milder Myelopathie.

10. Welche Aussage zur Operationstechnik bei einer DZM trifft nicht zu?

Es kommen ventrale und dorsale Zugänge in Frage.

Wesentliches Operationsziel ist eine Dekompression des Spinalkanals, häufig wird zusätzlich eine Fusion oder Osteosynthese durchgeführt.

Die Ergebnisse bei einem dorsalen Zugang sind generell besser als bei einem ventralen Zugang.

Eine randomisierte, kontrollierte Studie fand keine wesentlichen Unterschiede im Vergleich zwischen ventralen und dorsalen Operationen.

Diabetes, Rauchen und Übergewicht können das Operationsergebnis negativ beeinflussen.

Die Teilnahme an der CME-Fortbildung ist nur online möglich auf der Website www.online-oup.de.

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