Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2012

Der aufrechte Gang – Über die Zukunft der akademischen Bildung
60. Jahrestagung der VSOU 2012, Baden-Baden:
Festvortrag von Konrad Paul Liessmann

Der im Jahre 1999 von den europäischen Bildungsministern initiierte Bologna-Prozess hat offenbar eine Eigendynamik entwickelt, die weder aus den ursprünglichen Intentionen noch aus dem Willen der Beteiligten und Betroffenen erklärt werden kann.1 Denn tatsächlich wird niemand etwas gegen einen europäischen Hochschulraum, Verbesserung der Studienmöglichkeiten durch Steigerung der Mobilität, vereinfachte bürokratische Verfahren bei der wechselseitigen Anerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen sowie eine maßvolle Berufsorientierung der Studien einwenden können.

Viel mehr als diese Gesichtspunkte und einige Hinweise zu ihrer Umsetzung enthält die ursprüngliche Bologna-Erklärung auch gar nicht. Dass daraus ein starrer Schematismus wurde, mit aufgeblähten Verwaltungen, exzessiven Modularisierungen, vollgestopften Studienplänen, inkompatiblen neuen Studienrichtungen, überflüssigen Akkreditierungen, vervielfachten Graduierungen, unnötigen Evaluierungen, verwirrenden Zertifizierungen und zahllosen Reglementierungen gehört zu jenen Transformationen, die Anlass zur Frage geben, was an gesellschaftspolitischer Zielsetzung sich nun „eigentlich“ dahinter verbergen mag.

Generell sehen sich die Universitäten durch diesen Prozess immer paradoxeren Anforderungen ausgesetzt. Einerseits soll die Akademikerrate signifikant erhöht werden, anderseits sollen Studienplätze kontingentiert werden; einerseits sollen möglichst Viele studieren, andererseits Jagd auf die „besten Köpfe“ gemacht werden; einerseits soll die Qualität der Studiengänge steigen, andererseits sollen sie kostengünstiger werden; einerseits sollen die Universitäten autonom agieren, andererseits müssen sich alle den gleichen Standards beugen; einerseits sollen die Anforderungen erhöht werden, andererseits soll es mehr Absolventen geben; einerseits soll die Mobilität zunehmen, andererseits soll in Mindestzeit studiert werden; einerseits sollen die Grundstudien berufsqualifizierend sein, andererseits sollen sie die Grundlagen für eine weitere, natürlich exzellente wissenschaftliche Ausbildung liefern. Die Liste ließe sich fortsetzen

Das, was die unter dem Namen „Bologna“ bekannt gewordene Umstrukturierung des europäischen Hochschulwesens auszeichnet, ist weniger eine Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Idee der Universität, als vielmehr das Resultat besonderer Verhältnisse und vor allem fremdartiger Bedürfnisse. Die von den europäischen Bildungsministern im Jahre 1999 in Bologna vereinbarte Umstellung des postsekundären Bildungssektors auf ein nur vordergründig dem angloamerikanischen Modell nachempfundenes dreistufiges System (Bachelor – Master – PhD) entsprang der Idee, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen, um die Vergleichbarkeit und damit die Mobilität von Wissenschaftlern und Studenten zu erhöhen. Was auf den ersten Blick durchaus plausibel erscheint – die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens – erweist sich im Konkreten jedoch womöglich als ein Moment im Prozess der Verabschiedung der europäischen Universitätsidee.2

Die Intention ist klar. Durch die verpflichtende Einführung 3-jähriger Bachelor-Studien für alle Fächer erhalten die Universitäten die Aufgabe, primär eine protowissenschaftliche Berufsausbildung zu leisten. Das erscheint sinnvoll für Länder, die kein differenziertes berufsbildendes Schul- und Fachhochschulwesen kennen. Für andere Länder bedeutete das Bakkalaureat aber eine an sich völlig unnötige Umstrukturierung der Universitätslandschaft. Auf kaltem Wege wird der Sinn der Universität als Stätte der wissenschaftlichen Berufsvorbildung, die ihre Voraussetzung in der Einheit von Forschung und Lehre hat, liquidiert.

Die flächendeckende Einführung berufsorientierter Kurzstudien wird das Bild der Universität nachhaltiger verändern als alle anderen Reformen zuvor. Der wissenschaftspolitische Sinn des Bakkalaureats, der es für viele Bildungsminister so attraktiv erscheinen lässt, liegt auf der Hand: Verkürzung der Studienzeit und Hebung der Akademikerquote.

Polemisch ausgedrückt: Der Bachelor ist der Studienabschluss für Studienabbrecher. Wer bislang mangels Qualifikation an einer Diplomarbeit scheiterte, wird nun zum Akademiker befördert. Auf dem Papier, das heißt in den OECD-Statistiken, werden sich die zahlreichen Bachelors dann auch ziemlich gut machen. Der Sache nach kann es aber nur folgendes bedeuten: Entweder nehmen die Universitäten diesen Auftrag ernst und werden in erster Linie zu Anbietern von wirtschaftsnahen und praxisorientierten Kurzstudien, die dementsprechend strukturiert, normiert und verschult sein werden – was mittelfristig Universitäten zu Fachhochschulen machen wird. Oder die Universitäten machen nur der Form nach mit und entlassen dann schlecht qualifizierte Beinahe-Akademiker als Graduierte auf einen Arbeitsmarkt, der bald erkennen wird, wes Geistes Kinder sich da tummeln.

Wie auch immer diese Kurzstudien aussehen mögen: Den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Reflexivität werden sie nicht mehr stellen können. Da diese Kurzstudien auch rasch, kostensparend und ohne Zeitverlust absolviert werden sollen, ist klar, dass für Studenten, die nicht mehr als einen Bachelor anstreben, auch die viel gerühmte Internationalisierung ein leeres Versprechen bleiben wird. Die an den Bachelor anschließenden Masterprogramme werden für eine Minderheit der Studenten dann erst jene Form von Wissenschaftlichkeit offerieren, die für Universitäten schlechthin bestimmend hätte sein sollen.

An der Bologna-Ideologie lässt sich so einiges über den Verfall der Universitätsidee und der damit verbundenen Bildungskonzepte überhaupt ablesen. Von der mittelalterlichen Idee einer universitas magistrorum et scholarium, der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden ist wohl nicht viel mehr übrig geblieben als von der Humboldtschen Konzeption der universitas litterarum, der Gesamtheit der Wissenschaften. Seit in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die große Bildungskatastrophe ausgerufen wurde und seit den daran anschließenden Reformattacken hatten die Universitäten keine Chance mehr, sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu besinnen.

Zur Erinnerung: Die Innovationsschübe der Moderne, deren Zentren die Universitäten wurden, begannen in der Neuzeit mit einem Konzept von Wissenschaft, das diese aus allen politischen, religiösen, aber auch merkantilen Bindungen und Verpflichtungen befreien wollte.

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