Informationen aus der Gesellschaft - OUP 09/2012

Der aufrechte Gang – Über die Zukunft der akademischen Bildung
60. Jahrestagung der VSOU 2012, Baden-Baden:
Festvortrag von Konrad Paul Liessmann

Aber was ist eine wissenschaftliche fundierte Bildung? Die erschöpft sich in der Tat nicht in einer fachlichen oder beruflichen Qualifikation, so wichtig diese auch sind. Aber an einen akademisch gebildeten Menschen darf und soll man darüber hinausgehende Ansprüche stellen. Zumindest sollte diese Bildung 3 Dimensionen berühren, die nicht nur als Resultat eines Studiums, sondern auch als Aspekte zukünftigen Handelns gesehen werden müsse.

1. Vorab, und das verstünde sich fast von selbst, wenn es nicht immer wieder in Frage gestellt wird, gehört dazu das Wissen um das Wesen von Wissenschaft überhaupt. Das Eintauchen in eine Disziplin, das Kennenlernen bestimmter Verfahren und Methoden sollte auch dazu führen, ein generelles Verständnis für diese vernunftgeleitete Form der Welterschließung führen, die wir Wissenschaft nennen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, dieses wissenschaftliche Wissen in ein angemessenes Verhältnis zu anderen Wissensformen – religiöses Wissen, tradiertes Wissen, Wissen indigener Kulturen etc. – zu bringen.

In diesem Zusammenhang ist allerdings zu betonen – und dass dies zu betonen ist, zeigt schon, wie verschwommen unsere Vorstellung von Wissenschaft geworden ist –, dass alle nichtwissenschaftlichen Formen des Wissens, also auch religiöses Wissen, zum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung werden können. Zu dieser Erkenntnis um das Wesen und das Zuständigkeitsfeld von neuzeitlicher Wissenschaft gehört aber auch ganz entscheidend die Einsicht, dass „wissenschaftliches Wissen“ immer „vorläufiges Wissen“ ist, also, dass auch die essenziellsten Ergebnisse selbst Einsichten sind, die jederzeit revidiert werden können, und bereits vielfach wurden.

Die Universität, jenseits aller Organisations- und Gliederungsformen, jenseits der angebotenen Studien und etablierten Forschungsrichtungen, jenseits der gerade herrschenden Reformrhetorik, sollte auch als jener Ort begriffen werden, an dem die Wissenschaft in ihrer Mannigfaltigkeit, aber auch in Ihrer Unabgeschlossenheit als die zeitgemäße Form der Weltdeutung erscheint. Absolventen einer Universität sollten dieser Idee von Wissenschaft in Form intellektueller Redlichkeit, geistiger Unbestechlichkeit und argumentierender Urteilsfähigkeit auch jenseits spezialisierter Aufgabengebiete einen Platz einräumen.

2. Dann gehört zu dieser Form akademischer Bildung ein geschärftes historisches Bewusstsein. Dieses setzt die Bereitschaft voraus, einen historischen Sinn zu entwickeln für „Gewordenheiten“, sowie für die Zufälligkeit und damit Offenheit dessen, was geworden ist. Es gilt also ein Sensorium dafür zu entwickeln, dass das, was geworden ist, auch anders hätte werden können. Das schützt auch vor einer gewissen Hybris gegenüber den Errungenschaften der eigenen Kultur. Dazu kommt die Fähigkeit, in großen Zusammenhängen und Zeitdimensionen zu denken und nicht das gegenwärtige Erleben zum Nonplusultra zu erklären und zu glauben, nur weil etwas jetzt für den letzten Schrei gehalten wird, wird es in alle Ewigkeit bestehen.

In der Geschichte müssen wir mit anderen Zeiten rechnen als mit jenen Quartalen, mit denen wir aktuell so gerne kalkulieren. Dazu gehört auch die Einsicht in die Vorläufigkeit und Vergänglichkeit alles Seienden. Der historische Sinn kann auch eine Übung in Bescheidenheit sein. Es ist auch ein Zeichen von Unbildung zu glauben, dass die Gegenwart der Vergangenheit in allen Belangen überlegen ist. Dieser Punkt muss vielleicht auch deshalb besonders betont werden, weil die historischen Kenntnisse auch bei Meinungsführern und den wirtschaftlichen Eliten in einem atemberaubenden Ausmaß verschwinden. Anstelle des historischen Sinnes ist die plakative, moralisierende Instrumentalisierung der Vergangenheit getreten.

3. Und drittens gehört zu dieser akademischen Bildung die Entwicklung ästhetischer und moralischer Sensibilitäten, durchaus das, was man altmodisch Persönlichkeitsbildung genannt hat. Hier geht es um Sprache und Sprechen, um die Fähigkeiten, sich auszudrücken, auch um Stil und Rhetorik, um Sprachbewusstsein und Sprachbeherrschung. Es geht aber auch um das das Erkennen, wie Denken und Kommunikation überhaupt funktioniert. Da Bildung immer auch als ein Prozess der Kultivierung begriffen werden kann, muss es nicht nur um die Beherrschung von Kompetenzen gehen, sondern auch darum, unser Empfindungs- und Urteilsvermögen, auch unsere Emotionen zu verfeinern und zu gestalten.

Früher hat man in diesem Zusammenhang zum Beispiel von einem „Schönheitssinn“ gesprochen, der ausgebildet werden muss, damit der Mensch imstande ist, überhaupt ästhetisch differenziert und damit auch mit Genuss wahrzunehmen. Dieser Sinn ist allerdings nicht nur eine Freizeitkompetenz, sondern unabdingbar, um Dinge in ihrem Eigenwert, jenseits von Nutzen und Rentabilitäten überhaupt wahrnehmen zu können.

Analog dazu kann man, wie in der englischen philosophischen Tradition, auch von einem moralischen Sinn, einem Sinn für Gerechtigkeit etwa sprechen, oder auch von einem Gespür für das, was einer Situation oder einem Menschen angemessen ist, also von dem, was man früher mit „Taktgefühl“ beschrieben hat. Gerade dieser Sinn für das Angemessene, für Proportionen, für die richtigen Worte, für das, was dringlich und das, was nur Ausdruck einer medialen Hysterie ist, scheint gegenwärtig ziemlich unterentwickelt zu sein.

Diese Bildung, diese Sensibilitäten, die Fähigkeit des angemessen Urteilens, lassen sich kaum in einer didaktisierten, curricular organisierten Form vermitteln oder erwerben. Es handelt sich auch nicht um Kompetenzen, die man bei einem Test ermitteln könnte, schon gar nicht geht es dabei um Bildungsstandards welcher Art auch immer.

Im Gegenteil: Hier kommt es auf jene Dimensionen von Bildungsprozessen an, wo Individualität, Zufälle, Erlebnisse und Erfahrungen und Begegnungen eine entscheidende Rolle spielen können. Auch und gerade an Universitäten geht es nicht nur um die technische Vermittlung von Wissen, sondern auch darum, dass Lehrer und Professoren eine Haltung, einen Habitus, einen Gestus, ja: einen aufrechten Gang zeigen, nicht nur in ihrem Fach, sondern auch in den dieses Fach betreffenden sozialen, politischen, ökonomischen Fragen, was oft größere Wirkung hat und mehr vermittelt als die eine oder andere Power-Point-Präsentation. Absolventen einer Universität, die diesen Namen noch verdient, sollten neben einer gediegenen wissenschaftlichen Qualifikation, neben einer Erfolg versprechenden berufsorientierten Ausbildung auch etwas von jener Bildung erfahren, die es ihnen nicht nur ermöglicht, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, sondern die es ihnen auch kraft einer geschulten Urteilskraft erlaubt, in und für diese Welt, wohin auch immer ihr weiterer beruflicher Werdegang sie führen mag, in angemessener Form jene Verantwortung zu übernehmen, die so viele Mitglieder unserer sogenannten Eliten zur Zeit vermissen lassen.

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5