Übersichtsarbeiten - OUP 01/2023

Die lumbale Spinalkanalstenose – ein Überblick
Diagnostik und Therapieoptionen

Achim Benditz

Lernziele:

Nach der Lektüre dieses Beitrags

kennen Sie die Pathophysiologie der lumbalen Spinalkanalstenose,

können Sie die Symptome der Spinalkanalstenose einordnen,

kennen Sie Konzepte der konservativen Therapie und ihre Grenzen,

kennen Sie die operativen Möglichkeiten bei lumbaler Spinalkanalstenose.

Zusammenfassung:
Durch die Zunahme der Lebenserwartung hat sich die lumbale Spinalkanalstenose inzwischen zu einer der häufigsten wirbelsäulenchirurgischen Diagnosen entwickelt. Die Claudicatio spinalis, also die Verkürzung der Gehstrecke ist dabei das Leitsymptom. Neben der klinischen Diagnostik gilt die Magnetresonanztomographie als Goldstandard. An erster Stelle sollte zunächst immer die konservative Therapie stehen. Diese kann im ambulanten Rahmen oder auch stationär, multimodal notwendig sein. Wenn Bildgebung und Beschwerdesymptomatik korrelieren, die konservative Therapie erfolglos ist und stärkere Schmerzen mit ausgeprägter Claudicatio spinalis-Symptomatik persistieren, dann ist eine Operation indiziert. Ziel aller angewandten Operationsverfahren ist die Dekompression des Spinalkanals, bei vorliegender Instabilität des Bewegungssegments auch eine zusätzliche Fusion. In diesem Übersichtsartikel wird die Diagnose „lumbale Spinalkanalstenose“ beleuchtet und mögliche Therapieoptionen aufgezeigt.

Schlüsselwörter:
Lumbale Spinalkanalstenose, Mikrodekompression, Lumboischialgie, Claudicatio spinalis, Spondylodese

Zitierweise:
Benditz A: Die lumbale Spinalkanalstenose – ein Überblick. Diagnostik und Therapieoptionen.
OUP 2023; 12: 36–44
DOI 10.53180/oup.2023.0036-0044

Summary: Due to the increase in life expectancy, lumbar spinal canal stenosis has now become one of the most common spinal surgical diagnoses. The main symptom is the claudication spinalis, i.e. the shortening of the walking distance. In addition to clinical diagnostics, magnetic resonance imaging is the gold standard. Conservative therapy should always come first. This can be necessary in an outpatient setting or as an inpatient, multimodal pain therapy. If imaging and symptoms correlate and if conservative therapy is unsuccessful and severe pain with pronounced spinal claudication symptoms persist, then surgery is indicated. The aim of all surgical procedures used is decompression of the spinal canal, and in the case of instability of the motion segment, additional fusion. In this overview article, the diagnosis „lumbar spinal canal stenosis“ is examined and possible therapy options are shown.

Keywords: Lumbar spinal stenosis, microdecompression, sciatica, neurogenic claudication, spinal fusion

Citation: Benditz A: Lumbar spinal stenosis – an overview. Diagnostics and therapy options
OUP 2023; 12: 36–44. DOI 10.53180/oup.2023.0036-0044

Klinikum Fichtelgebirge Marktredwitz, Zentrum für muskuloskelettale Chirurgie

Hintergrund

Die zunehmend älter werdende Gesamtbevölkerung, die schnelle und breite Verfügbarkeit der Magnetresonanztomographie (MRT) sowie der gestiegene Anspruch an körperlicher Aktivität und auf schnelle Therapieerfolge und Erhalt der Lebensqualität älterer Patientinnen und Patienten, führt in den letzten Jahren zu einem sowohl bildgebenden als auch klinischen Anstieg der Diagnosestellung von lumbalen Spinalkanalstenosen (LSS). Gerade im Wirbelsäulenbereich steht die Kritik an den steigenden Operationszahlen diesem Anspruch der Patientinnen und Patienten gegenüber. Die Mengenentwicklung stationärer Behandlungen bei Erkrankungen der Wirbelsäule stieg von 2005 mit 177.000 stationären, operativ behandelten Fällen auf 289.000 Fälle 2014. Die konservativen stationären Fälle stiegen in diesem Zeitraum von 287.000 auf 463.000 an. Dabei zeigten die demographiebereinigten Daten eine Verdopplung von Dekompressionsoperationen und Wirbelkörperfusionen. Die konservative lokale Schmerztherapie stieg sogar um 142 % [1]. Die LSS ist eine der häufigsten Erkrankungen der Wirbelsäule und hat daher großen Anteil am deutlichen Zuwachs an Wirbelsäuleneingriffen in den vergangenen Jahren.

Trotz zunehmenden Zahlen fehlen evidenzbasierte Studien über Behandlungsempfehlungen [2] zur Verunsicherung auf der Seite des Behandlers, aber auch der Patientin/des Patienten führt. Allein die fehlende einheitliche Definition der LSS [3, 4] als Kombination aus klinischen Symptomen wie Rücken- und belastungsabhängigen Beinschmerzen (Claudicatio spinalis) und der dazu passenden Schnittbildgebung sowie psychische Begleiterkrankungen und internistische Komorbiditäten machen es so schwierig, Behandlungskonzepte miteinander zu vergleichen und Empfehlungen zu geben. Letztendlich bleibt die Behandlungsstrategie immer eine individuelle Entscheidung mit der einzelnen Patientin/dem einzelnen Patienten in Abhängigkeit von der Erfahrung und auch Fachrichtung des Behandlers [5, 6].

Pathophysiologie und
Pathoanatomie

Ätiologisch werden primäre Stenosen wie z.B. ein konstitutionell eng angelegter Spinalkanal, die Achondroplasie oder kongenitale Formations- und Segmentationsstörungen von den sekundären Stenosen infolge von degenerativen Veränderungen, einer epiduralen Lipomatose, Deformitäten, oder Folgen eines Traumas, Infektion oder postoperativen Vernarbungen unterschieden. In diesem Artikel geht um die häufigste Form, die degenerative LSS.

Pathoanatomisch unterscheidet man zwischen einer zentralen Stenose, einer lateralen Rezessusstenose und einer Foramenstenose. Diese können mono- oder multisegmental vorkommen und einseitig oder beidseits auftreten.

Die Ursachen der LSS sind multifaktoriell. An der Entstehung sind verschiedene Strukturen beteiligt. Die Degeneration der Wirbelsäule beginnt bereits in der 3. Lebensdekade mit der Dehydratation des Nucleus pulposus. Dadurch kommt es zu Protrusion oder „bulging“ und somit zu einer Einengung des Spinalkanals von ventral. Die gleichzeitig entstehende Höhenminderung des Bandscheibenfaches kann zu einer Einengung der Rezessus oder der Neuroforamina führen, je nach Formtyp der Wirbelsäule.

Zugleich kommt es zu einer vermehrten Belastung der Facettengelenke des Bewegungssegments, welche mittelfristig die Degeneration der Gelenke zur Folge hat. Dadurch entsteht eine Hypertrophie der Gelenkkapsel. Um das Gelenk zu stabilisieren, kommt es zu knöchernen Anbauten an den Gelenkpartnern, wie bei jedem arthrotisch veränderten Gelenk. Dies bedingt eine weitere strukturelle Einengung des Spinalkanals [7].

Zudem kann das Lig. Flavum bei der LSS eine wesentliche Rolle spielen. Schon 1992 wurden dabei 3 Mechanismen als Ursache der Hypertrophie beschrieben. Die vermehrte Proliferation von Kollagen Typ II führt zu fibrocartilären Veränderungen; es kommt zur Verknöcherung des Ligaments und zur Einlagerung von Kalziumkristallen [8]. Im Vergleich von Ligg. flava von Patientinnen und Patienten mit Spinalkanalstenose und bei solchen mit Bandscheibenvorfall zeigte sich bei den degenerativ veränderten Ligg. der LSS eine Hypertrophie in der MRT und zeitgleich eine vermehrte TGF-beta1 Expression der Fibroblasten [9–11].

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