Übersichtsarbeiten - OUP 02/2019

Die Tibialis-posterior-Insuffizienz

Daniel Frank, Victoria Julia Frank, Dariusch Arbab

Zusammenfassung:

Die Tibialis-posterior-Insuffizienz geht mit einer erheblichen Funktionsstörung des Fußes und
somit des Gangbilds einher. Die Diagnosestellung verzögert sich, da die Erstsymptome schwierig zuzuordnen sind. Die Kenntnisse der Anatomie und Biomechanik helfen, die Erkrankung
einzuordnen, eine stadiengerechte Einteilung vorzunehmen und eine adäquate Therapie
einzuleiten. Die Diagnose einer Musculus-tibialis-posterior-Insuffizienz wird überwiegend klinisch gestellt. Bildgebende Verfahren sichern die Diagnose ab. Unbehandelt führt die Erkrankung zu
einem progressiven Zerfall der Fußgeometrie [15] mit Einschränkungen der Mobilität bis hin zur Invalidität. Die Stabilisierung des Rückfußes bedeutet einen erheblichen Qualitätsgewinn
für die betroffenen Patienten.

Schlüsselworter:
Tibialis-posterior-Dysfunktion, Sehnenaugmentation, Calcaneusosteotomie, Rückfuß-Arthrodese

Zitierweise:

Frank D, Frank VJ, Arbab D: Die Tibialis-posterior-Insuffizienz. OUP 2019; 8: 068–075
DOI 10.3238/oup.2019.0068–0075

Summary: Insufficiency of the tibialis posterior muscle is accompanied by significant loss of function of the foot and changes in gait. As initial symptoms are unspecific, time until diagnosis is often prolonged. Knowledge of anatomy and biomechanics aids in the detection, classification and choice of adequate treatment for the condition. Posterior tibial tendon insufficiency is primarily a clinical diagnosis which is then confirmed by imaging techniques. Left untreated it leads to progressive decline of the geometry of the feet with reduced mobility, eventually resulting in disability. Stabilization of the hind foot significantly increases patients‘ quality of life.

Keywords: Tibial tendon dysfunction, Tendon augmentation, Calcaneus osteotomy, Hindfoot arthrodesis

Citation: Frank D, Frank VJ, Arbab D: Posterior tibial tendon insufficiency. OUP 2019; 8: 068–075
DOI 10.3238/oup.2019.0068–0075

Für alle Autoren: Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Handchirurgie, Florence-Nightingale-Krankenhaus, 40489 Düsseldorf

Einleitung

Die konservative und operative Korrektur des erworbenen Plattfußes ist seit weit über 100 Jahren bekannt. F. Lange, M. Lange, K. Cramer oder O. Vulpius, um nur einige zu nennen, beschrieben schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die unterschiedlichen Techniken zur Behandlung der „Plattfußbeschwerden“, der „blutigen Behandlung des Plattfußes“ oder auch zum „Plattfuß als soziales Problem“. Erstbeschreibungen aus dem amerikanischen Bereich datieren später, z.B. von Key 1953 oder Griffith 1965. Obwohl die Schlüsselfunktion der Tibialis-posterior-Sehne für die Form und Funktion des Fußes seit vielen Jahrzehnten bekannt ist, erfuhr die Dysfunktion der Sehne durch K. A. Johnson 1983 und durch die Klassifikation der Sehnenpathologie durch K. A. Johnson und D. E. Strom 1989 erst wieder die Aufmerksamkeit, die für die sachgerechte Behandlung notwendig ist. Wurde der nicht traumatisch erworbene Plattfuß im Erwachsenenalter fast regelhaft älteren Patienten zugeordnet, weiß man heute, dass das Durchschnittsalter bei 58 Jahren liegt und überwiegend Frauen ab dem 42. Lebensjahr betroffen sind [28]. Die Prävalenz liegt bei 10 % der über 40-jährigen Frauen. Diabetes mellitus und Hypertonus gelten als konstitutionelle Risikofaktoren [9, 13]. Chronische Überanspruchungen und rezidivierende Mikrotraumata werden als extrinsische Ursachen angeschuldigt [4]. Eine nicht unerhebliche Zahl an Spitzensportlern und sehr aktiven Freizeitsportlern haben Probleme mit der Tibialis-posterior-Sehne. Akute Sehnenrisse werden bei jüngeren Sportlern beschrieben [16]. Die Insuffizienz des M. tibialis posterior hat erhebliche Auswirkung auf die Statik und Dynamik des Fußes, das sichere Gangbild und birgt die Gefahr frühzeitiger arthrotischer Veränderungen im Talonavikulargelenk (TN), Calcaneocuboidalgelenk (CC) und Subtalargelenk.

Anatomie und Biomechanik

Der Musculus tibialis posterior entspringt von den zugewandten Seiten der Tibia und Fibula sowie der Membrana interossea. Es ist der zweitstärkste Muskel des Unterschenkels. Die Muskelfasern vereinen sich zur Sehne, welche ungefähr 6 cm oberhalb der Innenknöchelspitze beginnt, dem Malleolus internus eng anliegt und um den Innenknöchel zum Calcaneus, Navikulare, Cuneiforme und teilweise zum Metatarsale II und III zieht. Zum Fersenbein gibt die Sehne einen Ramus sustentacularis und Ramus plantaris ab, welche die Plantarflektion des Fußes unterstützen und die Inversion der Rückfußes im Subtalargelenk ermöglichen. Weitere Sehnenzügel inserieren an der Tuborositas ossis navikulare. Dabei kann ein Os tibiale externum in die Sehne eingebettet sein. Medioplantar läuft die Sehne zum ersten Keilbein aus und hat gelegentlich Ausstrahlungen an den ersten Mittelfußknochen.

Die Funktion des Muskels unterscheidet sich im Stand und im Abrollmechanismus des Fußes. Im Stand stabilisiert die Sehne das Subtalargelenk durch die Inversion und Zentrierung des Calcaneus unter den Talus. Das Chopartgelenk wird durch die medialen Zugkräfte geblockt, das Quergewölbe und die mediale Längswölbung werden verspannt. Beim Abrollen des Fußes trägt die Kraft des Muskels, neben der plantar flektierenden Kraft der Achillessehne, zur Elevation des Fersenbeins erheblich bei, was man sich diagnostisch beim „Single-heel-rise-Test“ zunutze macht. Die nach distal auslaufenden Sehnenfasern stabilisieren den Mittel- und Vorfuß gegenüber dem Rückfuß, was für die Aufrechterhaltung eines kräftigen Vorfußhebels notwendig ist.

Pathobiomechanik

Die Sehne des Tibialis posterior hat einen relativ geringen Hub von ca. 20 mm. Eine Elongation der Sehne von bereits 50 % kann die Funktion des Muskels erheblich schwächen bzw. aufheben. Die Folge ist ein Rückfußvalgus durch die fehlende invertierende Kraft der Sehne. Die Störung der Balance zwischen invertierenden und evertierenden Kräften des Rückfußes verschiebt den Ansatz der Achillessehne nach lateral, wodurch die Eversionsstellung weiter zunimmt. Ansatz und Ursprung des Gastro-soleus-Komplexes nehmen zu, eine Verkürzung mit konsekutivem Fersenbeinhochstand ist die Folge. Der Fersenbeinhochstand resultiert in einer vermehrt plantar gerichteten Einstellung des Talus. Zusammen mit dem Verlust der medialen Stabilisatoren tritt der Taluskopf nach plantar-medial. Die statischen Strukturen des Ligamentum plantare longum und des Pfannenbands sind überfordert. Die Längswölbung geht verloren, der Mittel- und Vorfuß abduziert im Chopartgelenk. Die Abduktionsstellung des Fußes erhöht die von ventral medial einwirkenden Kräfte auf das erste Metatarsophalangealgelenk. Das mediale Seitenband des Großzehengrundgelenks kollabiert mit der Folge eines Hallux valgus. Deswegen ist es notwendig, in der Diagnostik und der Therapieplanung einer Hallux-valgus-Korrektur, die Vorfuß-Rückfußbeziehung zu evaluieren. Eine Korrektur des Hallux valgus ohne Berücksichtigung der Pathologie des Rückfußes ist zum Scheitern verurteilt.

Pathophysiologie

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5