Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Einfluss des Alters in der Frühbehandlung einer schweren Hüftdysplasie auf die Pfannendachentwicklung

Die mathematisch abgeleitete Halbwertzeit betrug in unserem Patientengut 6,48 Wochen; dies steht mit schon vorher publizierten Werten im Einklang [16,17]. Eine andere Charakteristik dieser Funktion ist, dass sich die Zunahme des Alpha-Winkels immer proportional zum Zielwert verhält: je unreifer die Hüfte, desto schneller wird sie wachsen, um den vorgegebene Zielwert zu erreichen. Dieses Phänomen wurde schon von Tönnis [18] empirisch beschrieben und wird dadurch charakterisiert, dass die gesunde oder physiologisch unreife Hüfte, unter gleichen Wachstumsbedingungen langsamer wächst.

In unserer Studie konnte nachgewiesen werden, dass Typ-III-Hüften in den ersten 6 Lebenswochen schnell reifen. Diese Studie hat aber auch nachgewiesen, dass Typ-III-Hüften sogar schneller reifen als physiologisch unreife Hüften [16, 17] ( Abb. 4a–b). Dieses Ergebnis ist einer erweiterten Diskussion würdig. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass unsere Typ-III-Hüften, im Vergleich zu physiologisch unreifen Hüften, einer Behandlung unterzogen worden sind. Die Behandlung in der Sitz-Hock-Stellung reduziert nach Matthiessen die schädigenden Scherkräfte und vermeidet damit den auf die Pfannenentwicklung schlechtesten biomechanischen Einfluss.

In dieser Studie hat sich die Behandlung in der Sitz-Hock-Stellung als eine wirksame Behandlungsmethode erwiesen. Die mechanischen Kräfte, die in dieser Stellung optimal, d.h senkrecht, auf die 3-dimensional geformte Wachstumsfuge der Pfanne ausgerichtet sind, haben auf die sehr empfindliche Neugeborenenhüfte, positiv gewirkt. Um jedoch nachweisen zu können, dass tatsächlich die optimale Stellung für das schnellere Pfannenwachstum verantwortlich ist und nicht etwas „Endogenes“, das in Typ-III-Hüften vorhanden wäre, wäre eine weitere Studie notwendig; man müsste in dieser Studie die Ausreifung der behandelten Typ-II-Hüften mit den unbehandelten, spontan ausgereiften Typ-II-Hüften konfrontieren, wie von Tschauner beschrieben [16, 17].

Wenn die behandelten Typ-II-Hüften eine noch steilere Kurve zeigen würden, müsste man annehmen dass die Sitz-Hock-Stellung auch bei diesen Hüften für eine schnellere Reifung verantwortlich ist. Eine weitere Studie, in der eine Kontrollgruppe mit unbehandelten Typ-III-Hüften geschaffen wird, ist aus ethischen Gründen nicht möglich. In dieser Studie wurde dagegen zum Vergleich bei der Nachuntersuchung die Gruppe der „restlichen“ kontralateralen Hüften aufgestellt. Wenn auch diese Gruppe aus dem selben Patientenkollektiv entstanden ist und somit keine genetischen Unterschiede im Reifungspotenzial aufweist, besteht sie aus der Summe verschiedener Hüfttypen (65 % gesunde Hüften I, IIa, 35 % Dysplasie-Hüften IIb, IIc und d) aus denen Durchschnittswerte kalkuliert worden sind. Dies vorausgesetzt, hat diese Gruppe im Durchschnitt, normale Hüftwerte erreicht (Abb. 5).

In einer zukünftigen Studie könnte die Ausreifung der Typ-IIc- und -d-Hüften analysiert werden und die eigenen Reifungskurven hergestellt werden.

Schlussfolgerung

Die retrospektive Analyse der Azetabulumreifung bei schweren Hüftdysplasie (Typ III nach Graf) die im Neugeborenenalter diagnostiziert und behandelt worden sind, hat Folgendes gezeigt:

Es besteht eine starke Korrelation zwischen der Alpha-Winkel-Zunahme (Azetabulumreifung) und dem Alter bei Diagnosestellung und Behandlungsbeginn; je jünger der Säugling, desto schneller die Ausreifung.

Wenn die Behandlung nach der 6. Lebenswoche begonnen wird, sind unvorhersehbare Ausheilungsergebnisse und eine limitierte Wirksamkeit der Behandlung zu erwarten.

Wenn die Behandlung vor dem 11. Lebenstag begonnen wird, sind in 91,3 % der Fälle nach durschnittlich 109 Tagen normale Alpha-Winkel-Werte zu erwarten, während es in der Altersgruppe ? 11 und < 42 Tagen 62,5 % sind und in der Altersgruppe ? 42 Tagen nur 48,7 %.

Es besteht keine Korrelation zwischen der Alpha-Winkel-Zunahme (Azetabulumreifung) und der Dauer der Behandlung: Eine längere oder verzögerte Behandlung stellt keine Garantie für eine normale Azetabulumentwicklung dar.

Die Reifungskurve des Azetabulums der behandelten Typ-III-Hüften zeigt ein exponentielles Wachstum in den ersten 6 Lebenswochen, das höher ist als das der sogenannten gesunden Hüften (Reifungskurven nach Tschauner und nach Matthiessen)

Die Behandlung in der Sitz-Hock-Stellung hat sich als sehr wirksam erwiesen.

Die Ergebnisse haben die Wirksamkeit und die Notwendigkeit einer Frühbehandlung der schweren Hüftdysplasie gezeigt. Eine schwere Hüftdysplasie sollte, wie auch immer, klinisch oder sonografisch, vor dem 11. Lebenstag diagnostiziert werden und unmittelbar danach behandelt werden.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dr. Maurizio De Pellegrin

Ortopedia Infantile

Università Vita-Salute

Ospedale San Raffaele

Via Olgettina, 60

I-20132 Milano

Italien

depellegrin.maurizio@hsr.it

Literatur

1 Roposch A, Liu LQ, Hefti F, Clarke N, Wedge J: Standardized Diagnostic Criteria for Developmental Dysplasia oft he Hip in Early Infancy. Clin Orthop Relat Res 2011; 469: 3451–3462

2 Staheli L: In: Fundamentals of Pediatric Orthopedics. Lippincott Williams & Wilkins. Philadelphia 2003: 83

3 De Pellegrin M, Moharamzadeh D, Fraschini G: Early diagnosis and treatment of DDH: a sonographic approach. Hip Int. 2007; 17: Suppl 5: 15–21

4 De Pellegrin M, Tessari L: Early ultrasound diagnosis of developmental dysplasia of the hip. Bulletin Hospital for Joint Diseases 1996; 54: 222–225

5 Wirth T, Stratmann L, Hinrichs F: Evolution of late presenting developmental dysplasia of the hip and associated surgical procedures after 14 years of neonatal ultrasound screening. J Bone Joint Surg Br 2004; 86-B: 585–589

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