Übersichtsarbeiten - OUP 10/2015

Habitueller Zehenspitzengang
Verdacht auf hereditäre sensomotorische Neuropathie – KasuistikSuspected hereditary motor sensory neuropathy – case study

David Pomarino1

Zusammenfassung: Die erfolgreiche Therapie des
habituellen Zehenspitzengangs basiert auf der genauen Diagnostik und Klassifikation des Zehenspitzengangs. Das
klinische Befundverfahren hat sich bei über 1000 Zehenspitzengängern bewährt und besteht aus Elternbefragung, klinischer Untersuchung und Klassifikation in die Typen 1, 2 und 3a/3b. Die Typzuordnung erfolgt anhand definierter spezifischer Merkmale. Fehlen diese Merkmale, ist der Zehenspitzengang nicht klassifizierbar und per Differenzialdiagnostik muss eine andere Diagnose ermittelt werden.

Das Fallbeispiel beschreibt einen Patienten, der sich mit der Diagnose habitueller Zehenspitzengang vorstellte. Der Patient war zuvor vom Orthopäden, Neurologen und Kinderarzt untersucht worden. Der Patient wies keine Klassifikationsmerkmale auf und konnte nicht als habitueller Zehenspitzengänger typisiert werden. Aufgrund der Klinik wird eine hereditäre sensomotorische Neuropathie angenommen. Als Therapie wird das für den habituellen Zehenspitzengang bewährte Stufenkonzept erprobt und angewendet. Der Patient ist kein Einzelfall; verschiedene Krankheitsbilder zeigen als Symptom den Zehenspitzengang. Es ist wichtig, die Differenzialdiagnosen des habituellen Zehenspitzengangs zu kennen, um eine optimale Therapie und Prognose zu gewährleisten.

Schlüsselwörter: Habitueller Zehenspitzengang, Klassifikationsmerkmale, hereditäre sensomotorische Neuropathie

Zitierweise
Pomarino P. Habitueller Zehenspitzengang. Verdacht auf hereditäre sensomotorische Neuropathie – Kasuistik.
OUP 2015; 10: 494–499 DOI 10.3238/oup.2015.0494–0499

Summary: The successful therapy of habitual toe-walking is based on it’s exact diagnostic and classification. The clinical examination has been proved in more than 1000 children with idiopathic toe-walking, and it consists on the child’s anamnesis, physical examination and the proper classification according to its features (type 1, 2 and 3a/3b). Defining and specifying the features has been already done in order to recognize the different types of habitual toe-walkers.

This case study describes a child with idiopathic toe-walking, which was previously examined by orthopedists, neurologists and pediatricians. Their diagnosis was habitual toe-walking. This specific patient did not show any of the features that characterize the different types of ITW. Due to clinical characteristics, a hereditary sensory motor neuropathy was assumed. As a therapeutic modality the step-by-step concept was suggested, a method that has been approved and certified for the treatment of habitual toe-walking. This is not the only individual case, there are other diseases with the clinical symptom habitual toe-walking. It is important to know the differential diagnosis of habitual toe-walking to ensure the optimal therapy and prognosis.

Keywords: habitual toe-walking, features of classification, hereditary motor-sensory neuropathy

Citation
Pomarino P. Habitual toe-walking. Suspected hereditary motor sensory neuropathy – case study.
OUP 2015; 10: 494–499 DOI 10.3238/oup.2015.0494–0499

Einleitung

In der täglichen Praxis begegnen einem häufig Kinder, die permanent und intermittierend auf Zehenspitzen gehen. Dabei kann es sich um den habituellen Zehenspitzengang [2, 4, 5, 7, 9, 10, 11] handeln oder um eine Ganganomalie aufgrund einer orthopädischen oder neurologischen Pathologie. Je nach Ausprägung und Stärke können Folgeerkrankungen wie Fußdeformitäten, Wirbelsäulenschäden und irreversible Achillessehnenverkürzungen auftreten [5, 8].

Die vorliegende Arbeit beschreibt die Wichtigkeit der systematischen Diagnostik bei Zehenspitzengängern (ZSG). Ärzte und Physiotherapeuten, bei denen ZSG vorstellig werden, sollten mögliche Differenzialdiagnosen kennen und den Zehenspitzengang zuordnen können, um eine adäquate und effiziente Versorgung zu gewährleisten. Anhand eines Fallbeispiels wird die hereditäre sensomotorische Neuropathie (HMSN) als mögliche Ursache für den Zehenspitzengang erläutert und diskutiert. Die HMSN wird als Differenzialdiagnose beschrieben, signifikante Klassifikationsmerkmale werden erläutert und die bewährten Therapiemethoden erprobt und angepasst.

Methoden

Die Diagnostik des ZSG erfolgt anhand von standardisierten Fragebögen bei der Erstuntersuchung und Nachkontrolle. Die Bestandteile sind die Elternbefragung und klinische Untersuchung (11). Dabei werden die Eltern zu einer familiären ZSG-Häufigkeit und zum Verlauf des ZSG vom Kind befragt.

Ebenfalls wird das „range of motion“ (ROM) der Hüfte, der Füße und der LWS gemessen. Um den ZSG zu provozieren, werden standardisierte Tests durchgeführt. Das Gleichgewicht wird mit dem Einbeinstand und dem Fersengang begutachtet. Bei der Inspektion wird ein Fokus auf den Stand, Gang, die Füße und Wadenform gelegt. Ergänzend, um die Fortschritte in der Therapie festzuhalten, wird auf der Druckmessplatte eine Stand- und Ganganalyse und ein Elektromyogramm (EMG) durchgeführt [5]. Klinische Klassifikationsmerkmale und die Informationen aus dem Befund führen zur Typisierung des habituellen ZSG [5, 11].

  • Typ 1 oder HRV-Typ: Herzförmige Wade, Ringfalten, Vorfußpolster. Die Ursache ist eine angeborene Achillessehnenverkürzung.
  • Typ 2 oder FMV-Typ: Familiäre Häufung, Mediales Wadenpolster, V-Zeichen. Die Ursache ist erblich bedingt.
  • Typ 3 oder VA2-Typ: Vorfußgang nur durch Provokation oder nur in Belastungssituationen, Abrollphase vorhanden, stampfendes Gangbild, 2 Arten. Der Typ 3a neigt zu Verhaltensauffälligkeiten wie Wahrnehmungsstörungen oder Tics, der Typ 3b zeigt keine abnormen Verhaltensmuster.

Der Zehenspitzengang ist nicht klassifizierbar, wenn sich keine der oben genannten klinischen Merkmale zeigen. In diesen Fällen handelt es sich um keinen habituellen ZSG. Mit Hilfe klinischer Differenzialdiagnostik, beispielsweise einer neurologischen oder molekulargenetischen Untersuchung, Muskelbiopsien, elektrophysiologischer Untersuchungen und bildgebender Verfahren wie Röntgen, MRT oder CT kann eine andere Ursache für den Zehenspitzengang entdeckt und eine adäquate Therapie in die Wege geleitet werden [3, 5].

Ein in der Praxis häufig vorkommender, nicht klassifizierbarer Phänotyp zeigt Krallenzehe, Hohlfuß und hypotrophierte Wade. Als Ursache wird eine hereditäre sensomotorische Neuropathie vermutet.

Ist der Zehenspitzengang als habitueller ZSG klassifizierbar, wird er entsprechend therapiert. Das therapeutische Vorgehen folgt der für den habituellen Zehenspitzengang entwickelten Stufentherapie [12]:

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