Übersichtsarbeiten - OUP 10/2015

Habitueller Zehenspitzengang
Verdacht auf hereditäre sensomotorische Neuropathie – KasuistikSuspected hereditary motor sensory neuropathy – case study

Die mehrstufige Therapie (Stufe 0–3) besteht aus

Stufe 0 Abwarten/Beobachten

Stufe 1 Pyramideneinlagen

Stufe 2 Nachtschienen

Stufe 3 Botoxinfiltrationen

Der Zehenspitzengang wird bei der Erstuntersuchung „eingestuft“ und entsprechend therapiert. Der Therapieprozess und die Ziele werden bei den Nachkontrollen (alle 8–12 Wochen) evaluiert. Der Verlauf und die Testergebnisse beeinflussen die weitere Therapie: Es können weitere Maßnahmen auf der gleichen, einer höheren oder einer niedrigeren Therapiestufe folgen. In neuen Studien und nach guten Therapieerfolgen beim habituellen ZSG wird die Stufentherapie auch für Differenzialdiagnosen wie die HMSN getestet und angepasst.

Fallbeispiel

Diagnose: Habitueller ZSG mit
Verdacht auf hereditäre
sensomotorische Neuropathie

Der männliche Patient A, geboren 2001, kam im Alter von 9 Jahren mit der Diagnose „habitueller Zehenspitzengang“, nachdem er beim Orthopäden, Neurologen und Kinderarzt mit der Symptomatik vorgestellt worden ist. Orthopädische Hilfsmittel wie Einlagen, Orthesen und Physiotherapie hatte der Junge vorher über mehrere Jahre erhalten.

Die Erstuntersuchung wurde standardisiert durchgeführt. Die Elternbefragung ergab, dass der Patient in der 40. Schwangerschaftswoche komplikationslos geboren wurde und im Alter von 12 Monaten erstmals freihändig ging. Die motorische Entwicklung war ebenfalls unauffällig gewesen. Der ZSG trat im Alter von 6 Jahren auf. Das daraufhin durchgeführte MRT und CT zeigte sich ohne Befund; in der elektrophysiologischen Untersuchung waren Fibrillationen des Muskels sichtbar. Eine hereditäre sensomotorische Neuropathie wurde vermutet. Der ZSG verschlechterte sich im Laufe der Jahre bis heute deutlich. Der ZSG tritt ebenfalls bei seiner Mutter und dem Bruder der Mutter auf. Der Junge klagt über sporadische Schmerzen in den Fersen.

Die klinische Untersuchung zeigte einen stark ausgeprägten ZSG ohne Seitenbetonung. Durch den Provokationstest konnte der ZSG nach einer Drehung ausgelöst werden. Der Fersengang war nur unter Hüftbeugung und Außenrotation möglich; der Einbeinstand zeigte sich unauffällig. Die LWS war mit 45° hyperlordosiert und die Hüftgelenke waren beidseits in der Extension eingeschränkt. Die Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks nach der Neutral-Null-Methode betrug in DE/PF 0/5/50. Außerdem zeigte A eine Atrophie des M. extensor digitorum brevis und der kleinen Handmuskeln (Abb. 1).

Bei der Inspektion der Füße war keine Hornhaut an den Fersen sichtbar. Es zeigten sich jedoch beidseits ein Hohlfuß, Krallenzehen, ein verbreiteter Vorfuß und eine schmale Wadenform (Abb. 2, 3). Die fehlenden Klassifikationsmerkmale (s. o.), die nicht vergrößerte Wade und das unauffällige Elektromyogramm des M. tibialis anterior und des M. gastrocnemius charakterisieren A nicht als habituellen Zehenspitzengänger [9]. Das Oberflächenelektromyogramm zeigte hingegen Ausschläge als Reaktion auf einen Dehnreiz (Abb. 4–7, bei 7 und 14 Sekunden); diese Fibrillationen konnte der Untersuchende auch deutlich palpieren. Die neurologische Untersuchung ergab eine Schwäche des Patellareflexes und des Achillessehnenreflexes beidseits. Aufgrund der diagnostischen Ergebnisse und der klinischen Merkmale wird eine hereditäre sensomotorische Neuropathie (HMSN) angenommen. Die HMSN zeigt sich in vielfältiger Ausprägung und ist mit 40 % aller Neuropathien die häufigste Ursache chronischer Neuropathien [1]. Dabei können die Symptome von Geburt an ausgeprägt sein (schwerer Verlauf) oder erst im Laufe der ersten Lebensdekade auftreten (milder Verlauf). Diese Kinder fallen durch eine distale Schwäche, Sensibilitätsstörungen, charakteristisch einen Hohlfuß mit Krallenzehe und Atrophie der kleinen Handmuskeln auf [13, 14].

Der Patient A wurde bei Verdacht auf eine hereditäre sensomotorische Neuropathie zur Abklärung einer neurophysiologischen Untersuchung unterzogen, die als unauffällig befunden wurde. Unserer Beobachtung nach vermuten wir, dass die bei uns vorstelligen Kinder eine Neuropathie eines neuen, noch nicht genau beschrieben Typs der HMSN zeigen. Klinisch weisen diese Kinder zusätzlich zu den klassischen Merkmalen einen Zehenspitzengang auf. Die Aktivitäten und Partizipation des Patienten sind in der Regel nicht eingeschränkt; der therapeutische Fokus muss meist auf bestimmte Körperstrukturen und -funktionen gelegt werden. Begleitende Physiotherapie, eine regelmäßige Beobachtung der Hand- und Fußfunktion und eventuell eine Hilfsmittelversorgung der Deformitäten sind wichtige Bestandteile der medizinischen Versorgung. In sehr schweren Fällen werden auch operative Maßnahmen wie Achillessehnenverlängerungen, Osteotomien oder Arthrodesen empfohlen.

Da der Zehenspitzengang bei A recht stark ausgeprägt war, empfahlen wir folgende Therapie: Der Patient sollte Nachtschienen und Pyramideneinlagen tragen; Botox sollte vorerst noch nicht gespritzt werden. In regelmäßigen Nachkontrollen wurde der Junge untersucht und die Therapie angepasst. Das Ziel war bei einer guten Compliance das Vermindern des Zehenspitzengangs und Erweitern des Bewegungsausmaßes der Oberen Sprunggelenke und der Hüftgelenke. Bei der ersten Nachkontrolle nach 8 Wochen zeigte sich eine Besserung des Bewegungsausmaßes im Oberen Sprunggelenk auf 0/0/50 und der Hüftbeweglichkeit; die LWS wies weiter eine starke Hyperlordose auf. Der Zehenspitzengang war ebenfalls noch in den Provokationstests sichtbar, das Gangbild hatte sich jedoch um 50 % verbessert. Im Laufe der nächsten Nachkontrollen stabilisierte sich das Ergebnis und der Therapieplan sah ein Fortsetzen der Anwendung von Nachtschienen für die nächsten 16 Wochen bis zum Ende der Wachstumsphase vor, um den Status quo zu halten und operative Eingriffe zu vermeiden. Begleitende Physiotherapie wurde ebenfalls verordnet.

Diskussion

Das Fallbeispiel betont die Wichtigkeit der systematischen Diagnostik bei Zehenspitzengängern, um unterschiedliche Ätiologien zu berücksichtigen. Ebenfalls wird deutlich, dass die HMSN in vielen Fällen schwer zu diagnostizieren und den zahlreichen Untergruppen zuzuordnen ist. Die Differenzierung und Gegenüberstellung (Tab. 1) des habituellen Zehenspitzengangs und der HMSN soll die Diagnostik erleichtern und gleichzeitig den Fokus auf die HMSN als Ursache für den ZSG verstärken. Das Stufenkonzept findet als Therapiekonzept auch bei hereditären sensomotorischen Neuropathien Anwendung. Es unterscheidet sich in der Versorgung zum habituellen Zehenspitzengang in einem veränderten Prozedere (längere Behandlungsdauer, engmaschigere Betreuung zur Beobachtung von Veränderungen, keine Botoxgabe). In Bezug auf die Prognose müssen noch weitere Nachkontrollen abgewartet werden; es lässt sich aber vermuten, dass die Progredienz der Erkrankung die Prognose verschlechtert und gegebenenfalls eine lebenslange Begleitung fordert.

Fazit für die Praxis

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