Übersichtsarbeiten - OUP 03/2021

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS)

Herbert Thier

Zusammenfassung:
Die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST) hat sich als ein umfassendes Behandlungskonzept in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen etabliert. Zentrale Zielsetzung ist neben einer Schmerzlinderung die Wiederherstellung der im Verlauf der Schmerzerkrankung verloren gegangen Funktionsfähigkeiten im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich (Functional Restoration-Ansatz). Ausgehend von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell werden dysfunktionale schmerzbezogene Vorstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen verringert und die Eigenkompetenz und -verantwortung des Patienten im Umgang mit der Schmerzerkrankung gefördert. In der deutschen S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom (FMS) wird die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit schweren Verläufen eines FMS, die auf ambulante multimodale Therapien und eine zeitlich befristete medikamentöse Therapie nicht ausreichend ansprechen, empfohlen. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die schmerztherapeutische Behandlung erwachsener Fibromyalgiepatienten in der kurativen medizinischen Versorgung.

Schlüsselwörter:
Fibromyalgiesyndrom, chronischer Schmerz, interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie

Zitierweise:
Thier H: Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS).
OUP 2021; 10: 0123–0127
DOI 10.3238/oup.2021.0123–0127

Summary: Interdisciplinary multimodal pain therapy (IMPT) has established itself as a comprehensive concept for the treatment of patients who suffer from chronic pain. In addition to relieving pain, the central objective is to restore the physical, psychological and social well-being lost through the progression of the disease (functional restoration). The German S3 guidelines on fibromyalgia syndrome (FMS) recommend interdisciplinary multimodal pain therapy for patients with severe FMS who do not sufficiently respond to outpatient multimodal therapies or temporary drug therapy. The scope of this article is limited to pain therapy for adult patients with fibromyalgia in the field of curative medical care.

Keywords: Fibromyalgia, chronic pain, interdisciplinary multimodal pain treatment

Citation: Thier, H: Interdisciplinary multimodal pain treatment in patients with fibromyalgia.
OUP 2021; 10: 0123–0127. DOI 10.3238/oup.2021.0123–0127

Schmerzklinik für Gelenk- und Rückenbeschwerden, St. Josef-Stift Sendenhorst

Einleitung

Unter Einfluss eines zunehmenden biopsychosozialen Krankheitsverständnisses von chronischen Schmerzen und eines sich dadurch vollziehenden Wandels der Schmerztherapie von einer symptomatischen, vorwiegend passiv-interventionellen zu einer aktivierenden, auf die Wiederherstellung schmerzbedingter funktioneller Defizite fokussierenden Therapie (Functional Restoration-Ansatz) haben sich in den letzten Jahren teilstationäre und stationäre interdisziplinäre multimodale Behandlungsprogramme etabliert. Das anfangs in der Rückenschmerztherapie entwickelte Konzept [18] wurde im weiteren Verlauf auf die Behandlung anderer Schmerzerkrankungen erfolgreich übertragen [16, 23]. Mittlerweile werden interdisziplinäre multimodale Programme auch in vielen Leitlinien zur Behandlung chronischer Schmerzzustände wie Kreuzschmerzen [5], Kopfschmerzen [9] oder des Fibromyalgiesyndroms [21] empfohlen.

Definition des FMS

Obwohl das Fibromyalgiesyndrom bereits 1994 in die „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ (ICD–10) aufgenommen wurde, wird die Existenz der Erkrankung von vielen Ärzten weiterhin angezweifelt [14]. Das FMS wird in der aktuellen deutschen S3-Leitlinie als ein funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert [11]. Es handelt sich um einen typischen Symptomkomplex, der über einen definierten Zeitraum anhält und sich durch somatische Faktoren nicht hinreichend erklären lässt. Diese Klassifikation ist nicht unumstritten. So wird das FMS von einigen Schmerzmedizinern und Rheumatologen als „zentrales Hypersensitivitätssyndrom“ klassifiziert. Psychosomatiker betrachten es oftmals als psychosomatische Störung und Vertreter der Allgemeinmedizin als somatische Belastungsstörung [11]. Zu den Kernsymptomen des FMS gehören: chronische (mindestens 3 Monate bestehende) Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen bzw. nicht erholsamer Schlaf und Müdigkeit bzw. körperliche und/oder geistige Erschöpfungsneigung [11]. Darüber hinaus leiden Betroffene meist unter weiteren funktionellen Beschwerden. Die genaue Ätiologie und Pathophysiologie des FMS ist weiterhin nicht abschließend geklärt [27]. Es ist jedoch eine Reihe von unterschiedlichen biologischen und psychosozialen Faktoren bekannt, die mit dem FMS assoziiert sind. Ein biopsychosoziales Modell bezüglich Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung des FMS wird postuliert. Beim FMS handelt es sich wahrscheinlich um die Endstrecke unterschiedlicher ätiopathogenetischer Faktoren und pathophysiologischer Mechanismen, aus denen sich möglicherweise zukünftig subgruppenspezifische (mechanismen-orientierte) Therapien ableiten lassen können [27].

Diagnose und Schweregrad der FMS

Die Diagnose des FMS erfolgt durch Anamnese der typischen Kernsymptome und Ausschluss anderer körperlicher Erkrankungen, die die Beschwerden hinreichend erklären können [11]. Patienten mit FMS leiden oftmals unter psychischen Begleiterkrankungen. Häufig bestehen eine Angst- oder depressive Störung, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder posttraumatische Belastungsstörung als Komorbidität. Ein Screening auf vermehrte seelische Symptombelastung (Angst und Depression) soll daher bei der Erstuntersuchung durchgeführt werden [11]. Bei Hinweisen auf eine vermehrte Symptombelastung, bei dysfunktionaler Krankheitsverarbeitung, schwerwiegenden psychosozialen oder biographischen Belastungsfaktoren, aktuellen oder zurückliegenden psychiatrischen Behandlungen wird eine fachpsychotherapeutische Untersuchung empfohlen [11]. Bereits bei der Erstdiagnostik soll der Schweregrad der krankheitsbedingten Beeinträchtigung bestimmt werden. Abhängig vom Ausmaß der Einschränkungen in den Alltagsfunktionen (Beruf, Hausarbeit, Familie, Sexualität, Freizeit) lassen sich leichte (keine oder geringe Beeinträchtigung), mittlere (mittelgradige Beeinträchtigung) und schwere (ausgeprägte Beeinträchtigung) Verlaufsformen des FMS unterscheiden [11, 15]. Zur Graduierung des Schweregrades werden in den Leitlinien der Fibromyalgia Impact Questionnaire, der Fibromyalgiesymptomfragebogen und der Patient Health Questionnaire 15 vorgeschlagen [11]. Die Graduierung ist insbesondere von therapeutischer Bedeutung, da in der Leitlinie eine von der Schwere der Erkrankung abhängige abgestufte Behandlung des FMS empfohlen wird [21].

Diagnosemitteilung und
Edukation

Im Rahmen der Erstdiagnose soll der Patient über die Erkrankung (als funktionelle Störung), den Verlauf und die Prognose des FMS aufgeklärt werden. Wichtig ist es, dem Patienten die Legitimität seiner Symptome zu versichern und gesundheitsbezogene Ängste (z.B. vor Invalidität oder Verkürzung der Lebenserwartung durch das FMS) abzubauen. Die Anerkennung der Krankheit durch den Arzt führt häufig zu einer großen Erleichterung beim Patienten und zu einer positiven Beeinflussung des Krankheitsverlaufs [21]. Die Energie, die zuvor für die Suche nach einer Erklärung der Beschwerden aufgewendet wurde, kann nun für die aktive Krankheitsbewältigung genutzt werden. Die Beschwerden sollen mit Hilfe eines biopsychosozialen Krankheitsmodells, das die subjektiven Krankheitsvorstellungen des Patienten aufgreift, veranschaulicht werden. Erfolgsversprechende Therapiemöglichkeiten des FMS sollen dem Patienten vorgestellt werden, insbesondere die Aussicht, dass er durch eigene Aktivitäten (Bewegung, Wärmeanwendung, psychosoziale Aktivitäten) seine Beschwerden lindern und seine Funktionsfähigkeit im Alltag verbessern kann. Bei der Auswahl geeigneter therapeutischer Maßnahmen sollen Begleiterkrankungen und Präferenzen des Patienten im Rahmen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Individuelle und realistische Therapien sollen gemeinsam erarbeitet werden. Auf weitere geeignete Informationsquellen zum FMS, z.B. Internetseiten, Broschüren und FMS-Selbsthilfegruppen/-organisationen, soll hingewiesen werden. Auch die Teilnahme an einer Patientenschulung und Psychoedukation kann als Erstmaßnahme erwogen werden, die im ambulanten Bereich von Selbsthilfeorganisationen angeboten werden oder Bestandteile (teil-)stationärer Behandlungsprogramme sind [21].

Abgestuftes
Behandlungskonzept des FMS

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