Übersichtsarbeiten - OUP 03/2021

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS)

Herbert Thier

Zusammenfassung:
Die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST) hat sich als ein umfassendes Behandlungskonzept in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen etabliert. Zentrale Zielsetzung ist neben einer Schmerzlinderung die Wiederherstellung der im Verlauf der Schmerzerkrankung verloren gegangen Funktionsfähigkeiten im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich (Functional Restoration-Ansatz). Ausgehend von einem biopsychosozialen Krankheitsmodell werden dysfunktionale schmerzbezogene Vorstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen verringert und die Eigenkompetenz und -verantwortung des Patienten im Umgang mit der Schmerzerkrankung gefördert. In der deutschen S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom (FMS) wird die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit schweren Verläufen eines FMS, die auf ambulante multimodale Therapien und eine zeitlich befristete medikamentöse Therapie nicht ausreichend ansprechen, empfohlen. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die schmerztherapeutische Behandlung erwachsener Fibromyalgiepatienten in der kurativen medizinischen Versorgung.

Schlüsselwörter:
Fibromyalgiesyndrom, chronischer Schmerz, interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie

Zitierweise:
Thier H: Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS).
OUP 2021; 10: 0123–0127
DOI 10.3238/oup.2021.0123–0127

Summary: Interdisciplinary multimodal pain therapy (IMPT) has established itself as a comprehensive concept for the treatment of patients who suffer from chronic pain. In addition to relieving pain, the central objective is to restore the physical, psychological and social well-being lost through the progression of the disease (functional restoration). The German S3 guidelines on fibromyalgia syndrome (FMS) recommend interdisciplinary multimodal pain therapy for patients with severe FMS who do not sufficiently respond to outpatient multimodal therapies or temporary drug therapy. The scope of this article is limited to pain therapy for adult patients with fibromyalgia in the field of curative medical care.

Keywords: Fibromyalgia, chronic pain, interdisciplinary multimodal pain treatment

Citation: Thier, H: Interdisciplinary multimodal pain treatment in patients with fibromyalgia.
OUP 2021; 10: 0123–0127. DOI 10.3238/oup.2021.0123–0127

Schmerzklinik für Gelenk- und Rückenbeschwerden, St. Josef-Stift Sendenhorst

Einleitung

Unter Einfluss eines zunehmenden biopsychosozialen Krankheitsverständnisses von chronischen Schmerzen und eines sich dadurch vollziehenden Wandels der Schmerztherapie von einer symptomatischen, vorwiegend passiv-interventionellen zu einer aktivierenden, auf die Wiederherstellung schmerzbedingter funktioneller Defizite fokussierenden Therapie (Functional Restoration-Ansatz) haben sich in den letzten Jahren teilstationäre und stationäre interdisziplinäre multimodale Behandlungsprogramme etabliert. Das anfangs in der Rückenschmerztherapie entwickelte Konzept [18] wurde im weiteren Verlauf auf die Behandlung anderer Schmerzerkrankungen erfolgreich übertragen [16, 23]. Mittlerweile werden interdisziplinäre multimodale Programme auch in vielen Leitlinien zur Behandlung chronischer Schmerzzustände wie Kreuzschmerzen [5], Kopfschmerzen [9] oder des Fibromyalgiesyndroms [21] empfohlen.

Definition des FMS

Obwohl das Fibromyalgiesyndrom bereits 1994 in die „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ (ICD–10) aufgenommen wurde, wird die Existenz der Erkrankung von vielen Ärzten weiterhin angezweifelt [14]. Das FMS wird in der aktuellen deutschen S3-Leitlinie als ein funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert [11]. Es handelt sich um einen typischen Symptomkomplex, der über einen definierten Zeitraum anhält und sich durch somatische Faktoren nicht hinreichend erklären lässt. Diese Klassifikation ist nicht unumstritten. So wird das FMS von einigen Schmerzmedizinern und Rheumatologen als „zentrales Hypersensitivitätssyndrom“ klassifiziert. Psychosomatiker betrachten es oftmals als psychosomatische Störung und Vertreter der Allgemeinmedizin als somatische Belastungsstörung [11]. Zu den Kernsymptomen des FMS gehören: chronische (mindestens 3 Monate bestehende) Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen bzw. nicht erholsamer Schlaf und Müdigkeit bzw. körperliche und/oder geistige Erschöpfungsneigung [11]. Darüber hinaus leiden Betroffene meist unter weiteren funktionellen Beschwerden. Die genaue Ätiologie und Pathophysiologie des FMS ist weiterhin nicht abschließend geklärt [27]. Es ist jedoch eine Reihe von unterschiedlichen biologischen und psychosozialen Faktoren bekannt, die mit dem FMS assoziiert sind. Ein biopsychosoziales Modell bezüglich Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung des FMS wird postuliert. Beim FMS handelt es sich wahrscheinlich um die Endstrecke unterschiedlicher ätiopathogenetischer Faktoren und pathophysiologischer Mechanismen, aus denen sich möglicherweise zukünftig subgruppenspezifische (mechanismen-orientierte) Therapien ableiten lassen können [27].

Diagnose und Schweregrad der FMS

Die Diagnose des FMS erfolgt durch Anamnese der typischen Kernsymptome und Ausschluss anderer körperlicher Erkrankungen, die die Beschwerden hinreichend erklären können [11]. Patienten mit FMS leiden oftmals unter psychischen Begleiterkrankungen. Häufig bestehen eine Angst- oder depressive Störung, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder posttraumatische Belastungsstörung als Komorbidität. Ein Screening auf vermehrte seelische Symptombelastung (Angst und Depression) soll daher bei der Erstuntersuchung durchgeführt werden [11]. Bei Hinweisen auf eine vermehrte Symptombelastung, bei dysfunktionaler Krankheitsverarbeitung, schwerwiegenden psychosozialen oder biographischen Belastungsfaktoren, aktuellen oder zurückliegenden psychiatrischen Behandlungen wird eine fachpsychotherapeutische Untersuchung empfohlen [11]. Bereits bei der Erstdiagnostik soll der Schweregrad der krankheitsbedingten Beeinträchtigung bestimmt werden. Abhängig vom Ausmaß der Einschränkungen in den Alltagsfunktionen (Beruf, Hausarbeit, Familie, Sexualität, Freizeit) lassen sich leichte (keine oder geringe Beeinträchtigung), mittlere (mittelgradige Beeinträchtigung) und schwere (ausgeprägte Beeinträchtigung) Verlaufsformen des FMS unterscheiden [11, 15]. Zur Graduierung des Schweregrades werden in den Leitlinien der Fibromyalgia Impact Questionnaire, der Fibromyalgiesymptomfragebogen und der Patient Health Questionnaire 15 vorgeschlagen [11]. Die Graduierung ist insbesondere von therapeutischer Bedeutung, da in der Leitlinie eine von der Schwere der Erkrankung abhängige abgestufte Behandlung des FMS empfohlen wird [21].

Diagnosemitteilung und
Edukation

Im Rahmen der Erstdiagnose soll der Patient über die Erkrankung (als funktionelle Störung), den Verlauf und die Prognose des FMS aufgeklärt werden. Wichtig ist es, dem Patienten die Legitimität seiner Symptome zu versichern und gesundheitsbezogene Ängste (z.B. vor Invalidität oder Verkürzung der Lebenserwartung durch das FMS) abzubauen. Die Anerkennung der Krankheit durch den Arzt führt häufig zu einer großen Erleichterung beim Patienten und zu einer positiven Beeinflussung des Krankheitsverlaufs [21]. Die Energie, die zuvor für die Suche nach einer Erklärung der Beschwerden aufgewendet wurde, kann nun für die aktive Krankheitsbewältigung genutzt werden. Die Beschwerden sollen mit Hilfe eines biopsychosozialen Krankheitsmodells, das die subjektiven Krankheitsvorstellungen des Patienten aufgreift, veranschaulicht werden. Erfolgsversprechende Therapiemöglichkeiten des FMS sollen dem Patienten vorgestellt werden, insbesondere die Aussicht, dass er durch eigene Aktivitäten (Bewegung, Wärmeanwendung, psychosoziale Aktivitäten) seine Beschwerden lindern und seine Funktionsfähigkeit im Alltag verbessern kann. Bei der Auswahl geeigneter therapeutischer Maßnahmen sollen Begleiterkrankungen und Präferenzen des Patienten im Rahmen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Individuelle und realistische Therapien sollen gemeinsam erarbeitet werden. Auf weitere geeignete Informationsquellen zum FMS, z.B. Internetseiten, Broschüren und FMS-Selbsthilfegruppen/-organisationen, soll hingewiesen werden. Auch die Teilnahme an einer Patientenschulung und Psychoedukation kann als Erstmaßnahme erwogen werden, die im ambulanten Bereich von Selbsthilfeorganisationen angeboten werden oder Bestandteile (teil-)stationärer Behandlungsprogramme sind [21].

Abgestuftes
Behandlungskonzept des FMS

Bei leichten Verlaufsformen des FMS kann sich die Therapie auf die Aufklärung über das Erkrankungsbild und die Ermutigung der Betroffenen zu körperlicher und psychosozialer Aktivität (geistige Aktivität und Pflegen von Hobbys und sozialen Kontakten) beschränken. Bei schweren Verläufen sollen unter Berücksichtigung von Präferenzen und Komorbiditäten des Patienten multimodale Behandlungsmöglichkeiten und der zeitlich befristete Einsatz von Medikamenten (Amitriptylin, Duloxetin, Pregabalin) besprochen werden [21]. Eine medikamentöse Therapie des FMS ist nicht unbedingt erforderlich [26]. Die multimodalen Therapien umfassen mindestens ein körperlich aktivierendes Verfahren und mindestens ein psychologisches Verfahren (z.B. Funktionstraining und ambulante Psychotherapie). Für diese Formen der ambulanten multimodalen Therapien existieren jedoch weder Standards noch Kriterien, die den notwendigen Inhalt und Umfang der Behandlung oder die Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den beteiligten therapeutischen Disziplinen regeln. Sie beschränken sich oftmals auf die Addition verschiedener ambulanter Therapieformen [25]. Als aktive Therapieverfahren werden empfohlen: Ausdauertraining (geringe bis mittlere Intensität), Trocken- und Wassergymnastik, Funktionstraining, meditative Bewegungstherapien (Qi-Gong, Tai-Chi, Yoga), Krafttraining (geringer Intensität) [28]. Als psychotherapeutischen Verfahren können kognitive Verhaltenstherapie, Biofeedback, Imagination oder Hypnose eingesetzt werden. Entspannungsverfahren, therapeutisches Schreiben oder achtsamkeitsbasierte Stressreduktion sollen nur innerhalb eines psychotherapeutischen Verfahrens angewendet werden. Eine psychotherapeutische Behandlung soll bei maladaptiver Krankheitsbewältigung (z.B. Katastrophisieren, unangemessenes Vermeidungs- oder Durchhalteverhalten), schmerzrelevanten Stressfaktoren und/oder interpersonellen Problemen und/oder psychischen Begleiterkrankungen erfolgen [17].

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei FMS

Patienten mit schweren Verläufen eines FMS, die auf o. g. multimodale Therapien und eine zeitlich befristete medikamentöse Therapie nicht ausreichend ansprechen, sollen mit multimodalen (teil-)stationären Programmen nach dem deutschen Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) und bei psychischen Komorbiditäten mit einer störungsspezifischen Psycho- und/oder medikamentösen Therapie behandelt werden [21]. Neben einer multimodalen rheumatologischen Komplexbehandlung oder einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung kann dies im Rahmen einer schmerztherapeutischen Behandlung erfolgen. Im Operations- und Prozedurenschlüssel (OPS) werden mit den Ziffern 8–918.xx und 8–91c.xx (OPS, Version 2021) strukturelle und prozessuale (Mindest-)Anforderungen für die teil- und vollstationäre interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im kurativen Sektor vorgegeben. Von der Ad-hoc-Kommission (AHK) „Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. wurden zur weiteren Sicherstellung einer hohen qualitativen Diagnostik und Behandlung eine Reihe von Empfehlungen zur Durchführung der IMST publiziert [2–4, 6, 22]. Zum Thema „Multimodale Schmerztherapie beim chronischen Rückenschmerz“ wurde in dieser Zeitschrift bereits ein sehr ausführlicher Beitrag publiziert [7].

In der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie (IMST) erfolgt die Behandlung durch ein multiprofessionelles Team aus Ärzten einer oder mehrerer Fachrichtungen, Psychologen bzw. Psychotherapeuten und weiteren Disziplinen wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Pflegekräften, die als gleichberechtigte Partner zusammenarbeiten und sich untereinander abstimmen (integratives Teamkonzept). Der für die Therapie verantwortliche Arzt muss über die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ verfügen. Regelmäßig finden vorgeplante Teambesprechungen zur Therapiesteuerung statt. Die Patienten werden in Kleingruppen von maximal 8 Patienten behandelt. Die Behandlung erfolgt auf der Grundlage eines biopsychosozialen Modells, das neben somatischen auch psychosoziale Faktoren bei der Entstehung, Chronifizierung und Aufrechterhaltung von Schmerzen berücksichtigt. Zentrale Zielsetzung ist neben einer Schmerzlinderung die Wiederherstellung der im Verlauf der Schmerzerkrankung verloren gegangen Funktionsfähigkeiten im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich (Functional Restoration-Ansatz). Dabei kommen unterschiedliche aktive Therapieverfahren aus dem Bereich der Psychotherapie, Entspannungstherapie, Physiotherapie, Ergotherapie, medizinische Trainingstherapie, Arbeitsplatztraining, künstlerische Therapie oder andere übende Verfahren zur Anwendung. In Deutschland wird die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST) im kurativen Sektor in der Regel nur im voll- oder teilstationären Setting von Schmerzkliniken angeboten. Im ambulanten Sektor konnte die IMST bisher nur vereinzelt im Rahmen von Modellprojekten realisiert werden. Vor dem Hintergrund eines abgestuften Versorgungskonzeptes mit ambulanter Leistung vor teil- oder vollstationärer Krankenhausleistung unterliegt die IMST im kurativen Sektor einer strengen Indikationsstellung. Nach Vorgaben des OPS erfordert die multimodale Schmerztherapie eine interdisziplinäre Diagnostik durch mindestens 2 Fachdisziplinen (obligatorisch eine psychiatrische, psychosomatische oder psychologische Disziplin). Im Rahmen dieser umfassenden medizinisch-schmerztherapeutischen und schmerzpsychotherapeutischen Diagnostik wird die Indikation zu einer IMST überprüft und über den geeigneten Versorgungssektor (ambulant oder (teil-)stationär) entschieden. Wesentliche Indikationskriterien sind eine hohe Erkrankungsschwere mit Beeinträchtigungen im Beruf und im Alltag, Fehlschläge von vorherigen Schmerzbehandlungen (Therapieresistenz), schmerzrelevante psychische oder somatische Begleiterkrankungen und problematische schmerzbezogene Kognitionen (z.B. Katastrophisierungen) oder Verhaltensmuster (Schonung, sozialer Rückzug, Selbstüberforderung). Der psychotherapeutischen Untersuchung kommt aufgrund der hohen Komorbidität von psychischen Erkrankungen bei FMS-Patienten eine besondere Bedeutung zu. Ebenso sollten aktuelle und biographische Belastungsfaktoren, deren Einwirkung in Kindheit und Jugend für eine spätere erhöhte Stressvulnerabilität verantwortlich sein können, erfasst werden [10].

Mit ihrer interdisziplinären und integrativen Vorgehensweise (statt einer einfachen multimodalen/multidisziplinären) und ihrer aktivierenden, das Selbstmanagement fördernden Ausrichtung, intensiviert und vertieft die IMST die Wirksamkeit des therapeutischen Vorgehens bei FMS. Zentrale Bausteine dabei sind eine patientengerechte medizinische und psychologische (Psycho-)Edukation, eine adäquat dosierte Sport- und Bewegungstherapie, ein Entspannungsverfahren und psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapien. Durch Einüben und regelmäßiges Anwenden von Eigenübungen wird das Selbstmanagement im Umgang mit der FMS verbessert. Dabei erhöht sich mit jeder positiven Erfahrung die Selbstwirksamkeitserwartung im Umgang mit dem FMS.

Therapeutische
Grundhaltung

Viele Patienten mit FMS erleben eine jahrlange Odyssee an Untersuchungen und frustranen Behandlungsversuchen, ehe die Diagnose eines FMS gestellt und eine angemessene Therapie eingeleitet wird [8, 13, 19]. Dabei treffen sie nicht selten auf eine mangelnde Akzeptanz und ein unzureichendes Interesse für das FMS auf Seiten einiger Ärzte und Teilen des medizinischen Assistenzpersonals. Auch werden nach gestellter Diagnose eines FMS oftmals neu auftretende körperliche Beschwerden voreilig dem FMS zugeordnet. Durch diese Erfahrungen fühlen sich Betroffene mit ihren Beschwerden häufig nicht ernst genommen und abwertend behandelt [1]. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist eine professionelle, wertschätzende und empathische Grundhaltung gegenüber dem Patienten mit FMS und die Anerkennung seiner Beschwerden (Grundbotschaft „Jeder Schmerz ist echt!“) [20] von Seiten aller Therapeuten des Schmerzteams von grundlegender Bedeutung für eine tragfähige und erfolgreiche therapeutische Beziehung.

Edukation und
Psychoedukation

Trotz der Empfehlungen der FMS-Leitlinie findet in der Primärversorgung eine adäquate Aufklärung oft nur unzureichend statt, was einem Mangel an standardisierten Konzepten und fehlenden personellen und zeitlichen Ressourcen im klinischen Alltag geschuldet sein mag. Patienten mit chronischen Schmerzen sind jedoch auch hinsichtlich ihrer Denk-, Gefühls und Handlungsmuster häufig eingeengt. Oft sind sie sich ihrer psychosozialen Belastungen nicht bewusst oder setzten sie nicht in Beziehung zu ihren Schmerzen [20]. Manche Patienten mit FMS stehen den psychosozialen Komponenten des biopsychosozialen Krankheitsmodells und der multimodalen Behandlung skeptisch gegenüber und suchen nach einer somatischen Erklärung ihrer Beschwerden. Diese somatische Fixierung wird begünstigt durch eine jahrelange somatische Vorbehandlung der Beschwerden vor Diagnosestellung der FMS. Der Wechsel von einem vorrangig somatischen zu einem biopsychosozialen Krankheits- und Behandlungskonzept kann für diese Patienten häufig nicht unmittelbar nachvollzogen und als kränkend erlebt werden („Ich bilde mir den Schmerz doch nicht ein.“) [20]. Wichtig ist es, diese Verunsicherung und die möglicherweise empfundene Kränkung aufzugreifen und im Rahmen einer patientengerechten Aufklärung aufzulösen. Die Krankheitsvorstellung des Patienten soll erfragt und berücksichtigt werden. Biopsychosoziale Zusammenhänge sollen so vermittelt werden, dass der Patient sie versteht und auf seine eigene Situation übertragen kann [20]. Während die Edukation lediglich die Aufklärung des Patienten über die Diagnose und Behandlungsprinzipien beinhaltet, umfasst die Psychoedukation weitergehende Informationen und die Motivation zum Selbstmanagement mit dem Ziel der Steigerung von Kontrollkompetenz und Eigenaktivität.

Psychotherapeutische
Behandlung

Im Mittelpunkt der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung steht in der Regel ein schmerzbezogenes Gruppenprogramm mit edukativen und interaktionellen Anteilen, das durch wöchentliche Einzelgespräche ergänzt wird. Die Behandlung umfasst ein großes Maß an Aufklärung und Schulung des Patienten im Umgang mit seinen Schmerzen, aber auch mit Stress. Mit den Patienten soll ein angemessenes kognitives biopsychosoziales Schmerzmodell entwickelt werden, das Beeinflussung im schmerzbezogenen Erleben und Verhalten zulässt. Da bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des FMS (bei einer Untergruppe von Schmerzpatienten) möglicherweise einer Störung des Stressverarbeitungssystems mit der Folge einer erhöhten Stressanfälligkeit eine bedeutsame Rolle zukommt, können auch Modelle einer stressinduzierten zentralen Reizverarbeitungsstörung oder einer stressinduzierten Hyperalgesie als Krankheitsmodell vermittelt werden [21]. Dysfunktionale Muster der Schmerzbewältigung, wie Katastrophisieren, Überzeugung, dass Bewegung schadet, extreme Angst vor Schmerz, Depressivität, Hilflosigkeit, Schon- und Vermeidungsverhalten oder ausgeprägtes Überforderungsverhalten, Störungen der Beziehungsgestaltung sollen schrittweise abgebaut werden. Dies kann bei einer Tendenz zur Selbstüberforderung die Überprüfung und Veränderung des Anspruchsniveaus des Patienten erforderlich machen, um eine angemessene Balance zwischen Aktivität und Ruhe zu etablieren. Bei ausgeprägten angstmotivierten Schon- und Vermeidungsverhalten muss die schmerzbezogene Angst abgebaut und die körperliche Aktivität, ausgehend von den Möglichkeiten des Patienten, schrittweise aufgebaut werden. Weitere Strategien für eine angemessene Bewältigung von Schmerz und Stress sollen vermittelt werden. Verschiedene Techniken werden miteinander kombiniert, z.B. Selbstbeobachtung im Rahmen der Verhaltenstherapie, Entspannungsverfahren (z.B. Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Imaginationen, autogenes Training, Biofeedback), Aufmerksamkeitsumlenkung, Anti-Stress-Training. Die Bewältigungsstrategien sollen innerhalb der Therapie wiederholt eingeübt werden, idealerweise bereits in alltäglichen Situationen, was jedoch nur im Rahmen eines ambulanten oder teilstationären Settings möglich ist. Probleme beim Alltagstransfer und bei der Aufrechterhaltung der erlernten Bewältigungsfertigkeiten im Alltag sollen bereits innerhalb der IMST thematisiert und mögliche Hilfen vorgestellt werden (z.B. Erarbeiten eines sog. „Erste-Hilfe-Koffers“, Angebot einer eingeplanten Auffrischungssitzung oder ambulanten psychotherapeutischen Weiterbehandlung, Teilnahme an einer Schmerz-Selbsthilfegruppe) [12].

Bewegungstherapie

Bei der Behandlung des FMS hat sich aerobes Ausdauertraining (geringe bis mittlere Intensität) in Kombination mit Trocken- und Wassergymnastik, Funktionstraining, Krafttraining (geringe Intensität) oder alternativ mit meditativer Bewegungstherapie (Qi-Gong, Tai-Chi, Yoga) bewährt. Die Auswahl der einzelnen Bewegungsformen soll sich an den individuellen Möglichkeiten und Vorlieben des Patienten ausrichten [21]. Patienten mit FMS leiden in der Regel unter einer allgemeinen körperlichen Dekonditionierung und Defiziten in der Körperkoordination und -wahrnehmung, bedingt durch ein ausgeprägtes körperliches Schon- oder Überforderungsverhalten. Im Rahmen der Bewegungstherapie sollen mögliche Bewegungsängste abgebaut, Warnsignale für eine Überlastung erkannt und Hinweise für eine gefahrlose Aktivierung vermittelt werden. Die Patienten sollen zu regelmäßiger körperlicher Aktivität (Ausdauertraining, Eigenübungen) unter Einhaltung persönlicher Belastungsgrenzen herangeführt und motiviert werden. Da die Aufnahme körperlicher Aktivität oft mit Schmerzen und Überanstrengung verbunden ist, kann dies auf Seiten des Fibromyalgiepatienten zu Frustration führen. Wichtig ist es, die Bewegungsübungen mit sehr niedriger Belastung langsam zu beginnen und vorsichtig zu steigern. Das Training sollte sich nicht an der zu tolerierenden Schmerzgrenze orientieren („working to tolerance plan“), sondern an einer individuellen Quotenvorgabe („working to quota plan“), deren Ausmaß und Steigerung patientengerecht definiert werden muss. Im Rahmen dieses Quotentraining kann das Kontrollerleben und die Selbstwirksamkeit des Patienten gestärkt werden [24].

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Herbert Thier

Schmerzklinik für Gelenk- und

Rückenbeschwerden

St. Josef-Stift Sendenhorst

Westtor 7

48324 Sendenhorst

thier@st-josef-stift.de

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