Übersichtsarbeiten - OUP 03/2021

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS)

Bei leichten Verlaufsformen des FMS kann sich die Therapie auf die Aufklärung über das Erkrankungsbild und die Ermutigung der Betroffenen zu körperlicher und psychosozialer Aktivität (geistige Aktivität und Pflegen von Hobbys und sozialen Kontakten) beschränken. Bei schweren Verläufen sollen unter Berücksichtigung von Präferenzen und Komorbiditäten des Patienten multimodale Behandlungsmöglichkeiten und der zeitlich befristete Einsatz von Medikamenten (Amitriptylin, Duloxetin, Pregabalin) besprochen werden [21]. Eine medikamentöse Therapie des FMS ist nicht unbedingt erforderlich [26]. Die multimodalen Therapien umfassen mindestens ein körperlich aktivierendes Verfahren und mindestens ein psychologisches Verfahren (z.B. Funktionstraining und ambulante Psychotherapie). Für diese Formen der ambulanten multimodalen Therapien existieren jedoch weder Standards noch Kriterien, die den notwendigen Inhalt und Umfang der Behandlung oder die Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den beteiligten therapeutischen Disziplinen regeln. Sie beschränken sich oftmals auf die Addition verschiedener ambulanter Therapieformen [25]. Als aktive Therapieverfahren werden empfohlen: Ausdauertraining (geringe bis mittlere Intensität), Trocken- und Wassergymnastik, Funktionstraining, meditative Bewegungstherapien (Qi-Gong, Tai-Chi, Yoga), Krafttraining (geringer Intensität) [28]. Als psychotherapeutischen Verfahren können kognitive Verhaltenstherapie, Biofeedback, Imagination oder Hypnose eingesetzt werden. Entspannungsverfahren, therapeutisches Schreiben oder achtsamkeitsbasierte Stressreduktion sollen nur innerhalb eines psychotherapeutischen Verfahrens angewendet werden. Eine psychotherapeutische Behandlung soll bei maladaptiver Krankheitsbewältigung (z.B. Katastrophisieren, unangemessenes Vermeidungs- oder Durchhalteverhalten), schmerzrelevanten Stressfaktoren und/oder interpersonellen Problemen und/oder psychischen Begleiterkrankungen erfolgen [17].

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei FMS

Patienten mit schweren Verläufen eines FMS, die auf o. g. multimodale Therapien und eine zeitlich befristete medikamentöse Therapie nicht ausreichend ansprechen, sollen mit multimodalen (teil-)stationären Programmen nach dem deutschen Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) und bei psychischen Komorbiditäten mit einer störungsspezifischen Psycho- und/oder medikamentösen Therapie behandelt werden [21]. Neben einer multimodalen rheumatologischen Komplexbehandlung oder einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung kann dies im Rahmen einer schmerztherapeutischen Behandlung erfolgen. Im Operations- und Prozedurenschlüssel (OPS) werden mit den Ziffern 8–918.xx und 8–91c.xx (OPS, Version 2021) strukturelle und prozessuale (Mindest-)Anforderungen für die teil- und vollstationäre interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie im kurativen Sektor vorgegeben. Von der Ad-hoc-Kommission (AHK) „Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. wurden zur weiteren Sicherstellung einer hohen qualitativen Diagnostik und Behandlung eine Reihe von Empfehlungen zur Durchführung der IMST publiziert [2–4, 6, 22]. Zum Thema „Multimodale Schmerztherapie beim chronischen Rückenschmerz“ wurde in dieser Zeitschrift bereits ein sehr ausführlicher Beitrag publiziert [7].

In der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie (IMST) erfolgt die Behandlung durch ein multiprofessionelles Team aus Ärzten einer oder mehrerer Fachrichtungen, Psychologen bzw. Psychotherapeuten und weiteren Disziplinen wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Pflegekräften, die als gleichberechtigte Partner zusammenarbeiten und sich untereinander abstimmen (integratives Teamkonzept). Der für die Therapie verantwortliche Arzt muss über die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ verfügen. Regelmäßig finden vorgeplante Teambesprechungen zur Therapiesteuerung statt. Die Patienten werden in Kleingruppen von maximal 8 Patienten behandelt. Die Behandlung erfolgt auf der Grundlage eines biopsychosozialen Modells, das neben somatischen auch psychosoziale Faktoren bei der Entstehung, Chronifizierung und Aufrechterhaltung von Schmerzen berücksichtigt. Zentrale Zielsetzung ist neben einer Schmerzlinderung die Wiederherstellung der im Verlauf der Schmerzerkrankung verloren gegangen Funktionsfähigkeiten im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich (Functional Restoration-Ansatz). Dabei kommen unterschiedliche aktive Therapieverfahren aus dem Bereich der Psychotherapie, Entspannungstherapie, Physiotherapie, Ergotherapie, medizinische Trainingstherapie, Arbeitsplatztraining, künstlerische Therapie oder andere übende Verfahren zur Anwendung. In Deutschland wird die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST) im kurativen Sektor in der Regel nur im voll- oder teilstationären Setting von Schmerzkliniken angeboten. Im ambulanten Sektor konnte die IMST bisher nur vereinzelt im Rahmen von Modellprojekten realisiert werden. Vor dem Hintergrund eines abgestuften Versorgungskonzeptes mit ambulanter Leistung vor teil- oder vollstationärer Krankenhausleistung unterliegt die IMST im kurativen Sektor einer strengen Indikationsstellung. Nach Vorgaben des OPS erfordert die multimodale Schmerztherapie eine interdisziplinäre Diagnostik durch mindestens 2 Fachdisziplinen (obligatorisch eine psychiatrische, psychosomatische oder psychologische Disziplin). Im Rahmen dieser umfassenden medizinisch-schmerztherapeutischen und schmerzpsychotherapeutischen Diagnostik wird die Indikation zu einer IMST überprüft und über den geeigneten Versorgungssektor (ambulant oder (teil-)stationär) entschieden. Wesentliche Indikationskriterien sind eine hohe Erkrankungsschwere mit Beeinträchtigungen im Beruf und im Alltag, Fehlschläge von vorherigen Schmerzbehandlungen (Therapieresistenz), schmerzrelevante psychische oder somatische Begleiterkrankungen und problematische schmerzbezogene Kognitionen (z.B. Katastrophisierungen) oder Verhaltensmuster (Schonung, sozialer Rückzug, Selbstüberforderung). Der psychotherapeutischen Untersuchung kommt aufgrund der hohen Komorbidität von psychischen Erkrankungen bei FMS-Patienten eine besondere Bedeutung zu. Ebenso sollten aktuelle und biographische Belastungsfaktoren, deren Einwirkung in Kindheit und Jugend für eine spätere erhöhte Stressvulnerabilität verantwortlich sein können, erfasst werden [10].

Mit ihrer interdisziplinären und integrativen Vorgehensweise (statt einer einfachen multimodalen/multidisziplinären) und ihrer aktivierenden, das Selbstmanagement fördernden Ausrichtung, intensiviert und vertieft die IMST die Wirksamkeit des therapeutischen Vorgehens bei FMS. Zentrale Bausteine dabei sind eine patientengerechte medizinische und psychologische (Psycho-)Edukation, eine adäquat dosierte Sport- und Bewegungstherapie, ein Entspannungsverfahren und psychotherapeutische Einzel- und Gruppentherapien. Durch Einüben und regelmäßiges Anwenden von Eigenübungen wird das Selbstmanagement im Umgang mit der FMS verbessert. Dabei erhöht sich mit jeder positiven Erfahrung die Selbstwirksamkeitserwartung im Umgang mit dem FMS.

Therapeutische
Grundhaltung

Viele Patienten mit FMS erleben eine jahrlange Odyssee an Untersuchungen und frustranen Behandlungsversuchen, ehe die Diagnose eines FMS gestellt und eine angemessene Therapie eingeleitet wird [8, 13, 19]. Dabei treffen sie nicht selten auf eine mangelnde Akzeptanz und ein unzureichendes Interesse für das FMS auf Seiten einiger Ärzte und Teilen des medizinischen Assistenzpersonals. Auch werden nach gestellter Diagnose eines FMS oftmals neu auftretende körperliche Beschwerden voreilig dem FMS zugeordnet. Durch diese Erfahrungen fühlen sich Betroffene mit ihren Beschwerden häufig nicht ernst genommen und abwertend behandelt [1]. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist eine professionelle, wertschätzende und empathische Grundhaltung gegenüber dem Patienten mit FMS und die Anerkennung seiner Beschwerden (Grundbotschaft „Jeder Schmerz ist echt!“) [20] von Seiten aller Therapeuten des Schmerzteams von grundlegender Bedeutung für eine tragfähige und erfolgreiche therapeutische Beziehung.

Edukation und
Psychoedukation

SEITE: 1 | 2 | 3