Übersichtsarbeiten - OUP 03/2021

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie bei Patienten mit Fibromyalgiesyndrom (FMS)

Trotz der Empfehlungen der FMS-Leitlinie findet in der Primärversorgung eine adäquate Aufklärung oft nur unzureichend statt, was einem Mangel an standardisierten Konzepten und fehlenden personellen und zeitlichen Ressourcen im klinischen Alltag geschuldet sein mag. Patienten mit chronischen Schmerzen sind jedoch auch hinsichtlich ihrer Denk-, Gefühls und Handlungsmuster häufig eingeengt. Oft sind sie sich ihrer psychosozialen Belastungen nicht bewusst oder setzten sie nicht in Beziehung zu ihren Schmerzen [20]. Manche Patienten mit FMS stehen den psychosozialen Komponenten des biopsychosozialen Krankheitsmodells und der multimodalen Behandlung skeptisch gegenüber und suchen nach einer somatischen Erklärung ihrer Beschwerden. Diese somatische Fixierung wird begünstigt durch eine jahrelange somatische Vorbehandlung der Beschwerden vor Diagnosestellung der FMS. Der Wechsel von einem vorrangig somatischen zu einem biopsychosozialen Krankheits- und Behandlungskonzept kann für diese Patienten häufig nicht unmittelbar nachvollzogen und als kränkend erlebt werden („Ich bilde mir den Schmerz doch nicht ein.“) [20]. Wichtig ist es, diese Verunsicherung und die möglicherweise empfundene Kränkung aufzugreifen und im Rahmen einer patientengerechten Aufklärung aufzulösen. Die Krankheitsvorstellung des Patienten soll erfragt und berücksichtigt werden. Biopsychosoziale Zusammenhänge sollen so vermittelt werden, dass der Patient sie versteht und auf seine eigene Situation übertragen kann [20]. Während die Edukation lediglich die Aufklärung des Patienten über die Diagnose und Behandlungsprinzipien beinhaltet, umfasst die Psychoedukation weitergehende Informationen und die Motivation zum Selbstmanagement mit dem Ziel der Steigerung von Kontrollkompetenz und Eigenaktivität.

Psychotherapeutische
Behandlung

Im Mittelpunkt der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung steht in der Regel ein schmerzbezogenes Gruppenprogramm mit edukativen und interaktionellen Anteilen, das durch wöchentliche Einzelgespräche ergänzt wird. Die Behandlung umfasst ein großes Maß an Aufklärung und Schulung des Patienten im Umgang mit seinen Schmerzen, aber auch mit Stress. Mit den Patienten soll ein angemessenes kognitives biopsychosoziales Schmerzmodell entwickelt werden, das Beeinflussung im schmerzbezogenen Erleben und Verhalten zulässt. Da bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des FMS (bei einer Untergruppe von Schmerzpatienten) möglicherweise einer Störung des Stressverarbeitungssystems mit der Folge einer erhöhten Stressanfälligkeit eine bedeutsame Rolle zukommt, können auch Modelle einer stressinduzierten zentralen Reizverarbeitungsstörung oder einer stressinduzierten Hyperalgesie als Krankheitsmodell vermittelt werden [21]. Dysfunktionale Muster der Schmerzbewältigung, wie Katastrophisieren, Überzeugung, dass Bewegung schadet, extreme Angst vor Schmerz, Depressivität, Hilflosigkeit, Schon- und Vermeidungsverhalten oder ausgeprägtes Überforderungsverhalten, Störungen der Beziehungsgestaltung sollen schrittweise abgebaut werden. Dies kann bei einer Tendenz zur Selbstüberforderung die Überprüfung und Veränderung des Anspruchsniveaus des Patienten erforderlich machen, um eine angemessene Balance zwischen Aktivität und Ruhe zu etablieren. Bei ausgeprägten angstmotivierten Schon- und Vermeidungsverhalten muss die schmerzbezogene Angst abgebaut und die körperliche Aktivität, ausgehend von den Möglichkeiten des Patienten, schrittweise aufgebaut werden. Weitere Strategien für eine angemessene Bewältigung von Schmerz und Stress sollen vermittelt werden. Verschiedene Techniken werden miteinander kombiniert, z.B. Selbstbeobachtung im Rahmen der Verhaltenstherapie, Entspannungsverfahren (z.B. Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Imaginationen, autogenes Training, Biofeedback), Aufmerksamkeitsumlenkung, Anti-Stress-Training. Die Bewältigungsstrategien sollen innerhalb der Therapie wiederholt eingeübt werden, idealerweise bereits in alltäglichen Situationen, was jedoch nur im Rahmen eines ambulanten oder teilstationären Settings möglich ist. Probleme beim Alltagstransfer und bei der Aufrechterhaltung der erlernten Bewältigungsfertigkeiten im Alltag sollen bereits innerhalb der IMST thematisiert und mögliche Hilfen vorgestellt werden (z.B. Erarbeiten eines sog. „Erste-Hilfe-Koffers“, Angebot einer eingeplanten Auffrischungssitzung oder ambulanten psychotherapeutischen Weiterbehandlung, Teilnahme an einer Schmerz-Selbsthilfegruppe) [12].

Bewegungstherapie

Bei der Behandlung des FMS hat sich aerobes Ausdauertraining (geringe bis mittlere Intensität) in Kombination mit Trocken- und Wassergymnastik, Funktionstraining, Krafttraining (geringe Intensität) oder alternativ mit meditativer Bewegungstherapie (Qi-Gong, Tai-Chi, Yoga) bewährt. Die Auswahl der einzelnen Bewegungsformen soll sich an den individuellen Möglichkeiten und Vorlieben des Patienten ausrichten [21]. Patienten mit FMS leiden in der Regel unter einer allgemeinen körperlichen Dekonditionierung und Defiziten in der Körperkoordination und -wahrnehmung, bedingt durch ein ausgeprägtes körperliches Schon- oder Überforderungsverhalten. Im Rahmen der Bewegungstherapie sollen mögliche Bewegungsängste abgebaut, Warnsignale für eine Überlastung erkannt und Hinweise für eine gefahrlose Aktivierung vermittelt werden. Die Patienten sollen zu regelmäßiger körperlicher Aktivität (Ausdauertraining, Eigenübungen) unter Einhaltung persönlicher Belastungsgrenzen herangeführt und motiviert werden. Da die Aufnahme körperlicher Aktivität oft mit Schmerzen und Überanstrengung verbunden ist, kann dies auf Seiten des Fibromyalgiepatienten zu Frustration führen. Wichtig ist es, die Bewegungsübungen mit sehr niedriger Belastung langsam zu beginnen und vorsichtig zu steigern. Das Training sollte sich nicht an der zu tolerierenden Schmerzgrenze orientieren („working to tolerance plan“), sondern an einer individuellen Quotenvorgabe („working to quota plan“), deren Ausmaß und Steigerung patientengerecht definiert werden muss. Im Rahmen dieses Quotentraining kann das Kontrollerleben und die Selbstwirksamkeit des Patienten gestärkt werden [24].

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Herbert Thier

Schmerzklinik für Gelenk- und

Rückenbeschwerden

St. Josef-Stift Sendenhorst

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