Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST)

Hans-Raimund Casser

Zusammenfassung:
Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapieprogramme (IMST) orientieren sich an den Behandlungszielen der funktionellen Wiederherstellung („functional restoration“) und einem biopsychosozialen Modell. Die dargestellten Therapieinhalte sind nach der Meinung der beteiligten Expertinnen und Experten geeignet, diese Ziele zu erreichen. Sie müssen von einem eng kooperierenden interdisziplinären Behandlungsteam getragen werden.
Bisher liegen dafür Erfahrungen vorwiegend aus dem tagesklinischen und stationären Behandlungssetting vor. Niederschwellige ambulant durchgeführte multimodale Programme sind kaum verbreitet und sollten in Zukunft weiterentwickelt und evaluiert werden. Sie müssen sich an den hier diskutierten Prinzipien und Vorgaben orientieren. Die Grundsätze der IMST, nämlich die biopsychosoziale Sicht von Schmerz, multimodale und interdisziplinäre Ansätze in Diagnostik und Behandlung – auch akuter Schmerzsyndrome – können dazu beitragen, der Chronifizierung von Schmerz entgegenzuwirken.

Schlüsselwörter:
Multimodale Schmerztherapie, chronischer Schmerz, Kreuzschmerz, interdisziplinäre Therapie

Zitierweise:
Casser H-R: Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST)
OUP 2023; 12: 207–212
DOI 10.53180/oup.2023.0207-0212

Summary: Interdisciplinary multimodal pain therapy programs (IMST) are based on the treatment goals of functional restoration and a biopsychosocial model. In the opinion of the experts involved, the therapy contents presented in this paper are suitable for achieving these goals. They must be carried out by a closely cooperating interdisciplinary treatment team. So far, experience has mainly come from day-clinic and in-patient treatment settings. Low-threshold outpatient multimodal programs are not very common and should be further developed and evaluated in the future. They must be guided by the principles and guidelines discussed here. The principles of IMST, namely the biopsychosocial view of pain, multimodal and interdisciplinary approaches in diagnostics and treatment of acute pain syndromes can help to counteract the chronification of pain.

Keywords: Multimodal pain therapy, chronic pain, back pain, interdisciplinary therapy

Citation: Casser H-R: Interdisciplinary multimodal pain therapy (IMPT)
OUP 2023; 12: 207–212. DOI 10.53180/oup.2023.0207-0212

DRK Schmerz-Zentrum Mainz

Interdisziplinarität auf der Basis eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses chronischer Schmerzen wurde in Deutschland bereits 1978 in Mainz eingeführt [1]. Strukturierte multimodale Therapieprogramme zur Behandlung chronischer Schmerzen mit interdisziplinär-integrativer Teamstruktur (IMST) wurden unter Bezug auf internationale Erfahrungen erstmals ab 1990 in Göttingen als Göttinger Rücken-Intensiv-Programm durchgeführt [2]. Darauf aufbauend wurden teil- und vollstationäre multimodale Konzepte an Krankenhäusern bundesweit erfolgreich etabliert.

Die IMST wird als „gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen“ verstanden, in die „verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren nach vorgegebenem Behandlungsplan mit identischem, unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind“ [3].

Dieses teamorientierte Vorgehen bedarf einer optimierten Organisationsstruktur. Im Sinne des Prozessmanagements lassen sich multimodale integrative Therapiemodelle als sog. horizontal ausgerichtete Gesamtprozesse darstellen. Das bedeutet, dass klassisch orientierte Organisationsformen, in denen verschiedene Behandlungsstrukturen parallel und nur mit gering ausgeprägter Kommunikation untereinander agieren, zugunsten einer engen zeitlichen, inhaltlichen sowie sektorenübergreifenden Ausrichtung aufgegeben werden.

Wesentlich für den Prozess und die damit einhergehende Kommunikationsstruktur sind v.a. eine einheitliche, im Team verhandelte „Philosophie“ [4] sowie regelmäßige Teamsitzungen. Diese sollen zu einem gemeinsamen Modell hinsichtlich der diagnostischen Einschätzung, Therapie und Umsetzung führen und werden dafür als obligat angesehen. Ein gemeinsames Arbeiten an einem gemeinsam festgelegten Therapieplan auf Grundlage eines gemeinsam verstandenen Störungsbilds ist das Kernprinzip der IMST und beinhaltet alle an der Therapie beteiligten Disziplinen sowie die Patientin/den Patienten selbst.

Im Jahr 2002 erfolgte die Aufnahme der IMST mit der Ziffer 8–918 in die Version 2.1 des offiziellen Prozedurenkatalogs OPS 301 zur Datenübermittlung nach § 301 (stationäre Krankenhausbehandlung), die in den Folgejahren weiterentwickelt wurde und im DRG-System fest etabliert und damit auch vergütungsrelevant wurde.

Im selben Jahr wurde die Interdisziplinarität auch für die algesiologische Diagnostik mit der Ziffer 1–910 festgelegt. 2006 folgte eine weitere Komplexziffer für die interdisziplinäre multimodale schmerztherapeutische Kurzzeitbehandlung und 2009 auch für die teilstationär durchgeführte IMST.

Speziell für das Bewegungssystem wurde 2006 die „multimodal-nicht operative Komplexbehandlung des Bewegungsystems“ (OPS 8–9 77 ) als Zusatzentgelt in den OPS–Katalog eingeführt. Sie wurde von der „Arbeitsgemeinschaft nicht operativer, orthopädischer manualmedizinischer Akutkliniken“ (ANOA) entwickelt und beinhaltet eine befundorientierte orthopädisch-manual-medizinische/physiotherapeutische Komplex-Behandlung des Bewegungssystems unter Berücksichtigung psychologischer und psychosozialer Einflussfaktoren [36].

Für alle Bereiche geben die Ziffern anspruchsvolle strukturelle und prozessuale Qualitätskriterien vor (nach dem Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI):

OPS 1–910: Interdisziplinäre algesiologische Diagnostik

OPS 8–918: Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie

8–91 b: Interdisziplinäre multimodale Kurzzeitbehandlung

8–91 c: Teilstationäre multimodale Schmerztherapie

8–977 : Multimodale-nicht-operative Komplexbehandlung des Bewegungssystems

Die Genese und Aufrechterhaltung der meisten chronischen Schmerzsyndrome ist weder monokausal somatisch noch monokausal psychologisch, sondern multifaktoriell. Die ICD-10-GM Version 2009 wurde um die Diagnose „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ erweitert, weil die bisherige diagnostische Klassifikation den biopsychosozialen Charakter chronischer Schmerzen nicht wiedergegeben hat [5]. Seit Einführung der Diagnose F 45.41 bestehen Unschärfen bezüglich ihrer korrekten Verwendung. Die Adhoc-Kommission „Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft entwickelte 2017 eine Checkliste, auf welcher Grundlage die Diagnose vergeben werden darf ,welche die ursprünglich auslösende somatischen Ursache sowie die psychischen Faktoren mit wesentlicher Bedeutung für Schweregrad, Exazerbation und Aufrechterhaltung des seit mind. 6 Monaten bestehenden Schmerzgeschehens benennt [6].

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