Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST)

Chronische, therapieresistente Schmerzen, z.B beim Kreuzschmerz, umfassen gleichzeitig somatische, psychische und soziale Dimensionen, die idealerweise durch ein interdisziplinäres Assessment erfasst werden und einer multimodalen Therapie bedürfen.

Als Indikationskriterien für ein interdisziplinäres multimodales Therapieprogramm wären zu nennen:

eine hohe Erkrankungsschwere mit erheblichen biopsychosozialen Konsequenzen,

der Fehlschlag einer vorherigen unimodalen Schmerzbehandlung, eines schmerzbedingten operativen/interventionellen Eingriffs oder einer Entzugsbehandlung,

eine schmerzbedingte Beeinträchtigung der Lebensqualität und des Lebensvollzugs, eine somatische oder psychosoziale Begleiterkrankung mit nachweisbarem Einfluss auf das Schmerzgeschehen, wobei die psychischen und sozialen Belastungen nicht Ausdruck einer eigenständigen psychiatrischen oder zerebralen Erkrankung sind,

sowie das Vorliegen von Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung.

Unter interdisziplinärer multimodaler Therapie wird die gleichzeitige, in der Vorgehensweise integrierte sowie konzeptionell abgestimmte Behandlung von Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen verstanden. Ärztinnen und Ärzte mehrerer Fachrichtungen, Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten und Physiotherapeutinnen/Physiotherapeuten gehören ständig zum Behandlungsteam. Obligat sind die gemeinsame Beurteilung des Behandlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger Teambesprechungen und die Einbindung aller Therapeutinnen und Therapeuten. Dabei erfolgt die Diagnostik und Behandlung nach einem integrativen Konzept mit verhaltensmedizinischer Orientierung. Im Vordergrund stehen die medizinische und psychotherapeutische Behandlung, die Edukation, Entspannungsverfahren und körperliche Übungsprogramme [3].

Die Programme können ambulant, teilstationär oder stationär durchgeführt werden. Die Evidenzlage multimodaler Schmerztherapie ist vor allem beim Rückenschmerz inzwischen unstrittig [7–11]. Auch im Hinblick auf die Kosten konnte nachgewiesen werden, dass multimodale Therapieprogramme beim Rückenschmerz nachhaltig erfolgreich sind und eine deutliche Kostenreduktion im weiteren Handlungsverlauf bewirken [12].

Voraussetzung eines multimodalen Therapieprogramms sollte die Indikationsprüfung durch ein interdisziplinäres Schmerzassessment [13] sein, wie es bei Therapieresistenz nach spätestens 6 bzw. 12 Wochen gefordert wird (NVL 2017) [14].

Interdisziplinäres
multimodales Assessment

Rückenschmerzpatientinnen und -patienten mit rezidivierenden oder anhaltenden Schmerzen, die sich noch im Beginn des Chronifizierungsprozesses finden, aber ein erhöhtes Risiko zur Chronifizierung aufweisen, wie aber auch Patientinnen und Patienten, die sich bereits in einem höheren Chronifizierungsstadium befinden und bei denen eine bisherige mono- oder multidisziplinäre Behandlung nicht zum Erfolg geführt hat, sollten eine fundierte Beurteilung durch ein interdisziplinäres Assessment erfahren [13]. Dieses Assessment sollte ergebnisoffen durchgeführt werden, woraus sich unterschiedliche Konsequenzen ergeben können: Eine Weiterbehandlung ambulant beim Haus- bzw. Facharzt mit konkreten Therapieempfehlungen bzw. die Einleitung eines ambulanten, teilstationären oder stationären multimodalen Therapieprogrammes in Abhängigkeit von den Ergebnissen des Assessments, der Prognose des Rückenschmerzes sowie der individuellen Gegebenheiten [3].

Die Bestandteile des Assessments werden bereits durch den OPS-Kode 1–910 „multidisziplinäre algesiologische Diagnostik“ beschrieben. Hinsichtlich eines interdisziplinären Assessments vor umfassender multimodaler Schmerztherapie wurden die Inhalte, die beteiligten Disziplinen und der Umfang eines Assessments von der Adhoc-Kommission „multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. erarbeitet [13].

Folgende Inhalte kennzeichnen ein interdisziplinäres, multimodales Schmerz-Assessment:

Ausführliche medizinische Anamnese und orientierende körperliche Untersuchung (orthopädisch, neurologisch, ggf. rheumatologisch); ggf. ergänzende zusätzliche bildgebende und elektroneurographische Verfahren und invasive Maßnahmen sowie Testverfahren und standardisierte klinische Interviews, fakultativ unter Hinzuziehung weiterer med. Fachbereiche

psychologisch/psychosomatische Diagnostik mit Anamnese, Verhaltensbeobachtung und Erhebung des psychopathologischen Status

physio-, moto-, ergotherapeutische Befundung

sozialmedizinische Beurteilung

Teambesprechung mit zusammenfassender Diagnosebeschreibung und Abstimmung des weiteren Vorgehens, ggf. individuelles Therapieprogramm

Abschlussevaluation mit der Patientin/dem Patienten.

Vorzugsweise sollte die Dokumentation dieses Assessments vollständig und standardisiert erfolgen, vorzugsweise anhand des KEDOQ-Schmerzdatenerfassungs- und Auswertungssystems mit Strukturdaten, Kerndatensatz inklusive Deutscher Schmerzfragebogen (DSF), Bestimmung des Chronifizierungsgrades (MPSS), Erfassung der Schmerzdiagnose sowie der relevanten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen [15].

Bei den Qualitätsanforderungen eines Rückenschmerz-Assessments, wie sie bereits das Experten-Panel der Bertelsmannstiftung 2007 [16] formulierte, sollte bezüglich der Behandlerklassifikation die Schmerztherapeutin/der Schmerztherapeut mit fortlaufender Rezertifizierung, die Orthopädin/der Orthopäde mit der Zusatzqualifikation Manualmedizin, die/der ärztliche und psychologische Psychotherapeutin/Psychotherapeut mit schmerztherapeutischer Qualifikation, die Neurologin/der Neurologe, die Physiotherapeutin/der Physiotherapeut mit Kenntnissen von Alltagsfunktions- und -belastungstests und schmerztherapeutischer Erfahrung sowie eine/ein wirbelsäulensäulenchirurgisch tätige/tätiger Fachärztin/Facharzt zur Beurteilung operativer Optionen bzw. vorangegangener operativer Maßnahmen hinzugezogen werden.

Die Beteiligung operativ tätiger Orthopädinnen/Orthopäden und Neurochirurginnen/Neurochirurgen hat sich insbesondere beim Rückenschmerz als sinnvoll herausgestellt, um einerseits auch diese Maßnahmen frühzeitig zu diskutieren bzw. im Vorfeld gestellte Operationsindikationen interdisziplinär zu beurteilen, auch mit dem Ziel einer differenzierten Patientinnen-/Patientenaufklärung. Sie setzt allerdings grundlegende schmerztherapeutische Erfahrung der Operateurin/des Operateurs und vorbehaltlose Aufnahme in das Assessment-Team voraus.

Therapieinhalte der interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie

Zentrale Bausteine der IMST sind die medizinische und psychologische Behandlung, die Edukation, die Entspannung und körperlich übende Verfahren.

Die Therapie beruht auf einer gemeinsamen „Philosophie“ der Einschätzung und Behandlung chronischer Schmerzen mit dem Ziel einer funktionellen Schmerzverarbeitung und der körperlichen, psychischen und sozialen (Re-)Aktivierung der Patientin/des Patienten [3]. Dazu gehört auch eine enge Verlaufskontrolle in Form von Teamsitzungen, in denen alle Behandlerinnen und Behandler die Zielsetzung, Behandlungsfortschritte und Probleme erörtern. Diese sollte mindestens einmal pro Woche stattfinden, zusätzlich zur ständigen Absprache zwischen den Teammitgliedern und der täglichen Visite. Das Zusammentragen verschiedener Erkenntnisse aus Anamnese und Behandlung der Patientin/des Patienten und die gemeinsam abgestimmte, ständig zu aktualisierende Behandlungsstrategie bedeuten, dass die Gesamtbehandlung deutlich wirksamer ist als die Einzelmaßnahmen der multimodalen Behandlung [17–18]. Dies setzt eine professionelle, wertschätzende, empathische und ressourcenorientierte therapeutische Haltung aller Teammitglieder gegenüber der Patientin/dem Patienten, aber auch untereinander voraus.

Dabei sind auch die Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten der einzelnen Fachbereiche und ihrer Methoden kritisch zu reflektieren, zumal häufig eine kausale Behandlung nicht oder nur begrenzt möglich ist.

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