Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie (IMST)

Nach einem ausführlichen interdisziplinären Assessment erfolgt die indikationsbezogene Auswahl der Vorgehensweise durch Erstellung eines individuellen Behandlungsplanes, in dem die Ressourcen der/des einzelnen Patientin/Patienten berücksichtigt werden [4]. Zu den interdisziplinären Maßnahmen im engeren Sinne zählt auch die interdisziplinäre Visite mit Beteiligung aller behandelnder Ärztinnen/Ärzte, Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten, Physiotherapeutinnen/Physiotherapeuten, Pflegetherapeutinnen/Pflegetherapeuten und Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeitern mit möglichst zeitnaher Besprechung unter dem Eindruck des Patientenkontaktes, der bei der Visite im Vordergrund stehen sollte. Zusätzlich eignen sich zur intensiven Versorgung insbesondere bei Problemfällen interdisziplinäre Fallbesprechungen sowie gemeinsame Untersuchungen am Krankenbett oder in den Therapieräumen mit fachübergreifender Besetzung.

Kriterien einer echten Interdisziplinarität ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung, die Durchführung gemeinsamer Untersuchungen und Befunderhebung, ein transparenter Kommunikationsprozess und ein ständiger Informationsaustausch innerhalb des Teams mit Vermeidung diagnostischer oder therapeutischer „Auftragsarbeiten“ [19].

Besondere ärztliche
Aufgaben

Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen tragen in interdisziplinärer Absprache die medizinische und rechtliche Verantwortung für die Patientin/den Patienten. Dies beinhaltet eine fachlich korrekte Diagnostik und Bewertung, die Überprüfung der Behandlungsindikation, die Risikoaufklärung sowie die Therapie nicht nur der Schmerzen, sondern auch bestehender Komorbiditäten bis hin zu Kommunikation mit medizinischen Diensten und Kostenträgern [4].

Spezielle ärztliche Aufgaben sind die tägliche Visite, die Aufklärung und Edukation der Patientin/des Patienten, die spezielle medikamentöse Schmerztherapie (Ein- und -umstellung sowie Entzug) sowie nach sorgfältiger Indikationsstellung gezielte manualmedizinische Maßnahmen bzw. therapeutische lokal- und regionalanästhesiologische Verfahren. Besondere Bedeutung kommt den ärztlichen Einzelgesprächen und Verlaufsuntersuchungen zu, in denen der Patientin/dem Patienten das biopsychosoziale Krankheitsmodell, die Erkenntnisse um Maßnahmen des interdisziplinären Teams sowie individuelle Fragestellungen und Lösungsoptionen dargestellt und diskutiert werden.

Außerdem obliegt der Ärztin/dem Arzt das Verfassen des Abschlussberichtes auf der Basis der interdisziplinär erhobenen Befunde und mit Formulierung der Diagnosen und des weiteren Vorgehens.

Psychotherapeutische
Behandlungsaspekte

Psychotherapeutische Diagnostik und Therapie erfolgt bei chronischen Rückenschmerzpatientinnnen und -patienten in der Regel in einem multimodalen interdisziplinären Programm. Darüber hinaus können im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit Konstellationen auftreten, die eine ambulante oder stationäre Therapie in einem psychosomatischen oder psychotherapeutischen Setting erforderlich machen.

Aus Erfahrung ist es jedoch zwingend die Aufgabe der interdisziplinären multimodalen Therapie, diese zusätzlichen Behandlungswege auf das individuelle Schmerzgeschehen der Patientin/des Patienten auszurichten, weil ansonsten von dessen Seite die Spaltung von Psyche und Körper weiter aufrechterhalten wird und die Therapieeffekte getrennt nebeneinander stehen [20].

Die NVL (2017) [14] empfiehlt zur Therapie des chronischen Kreuzschmerzes die progressive Muskelrelaxation [21] sowie eine multimodal eingebettete Verhaltenstherapie. Auch tiefenpsychologische Ansätze haben sich in den letzten Jahren entwickelt und werden in multimodalen Einrichtungen angewendet [22].

Wesentlich für einen längerfristigen Therapieerfolg ist die systematische Anleitung sowohl von Entspannungsverfahren als auch konkreten verhaltenstherapeutischen Ansätzen mit dem Fokus auf die selbstständige Übernahme und Manifestation dieser Ansätze in den Lebensalltag der Patientinnen und Patienten.

Das zentrale Behandlungsziel einer multimodalen Therapie chronischer Schmerzen besteht in der Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit („functional restoration“), die mit einer Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls der Patientin/des Patienten einhergeht und ressourcenorientiert therapeutisch unterstützt wird [3].

Im Mittelpunkt steht die Therapie nach den oben genannten Ansätzen, v.a. das Fear-Avoidance-Modell bzw. das Avoidance-Endurance-Modell [23] sowie die Akzeptanz- und Achtsamkeitsförderung.

Für die Vermittlung von veränderten Verhaltensweisen, z.B. konsequente Entspannungs- und körperliche Übungen sowie Ausdauer, welche die Patientinnen und Patienten nach der multimodalen Therapie aufrechterhalten sollen, bedarf es einer frühzeitigen Fokussierung auf den Transfer in den Alltag, der auch während der Therapie besprochen und vollzogen werden muss.

Spezielle Physiotherapie

Der Beitrag der bewegungstherapeutischen Disziplinen, in erster Linie der Physio-Sporttherapie aber auch Ergo- und Mototherapie, beruht in Ergänzung zur ärztlichen Funktionsuntersuchung der Analyse der Bewegungselemente, insbesondere der Einschätzung von Kraft, Beweglichkeit, koordinativen Fähigkeiten und Ausdauer, der Erhebung des Bewegungsstatus und der Beurteilung von Bewegungsverhalten und vegetativer Reaktionen [4]. Ziel der bewegungstherapeutischen Maßnahmen ist die möglichst weitgehende Wiederherstellung körperlicher Funktionsfähigkeit und Aktivität in Abstimmung mit den organspezifischen Befunden und den Vorstellungen der Patientin/des Patienten. Gerade in der Physiotherapie müssen bei chronischen Schmerzpatientinnen/-patienten erst die oftmals fehlenden Kenntnisse und Erfahrungen der Patientinnen und Patienten bzgl. körperlicher Funktionen, aber auch das mangelnde Bewusstsein individueller Einflussmöglichkeiten durch Aufklärung und Anleitung sowie Austausch in der Gruppe verändert werden. Dazu gehört das Aufzeigen von Maßnahmen zur Beeinflussung physiologischer Reaktionen wie z.B. durch Biofeedback. Die häufig vorhandenen Defizite der Körperwahrnehmung, erkennbar an pathologischer Haltung, verändertem Muskeltonus und Bewegungsmustern sowie gestörtem Körperschema, speziell bei chronischen Schmerzpatientinnen/-patienten bedarf des Trainings der Körperwahrnehmung bzgl. Sensibilität, Propriozeption und Sinneswahrnehmung, unterstützt durch Biofeedback, EMG, Spiegeltherapie und Ultraschall. Das häufig erhöhte Anspannungsniveau wird mit Tonusregulation durch aktive Variation, Entspannung, gelenkte Wahrnehmung, Atementspannung und Biofeedback versucht, zu beeinflussen. Der Veränderung des vegetativen Nervensystems wirken Stressbewältigung durch Bewegung und Sport wie auch Entspannungstechniken und physikalische Therapiemaßnahmen entgegen. Problembereiche wie körperliche Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung struktureller wie auch funktioneller Veränderungen, Dekonditionierungen aufgrund unangemessener Schonung und Nichtgebrauch, Angstvermeidungsverhalten, mangelndes Vertrauen in die körperliche Leistungsfähigkeit und Fehleinschätzung der körperlichen Leistungsfähigkeit mit einem ausgeprägten Überforderungsverhalten bedarf der fortlaufenden Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Bewegungsorgane (Clinical Reasoning).

Des Weiteren erstreckt sich das Behandlungsspektrum auch auf einzel- und gruppentherapeutische Maßnahmen zur lokalen und globalen Stabilisation, Mobilisation und Koordinationsverbesserung, Aktivitätssteigerung durch Pacing-Programme, Rekonditionierung durch Sport, Kraft- und Ausdauertraining sowie Eigenübungen, Balancierung von Be- und Entlastung und Entwicklung von Selbsthilfestrategien in Fortsetzung und Vertiefung der parallel stattfindenden Psychotherapie.

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