Übersichtsarbeiten - OUP 05/2021

Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie
Der Goldstandard bei chronischen Rückenschmerzen?

Andreas Böger

Zusammenfassung:
In Deutschland lässt sich bei Patienten mit chronischen Kopf-, Rücken- und Nervenschmerzen ein unsystematisches und oft von Zufällen geleitetes Vorgehen konstatieren. Bei längerer Beschwerdedauer ist meist eine befundorientierte multimodale Schmerztherapie indiziert und auch Erfolg versprechend: Studien zeigen einen nachhaltigen Behandlungserfolg stationärer und teilstationärer Konzepte. Moderne Schmerzmedizin geht dabei über eine reine analgetische Therapie weit hinaus und beinhaltet eine strukturierte somatopsychische Diagnostik, konkret eine neuro-orthopädisch-funktionelle und eine psychologische Untersuchung, woraus ein ganzheitliches Behandlungskonzept erstellt wird. Das Behandlungskonzept ist zwar vorwiegend aktivierend orientiert, darin integrierte manuelle bzw. osteopathische Behandlungsverfahren oder auch Interventionen sind hier eine gute Ergänzung und kein Widerspruch.

Schlüsselwörter:
Rückenschmerzen, multimodale Therapie, IMST, interdisziplinär

Zitierweise:
Böger A: Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie. Der Goldstandard bei chronischen Rückenschmerzen?
OUP 2021; 10: 231–234
DOI 10.3238/oup.2021.0231–0234

Summary: Treatment of patients with chronic headache, backpain or neuropathic pain in Germany is not consistent and logical but more often found unsystematical. When chronic pain persists during a long time, often a multimodal treatment approach is indicated. Studies show a sustainable effect for these concepts. Modern pain medicine goes far beyond analgesic medication und consists mainly in a structured somatopsychic diagnoses, e.g. a neuro-orthopaedic-functional physical exploration and a psychologic exploration, leading to a holistic treatment concept. The concept is orientated mainly active, but interventions could be a complement rather than a contradiction.

Keywords: Chronic pain, multimodal therapy, osteopathy, fascia distortion model

Citation: Böger A: Interdisciplinary multimodal pain therapy. Gold standard for chronic back pain?
OUP 2021; 10: 231–234. DOI 10.3238/oup.2021.0231–0234

Vitos Orthopädische Klinik Kassel

Einleitung

Moderne Schmerzmedizin beinhaltet neben der Schmerztherapie auch eine präzise Befunderhebung, die unter anderem eine ausführliche neuroorthopädisch-funktionelle und eine psychische Untersuchung mit einschließt. Muskuloskelettale Schmerzen sind bei Weitem der häufigste Grund für die Konsultation eines Schmerztherapeuten. In den westlichen Industrienationen ist von einer Lebenszeitprävalenz für Rückenschmerzen zwischen 58 % und 85 % auszugehen. Vorsichtige Schätzungen der Gesamtkosten, also der direkten Kosten durch die medizinische Versorgung sowie indirekte Kosten durch Arbeitsausfälle und/oder Berentung, werden mit 400–7000 Euro pro Patient und Jahr beziffert. Summa summarum lassen sich jährliche Kosten von über 50 Milliarden Euro alleine in Deutschland hochrechnen. 15 % aller Arbeitsunfähigkeitstage, 18 % aller Frühberentungen und 6 % aller direkten Krankheitskosten können auf „Kreuzschmerzen“ zurückgeführt werden [7]. Mit steigendem Chronifizierungsgrad vervielfachen sich oft die Kosten [8]. Ebenso führen komorbide psychische Erkrankungen und eine neuropathische Schmerzkomponente zu einem disproportionalen Kostenanstieg [2].

Stärkster Prädiktor der Chronifizierung von Rückenschmerzen ist die depressive Stimmungsstörung [4]. Darüber hinaus wird vor allem maladaptiven Coping-Strategien wie ängstlicher Bewegungsvermeidung (Kinesiophobie, „fear avoidance behaviour“), aber auch Durchhaltestrategien trotz zunehmender Erschöpfung ein großer Einfluss auf die Chronifizierung bescheinigt [3]. Bei der Identifizierung eines chronifizierenden Krankheitsverlaufs können standardisierte Fragebögen hilfreich sein. Zusätzliche „yellow flags“ sind geringe Arbeitszufriedenheit, niedriger sozialer Status, passiver Lebensstil, Katastrophisierungsneigung und belastende Lebenserfahrungen. Selbstkritisch ist in diesem Zusammenhang auch an eine iatrogene Schmerzchronifizierung zu denken, die durch schlechte Kommunikation („Ihre Wirbelsäule ist kaputt“) und Noceboeffekte induziert ist [6].

Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz

Die im März 2010 nach einem längeren Konsensusprozess veröffentlichte Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz (der Begriff „Kreuzschmerz“ ist synonym mit „Rückenschmerz“ zu verstehen), die gemeinsam von der AWMF, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Bundesärztekammer herausgegeben wurde, wurde im März 2017 aktualisiert. Sie beschreibt in der Langfassung auf 108 Seiten Definition, Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Rehabilitation akuter und chronischer Rückenschmerzen (www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinien.de). Sie bietet ein einfaches gestuftes Therapiekonzept, das sowohl für akute als auch für chronische Rückenschmerzen evidenzbasierte Empfehlungen gibt.

Nach der NVL Kreuzschmerz soll in den ersten 4 Wochen bei Fehlen von anamnestischen und klinischen „red flags“ (Tab. 1) auf Bilddiagnostik verzichtet werden, da der zu erwartende Informationsgewinn zu gering ist. Dies muss mit dem Patienten in einem ausführlichen validierenden Gespräch kommuniziert werden. Eine kurzfristige medikamentöse Analgesie kann durchgeführt werden, wenngleich der Nutzen insgesamt als gering bewertet wird. Insbesondere aber soll dem Patienten von Schonung abgeraten werden. Passive Therapien, aber auch Physiotherapie und Osteopathie, sollten zunächst nicht verordnet werden, eine längere Arbeitsunfähigkeit (AU) sollte vermieden werden.

Spätestens wenn die Schmerzen über 12 Wochen mit alltagsrelevanten Einschränkungen (z.B. AU) trotz leitliniengerechter Versorgung persistieren, ist die Indikation für eine multimodale Schmerztherapie zu prüfen. Beim Vorliegen relevanter psychosozialer Risikofaktoren (Tab. 1) sollte die Indikation bereits nach 6 Wochen gestellt werden.

Eine multimodale Therapie ist jedoch im ambulanten Setting außerhalb einiger weniger Programme zur Integrierten Versorgung (IV) schwierig umzusetzen, da sie innerhalb der Regelversorgung nicht abgebildet ist. Oft müssen Patienten, eine entsprechende Indikation vorausgesetzt, lange Wege in die nächstgelegene Schmerzklinik zurücklegen, in der sie voll- oder teilstationär behandelt werden können. Die multimodale Therapie ist keineswegs mit einer ambulanten oder stationären Reha zu vergleichen, die weniger intensiv und präzise ist und andere Schwerpunkte setzt.

Multimodale
Schmerztherapie

Die multimodale Schmerztherapie gilt als „Goldstandard“ der Schmerztherapie und wurde als „gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung nach vorgegebenem Behandlungsplan mit identischem, unter Therapeuten abgesprochenem Therapieziel [1] für Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen“ bezeichnet.

Hauptelement ist zum einen das gleichzeitig gerichtete und gemeinsame Therapieren durch das gesamte Team. Hierzu sind enge Absprachen, z.B. in täglichen Schmerzkonferenzen und Teambesprechungen, notwendig. Zum anderen ist die therapeutische Kleingruppe (maximal 8 Teilnehmer) wichtigste Einheit. Entscheidend ist neben der allgemeinen Aktivierung des Patienten die Motivation zu eigenverantwortlichem Handeln und zum Erlernen von Selbstwirksamkeit. Daher ist eine frühzeitige Einbeziehung des Patienten in die Therapieentscheidungen wünschenswert. Oft müssen hier Ängste, auch Bewegungsängste (Kinesiophobie) und fixierte passive Bewältigungsstrategien („Machen Sie mich gesund!“) überwunden werden. Anders gesagt, setzt eine multimodale Therapie auf Seiten des Patienten eine grundsätzliche Veränderungsmotivation und die Bereitschaft eines selbständigen aktiven Schmerzmanagements voraus. Im Rahmen des multimodalen Programms kann diese Veränderungsmotivation dann zugunsten eines aktiven strukturierten Lernens und später der Aufrechterhaltung neu erlernter Strategien und Fertigkeiten ausgebaut werden [5].

Das teamorientierte Vorgehen bedarf einer sehr guten Organisationsstruktur. Diese betrifft einerseits eine im Gegensatz zu chirurgisch-orthopädischen Settings flache Hierarchie über die verschiedenen Berufsgruppen hinweg. Ein sich in den Vordergrund spielender „Heiler“ – sei es ein Arzt, Psychologe oder Physiotherapeut, der etwa eigenmächtig konfrontiert oder „einrenkt“, ist ausgesprochen kontraproduktiv und kann den gesamten Therapieerfolg gefährden. Auch der leitende Arzt muss hier oft einen Schritt zurücktreten. Andererseits muss auch der Behandlungspfad ausreichend elaboriert und effektiv sein. So muss die Zuweisung „passgenau“ und so verlässlich sein, dass die multimodale Therapie tatsächlich die optimale Behandlungsmethode für diesen Patienten ist – und beispielsweise nicht eine psychosomatische Klinik.

Die Abrechnung der multimodalen Therapie erfolgt nach dem DRG-System (diagnosis related groups), das unter dem OPS8–918 (Operationen- und Prozedurenschlüssel) die Aufnahmekriterien (Kasten Aufnahmekriterien) und die Strukturmerkmale vorgibt (Details unter www.dimdi.de). Es gibt im Wesentlichen 2 verschiedene stationäre DRG, nämlich B42Z bei Krankheiten des Nervensystems, I42Z bei muskuloskelettalen Krankheiten. Im Fallpauschalenkatalog 2016 wird die länger als 14 Tage dauernde multimodale Schmerztherapie endlich höher bewertet, was die Komplexität der chronischen Schmerzkrankheit besser abbildet und falsche ökonomische Anreize mindert.

Im OPS 8–918 werden folgende Anforderungen an die multimodale Schmerztherapie genannt: „... mindestens 3 der folgenden aktiven Therapieverfahren: Psychotherapie, Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Ergotherapie, medizinische Trainingstherapie, sensomotorisches Training, Arbeitsplatztraining, künstlerische Therapie (Kunst- oder Musiktherapie) oder sonstige übende Therapien.“ Bei der multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems nach den Kriterien des ANOA e.V. (OPS 8–977) wird genannt: „... mindestens 3 der folgenden Verfahren: Manuelle Medizin, Reflextherapie, Interventionelle Schmerztherapie, Psychotherapie“ und „... mindestens 3 Verfahren aus (...) Manuelle Therapie und KG auf neurophysiologischer Basis, Medizinische Trainingstherapie, Physikalische Therapie und Entspannungsverfahren.“

Multimodale
Schmerztherapie -
Hands off, Hands on?

Bei der beispielshaften Kasuistik (siehe Kasten Kasuistik), ein Bierbrauer mit lumbalen Rückenschmerzen, sind die Behandlungsziele, neben der Schmerzreduktion, vor allem auch die nachhaltige Veränderung von Coping-Konzepten, die Herstellung von Selbsteffizienz und ein biopsychosoziales Verständnis von Schmerz, das eine, für viele Patienten neue, aktive und salutogenetische Herangehensweise nach sich zieht: „Ich muss etwas tun, damit ich gesund werde.“

Nach der neuroorthopädisch-funktionellen und der psychologischen Untersuchung wird im Team und mit dem Patienten ein befundgerechter Behandlungsplan erstellt. Im physiotherapeutischen Bereich ist die entscheidende Aufgabe, zunächst einige wenige, relevante Maßnahmen und Therapieformen auszuwählen, die den Patienten zurück in die Aktivität bringen. Bewegungsängste müssen abgebaut und passive Bewältigungsstrategien in aktive, kreative Eigenmaßnahmen umgeformt werden. Hier sind insbesondere zu Beginn auch hands on Behandlungstechniken möglich, die aber durch Erlernen von Eigenübungen mit dem Ziel von Selbstwirksamkeitserfahrungen ergänzt und im Verlauf ersetzt werden.

Das Hauptproblem des Patienten waren Schmerzen im Lumbalbereich beim Bücken und Heben von Lasten. Die physiotherapeutische Befundung ergab einen klaren Stabilitätsmangel in der Tiefenstabilität, besonders des M. transversus abdominis und der Mm. multifidi der unteren Segmente, einen hohen globalen Muskeltonus, stark eingeschränkte Beweglichkeit im Lende-Bein-Beckenbereich, einen Finger-Boden-Abstand von 30 cm und ein nicht physiologisches Bewegungsverhalten bei verschiedenen Bewegungsaufträgen wie Bücken und Heben von Lasten. Die Intensität der Schmerzen wurde auf der visuellen Analogskala (VAS) mit 8 angegeben. Das Fernziel des Patienten war eine Wiedereingliederung in den Arbeitsalltag, Nahziele waren schmerzfreies Bücken und Heben.

Das nicht physiologische Bewegungsverhalten und die ausgeprägte Körpersprache des Patienten waren ausschlaggebend für die initiale Behandlung der Faszien nach dem Fasziendistorsionsmodell (FDM) von Typaldos. Wir setzten FDM noch einmal wöchentlich fort und kombinierten dies mit täglicher Krankengymnastik. Das Hauptaugenmerk lag hier auf dem Aufbau der Tiefenstabilisatoren und der Verbesserung der Mobilität. In der weiteren Behandlung wurden Komplexbewegungen erarbeitet und mithilfe des Graded activity programm (GAP) ein speziell für die Bedürfnisse des Patienten angelegter Übungsplan erstellt. Mithilfe des Übungsplans war der Patient schon im Rahmen der stationären Therapie komplett schmerzfrei und in der Lage, die begonnene Therapie eigenverantwortlich durchzuführen.

Eine gute Kombination der Therapien lässt den Patienten Raum, ihr eigenes Mitwirken am Gesundungsprozess und Selbstwirksamkeitserleben als positives Zeichen zu werten, aus der schmerzhaften Ohnmacht mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Fazit für die Praxis

Moderne Schmerzmedizin beinhaltet eine strukturierte somatopsychische Diagnosestellung, um daraus zielgerichtet Konsequenzen zu ziehen. In Deutschland lässt sich bei Patienten mit chronischen Schmerzen im Allgemeinen und Rückenschmerzen im Besonderen hingegen ein unsystematisches und oft von Zufällen geleitetes Vorgehen konstatieren, wie die vorgestellte Kasuistik in typischer Weise zeigt. Ziel der Leitlinienerstellung ist es, den behandelnden Ärzten sinnvolle Algorithmen an die Hand zu geben. Dieses Ziel wird leider oft nicht erreicht – die Leitlinie (NVL) Kreuzschmerz ist hier ein gutes Beispiel. Daher ist anzuregen, dass sich die Leistungserbringer regional besser vernetzen, um im individuellen Behandlungsfall die optimale Behandlung vorzuschlagen. Essenziell scheint insbesondere die befundorientierte Herangehensweise auf der Basis manuell-funktioneller Diagnostik. Unter „Schmerztherapie“ wird in einigen Einrichtungen in Deutschland noch immer eine rein symptomatische und oft unkritische Gabe von Opiaten oder eine vorrangig interventionelle Therapie verstanden, ohne dass eingangs eine seriöse somatopsychische Untersuchung erfolgt.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf: www.online-oup.de

Korrespondenzadresse

Dr. med. Andreas Böger

Vitos Orthopädische Klinik Kassel

gemeinnützige GmbH

Wilhelmshöher Allee 345

34131 Kassel

andreas.boeger@vitos-okk.de

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