Übersichtsarbeiten - OUP 05/2021

Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie
Der Goldstandard bei chronischen Rückenschmerzen?

Hauptelement ist zum einen das gleichzeitig gerichtete und gemeinsame Therapieren durch das gesamte Team. Hierzu sind enge Absprachen, z.B. in täglichen Schmerzkonferenzen und Teambesprechungen, notwendig. Zum anderen ist die therapeutische Kleingruppe (maximal 8 Teilnehmer) wichtigste Einheit. Entscheidend ist neben der allgemeinen Aktivierung des Patienten die Motivation zu eigenverantwortlichem Handeln und zum Erlernen von Selbstwirksamkeit. Daher ist eine frühzeitige Einbeziehung des Patienten in die Therapieentscheidungen wünschenswert. Oft müssen hier Ängste, auch Bewegungsängste (Kinesiophobie) und fixierte passive Bewältigungsstrategien („Machen Sie mich gesund!“) überwunden werden. Anders gesagt, setzt eine multimodale Therapie auf Seiten des Patienten eine grundsätzliche Veränderungsmotivation und die Bereitschaft eines selbständigen aktiven Schmerzmanagements voraus. Im Rahmen des multimodalen Programms kann diese Veränderungsmotivation dann zugunsten eines aktiven strukturierten Lernens und später der Aufrechterhaltung neu erlernter Strategien und Fertigkeiten ausgebaut werden [5].

Das teamorientierte Vorgehen bedarf einer sehr guten Organisationsstruktur. Diese betrifft einerseits eine im Gegensatz zu chirurgisch-orthopädischen Settings flache Hierarchie über die verschiedenen Berufsgruppen hinweg. Ein sich in den Vordergrund spielender „Heiler“ – sei es ein Arzt, Psychologe oder Physiotherapeut, der etwa eigenmächtig konfrontiert oder „einrenkt“, ist ausgesprochen kontraproduktiv und kann den gesamten Therapieerfolg gefährden. Auch der leitende Arzt muss hier oft einen Schritt zurücktreten. Andererseits muss auch der Behandlungspfad ausreichend elaboriert und effektiv sein. So muss die Zuweisung „passgenau“ und so verlässlich sein, dass die multimodale Therapie tatsächlich die optimale Behandlungsmethode für diesen Patienten ist – und beispielsweise nicht eine psychosomatische Klinik.

Die Abrechnung der multimodalen Therapie erfolgt nach dem DRG-System (diagnosis related groups), das unter dem OPS8–918 (Operationen- und Prozedurenschlüssel) die Aufnahmekriterien (Kasten Aufnahmekriterien) und die Strukturmerkmale vorgibt (Details unter www.dimdi.de). Es gibt im Wesentlichen 2 verschiedene stationäre DRG, nämlich B42Z bei Krankheiten des Nervensystems, I42Z bei muskuloskelettalen Krankheiten. Im Fallpauschalenkatalog 2016 wird die länger als 14 Tage dauernde multimodale Schmerztherapie endlich höher bewertet, was die Komplexität der chronischen Schmerzkrankheit besser abbildet und falsche ökonomische Anreize mindert.

Im OPS 8–918 werden folgende Anforderungen an die multimodale Schmerztherapie genannt: „... mindestens 3 der folgenden aktiven Therapieverfahren: Psychotherapie, Physiotherapie, Entspannungsverfahren, Ergotherapie, medizinische Trainingstherapie, sensomotorisches Training, Arbeitsplatztraining, künstlerische Therapie (Kunst- oder Musiktherapie) oder sonstige übende Therapien.“ Bei der multimodalen Komplexbehandlung des Bewegungssystems nach den Kriterien des ANOA e.V. (OPS 8–977) wird genannt: „... mindestens 3 der folgenden Verfahren: Manuelle Medizin, Reflextherapie, Interventionelle Schmerztherapie, Psychotherapie“ und „... mindestens 3 Verfahren aus (...) Manuelle Therapie und KG auf neurophysiologischer Basis, Medizinische Trainingstherapie, Physikalische Therapie und Entspannungsverfahren.“

Multimodale
Schmerztherapie -
Hands off, Hands on?

Bei der beispielshaften Kasuistik (siehe Kasten Kasuistik), ein Bierbrauer mit lumbalen Rückenschmerzen, sind die Behandlungsziele, neben der Schmerzreduktion, vor allem auch die nachhaltige Veränderung von Coping-Konzepten, die Herstellung von Selbsteffizienz und ein biopsychosoziales Verständnis von Schmerz, das eine, für viele Patienten neue, aktive und salutogenetische Herangehensweise nach sich zieht: „Ich muss etwas tun, damit ich gesund werde.“

Nach der neuroorthopädisch-funktionellen und der psychologischen Untersuchung wird im Team und mit dem Patienten ein befundgerechter Behandlungsplan erstellt. Im physiotherapeutischen Bereich ist die entscheidende Aufgabe, zunächst einige wenige, relevante Maßnahmen und Therapieformen auszuwählen, die den Patienten zurück in die Aktivität bringen. Bewegungsängste müssen abgebaut und passive Bewältigungsstrategien in aktive, kreative Eigenmaßnahmen umgeformt werden. Hier sind insbesondere zu Beginn auch hands on Behandlungstechniken möglich, die aber durch Erlernen von Eigenübungen mit dem Ziel von Selbstwirksamkeitserfahrungen ergänzt und im Verlauf ersetzt werden.

Das Hauptproblem des Patienten waren Schmerzen im Lumbalbereich beim Bücken und Heben von Lasten. Die physiotherapeutische Befundung ergab einen klaren Stabilitätsmangel in der Tiefenstabilität, besonders des M. transversus abdominis und der Mm. multifidi der unteren Segmente, einen hohen globalen Muskeltonus, stark eingeschränkte Beweglichkeit im Lende-Bein-Beckenbereich, einen Finger-Boden-Abstand von 30 cm und ein nicht physiologisches Bewegungsverhalten bei verschiedenen Bewegungsaufträgen wie Bücken und Heben von Lasten. Die Intensität der Schmerzen wurde auf der visuellen Analogskala (VAS) mit 8 angegeben. Das Fernziel des Patienten war eine Wiedereingliederung in den Arbeitsalltag, Nahziele waren schmerzfreies Bücken und Heben.

Das nicht physiologische Bewegungsverhalten und die ausgeprägte Körpersprache des Patienten waren ausschlaggebend für die initiale Behandlung der Faszien nach dem Fasziendistorsionsmodell (FDM) von Typaldos. Wir setzten FDM noch einmal wöchentlich fort und kombinierten dies mit täglicher Krankengymnastik. Das Hauptaugenmerk lag hier auf dem Aufbau der Tiefenstabilisatoren und der Verbesserung der Mobilität. In der weiteren Behandlung wurden Komplexbewegungen erarbeitet und mithilfe des Graded activity programm (GAP) ein speziell für die Bedürfnisse des Patienten angelegter Übungsplan erstellt. Mithilfe des Übungsplans war der Patient schon im Rahmen der stationären Therapie komplett schmerzfrei und in der Lage, die begonnene Therapie eigenverantwortlich durchzuführen.

Eine gute Kombination der Therapien lässt den Patienten Raum, ihr eigenes Mitwirken am Gesundungsprozess und Selbstwirksamkeitserleben als positives Zeichen zu werten, aus der schmerzhaften Ohnmacht mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Fazit für die Praxis

Moderne Schmerzmedizin beinhaltet eine strukturierte somatopsychische Diagnosestellung, um daraus zielgerichtet Konsequenzen zu ziehen. In Deutschland lässt sich bei Patienten mit chronischen Schmerzen im Allgemeinen und Rückenschmerzen im Besonderen hingegen ein unsystematisches und oft von Zufällen geleitetes Vorgehen konstatieren, wie die vorgestellte Kasuistik in typischer Weise zeigt. Ziel der Leitlinienerstellung ist es, den behandelnden Ärzten sinnvolle Algorithmen an die Hand zu geben. Dieses Ziel wird leider oft nicht erreicht – die Leitlinie (NVL) Kreuzschmerz ist hier ein gutes Beispiel. Daher ist anzuregen, dass sich die Leistungserbringer regional besser vernetzen, um im individuellen Behandlungsfall die optimale Behandlung vorzuschlagen. Essenziell scheint insbesondere die befundorientierte Herangehensweise auf der Basis manuell-funktioneller Diagnostik. Unter „Schmerztherapie“ wird in einigen Einrichtungen in Deutschland noch immer eine rein symptomatische und oft unkritische Gabe von Opiaten oder eine vorrangig interventionelle Therapie verstanden, ohne dass eingangs eine seriöse somatopsychische Untersuchung erfolgt.

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