Übersichtsarbeiten - OUP 01/2016

Klassifikation der Tuberculum majus-Frakturen
Abriss- vs. AbscherfrakturAvulsion-fracture vs. shear-fracture

Zur Interpretation der Ergebnisse bedarf es der Berücksichtigung der Anatomie des Tuberculum majus und der ansetzenden Sehnen der Rotatorenmanschette. Das Tuberculum majus besteht aus 3 verschiedenen Facetten [20], oder auch Impressionen genannt, von anterior nach posterior gesehen: die superiore, mittlere und inferiore Facette. Minagawa [31] bestimmte die Ansätze des M. supraspinatus und M. infraspinatus am Tuberculum majus. Der M. supraspinatus entspringt an der Fossa suprascapularis und inseriert am Tuberculum majus. Der M. subscapularis hat seinen Ursprung anterior der Skapula und inseriert am Tuberculum minus. Der M. infraspinatus entspringt posterior der Skapula unterhalb der Spina scapulae und inseriert am posterioren Anteil des Tuberculum majus. Der M. teres minor kommt von unterhalb des M. infraspinatus und inseriert ebenfalls am Tuberculum majus.

Zu berücksichtigen ist eine gewisse Variabilität des distalen Ansatzes der Rotatoren mit einer anterioren Ausdehnung der Infraspinatussehne über die superiore Facette hinaus und eine anteriore Ausdehnung der Supraspinatussehne zum Tuberculum minus [32].

Histologische Analysen der Supraspinatus- und Infraspinatus-Sehnen und anhängender Strukturen zeigen einen Komplex, der aus 5 verschiedenen Lagen besteht. Die oberflächlichste Schicht besteht aus Fasern des korakohumeralen Ligaments. Schicht 2 besteht aus eng gepackten, parallelen Sehnenbündeln des M. supraspinatus und M. infraspinatus. Schicht 3 wird gebildet aus kleineren Sehnenbündeln, die sich kreuzen bei einem Winkel von etwa 45°. Schicht 4 ist aus vorherrschend extrakapsulärem losem Bindegewebe zusammengesetzt, das sich vorne mit dem tieferen Aspekt des korakohumeralen Ligaments verbindet. Schicht 5 besteht aus der Kapsel, die tief zu den Supra- und Infraspinatussehnen verdickt ist durch einen Gewebsstreifen, der senkrecht zur Längsachse der Sehnenfasern steht. Diese Region wird weitergeleitet zum sogenannten Rotatorenkabel, während das dünnere Rotatorengewebe seitlich zu diesem Gebiet „Rotatorencrescent“ (Rotatorenhalbmond) genannt wird [40].

Die Sehnen des M. supraspinatus und M. infraspinatus bilden an ihrem Ansatz am Tuberculum majus den Rotatorenhalbmond. Dieser umfasst die avaskuläre Zone dieser beiden Sehnen (Abb. 4). Der Rotatorenhalbmond wird vom Rotatorenkabel begrenzt, welches aus dicken Faserbündeln besteht, die mehr als die doppelte Dicke des Rotatorenhalbmonds besitzen. Dies ist anterior im Bereich der Subskapularis-Sehne und posterior im Bereich der inferioren Infraspinatussehne am Humerus befestigt und verteilt so die Kraft der Rotatorenmanschette analog einer Hängebrücke [5]. Kritisch ist die Kraft, die auf diese Punkte einwirkt, und ob diese Kraft ausreicht, das Ausmaß des Risses auszudehnen. In neueren Studien erhält man Hinweise darauf, dass das Rotatorenkabel, das in den vorderen 8–12 mm des Supraspinatus liegt, die primäre lasttragende Komponente innerhalb des Muskels ist und Risse im Rotatorenkabel z.T. deutlich weiter dislozieren als Risse im Rotatorenhalbmond [30, 1, 22, 29, 25, 7].

Eine biomechanische Untersuchung [8, 35] befasste sich mit der Reißfestigkeit der Supraspinatussehne. Dabei wurde ein knöchernes Versagen von einem rein weichteilbedingten Versagen unterschieden. Eine ähnliche Beziehung wurde zwischen Steifigkeit der Sehne und dem Alter der Präparate festgestellt, sodass von Veränderungen im Sehnengewebe ausgegangen werden kann, die sich in Abnahme der Zugbelastbarkeit und Steifigkeit in zunehmendem Lebensalter äußern [39, 43].

In einer neueren Studie zur Reißfestigkeit der Supraspinatussehne am Menschen tritt ein rein knöchernes Versagen (knöcherner Sehnenausriss = Avulsion des M. supraspinatus) in 68 % auf, ein Versagen der Sehne nur in ca. 32 %. In 82 % dominierte ein ventraler Ausriss der Sehne, die den Großteil der Zugkräfte überträgt und in diesem Teil ausgedehnte Kollagenfaserbündel verlaufen. Die Sehne hat eine mittlere Zugbelastung von über 1000 N [39].

Aufgrund dieser anatomischen Voraussetzungen unterscheiden wir 2 Mechanismen, die zu den vorherrschenden Tuberculum-majus-Typen Fraktur/Avulsion führen. Hauptunterscheidungskriterium ist dabei die Intaktheit der superioren Facette.

Bei Typ I mit nicht intakter superiorer Facette ist am ehesten von einem Abrissmechanismus auszugehen, bedingt durch die Struktur der Rotatorenmanschette und deren Ansatzpunkte wie oben dargestellt.

Durch den nicht flächigen Ansatz kommt es zu 2 Kraftpunkten, an denen Zug und Druckkräfte wirken und so zum Ausriss und bevorzugt zu mehrfragmentären Frakturen führen. Dabei können, wie im Hängebrückenmodell (Abb. 5) beschrieben, einzelne Fragmente abgerissen werden, vergleichbar mit den Aufhängekabeln der Hängebrücke. Daraus resultiert, dass einzelne Fragmente aufgrund der Zweipunktaufhängung entstehen.

Zu vergleichen sind diese Ausrisse mit der von Bhatia [3] genannten „bony PASTA“ Läsion („partial articular surface tendon avulsion“) eines knöchernen Teilausrisses von gelenkseitigen Sehnenanteilen, allerdings in größerem Ausmaß [3].

Es ist die bereits genannte Theorie zu befürworten, dass es durch den starken Zug auf die Rotatoren durch eine reflektorische Anspannung als Schutzmechanismus oder alternativ durch Überdehnung der Rotatorensehnen aufgrund des gewaltsam nach vorne gezogenen Humerus zum Abriss des Tuberculum majus kommt, entsprechend einem mehrfragmentären knöchernen Ausriss an den Sehnenansätzen und dann entsprechender Dislokation der Fragmente, die sich ähnlich einer Rotatorenmanschettenruptur verhalten [41].

Komplette Rotatorenmanschettenrisse in Zusammenhang mit Tuberculum-majus-Frakturen sind in Arbeiten zu Tuberculum-majus-Frakturen und Rotatorendefekten nicht beschrieben. Es wird angenommen, dass ein kompletter Rotatorenabriss eine Fraktur ausschließt [28, 38].

Typ II ist als Abscherfraktur zu werten. Charakteristische Eigenschaften sind die glatte Kontur an der superioren Facette des Tuberculum majus sowie die vorherrschende Form der Einfragmentfrakturen und insgesamt größeren Fragmente. Die intakten Sehnenansatzflächen, insbesondere an der superioren Facette, sprechen in diesem Fall gegen einen Abriss. Die Rotatorenmanschette hat dabei keinen Einfluss. Ein Vorherrschen dieser Frakturform war bei uns vor allem bei den isolierten Frakturen ohne Schulterluxation zu beobachten. Insofern erscheint der häufig beschriebene Mechanismus eines Abscherens am Glenoid während der Luxation nicht die einzige Variante zu sein. Zu diskutieren sind auch ein schräger Anprall am Akromion oder ein Anprall direkt auf die Schulter.

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