Originalarbeiten - OUP 01/2016

Modulare, schaftfreie, metaphysär press-fit verankerte anatomische und inverse Schulterendoprothetik mittels TESS-System: Ein sinnvolles Konzept?

Bei der typischen Defektarthropathie mit dezentriertem Humerus und pseudoparalytischer Schulterfunktion ermöglicht die inverse Schulterendoprothese eine deutliche Funktionsverbesserung mit einer nahezu vollständigen Schmerzfreiheit [17]. Hierbei führt die Implantation einer inversen Prothese zu einer Umkehrung der Gelenkflächen, die eine weitere Dezentrierung des Humeruskopfs entlang des Glenoids nach oben verhindert. Dies bewirkt typische Änderungen der Gelenkgeometrie mit einer Absenkung des Humerus sowie einer Medialisierung des Rotationszentrums. Diese Medialisierung ermöglicht bei der aktiven Bewegung des Schultergelenks die Rekrutierung zusätzlicher Segmente des Deltamuskels. Die Absenkung des Humerus erhöht die Vorspannung des Deltamuskels. Diese veränderte Biomechanik kann bei der Defektarthropathie das Fehlen der Rotatorenmanschette effektiv kompensieren [18, 19]. Somit ist die irreparable Rotatorenmanschettenruptur mit bestehender Defektarthropathie sicherlich die Hauptindikation zur Implantation einer inversen Schulterendoprothese [17, 18]. Nachdem eine Vielzahl an Erkrankungen der Schulter mit Pathologien der Rotatorenmanschette einhergehen, werden heute neben der klassischen Defektarthropathie [18, 19] inverse Schulterprothesen auch bei massiven, irreparablen Rotatorenmanschettenrupturen ohne relevante Arthrosen mit guten Ergebnissen eingesetzt [20], bei rheumatoider Arthritis in Kombination mit Manschettendefekten [21], bei schlechten klinischen Ergebnissen nach Hemi- und Totalendoprothesenimplantation [22–24], bei Tumorleiden [25], bei posttraumatischen Folgezuständen mit schlechtem klinischen Outcome [23] sowie bei frischen proximalen Humerusfrakturen des eher älteren Menschen [26]. Entsprechend werden in einigen Zentren, wie auch in unserer Klinik, anteilmäßig doch mehr inverse Prothesen als anatomische Schulterarthroplastiken implantiert.

Betrachtet man sowohl bei den Primärversorgungen als auch bei den Revisionen die enorm zunehmende Zahl an inversen Schulterprothesen [27], so sind sicherlich auch hier knochensparende Konzepte von Interesse. Im Bereich der inversen Schulterendoprothetik ist das TESS-System das erste und somit am besten untersuchte schaftfreie System [1–5], das wir sowohl in der inversen und auch in der anatomischen Versorgung recht häufig zur endoprothetischen Versorgung verwenden.

Das TESS-System

Charakteristisch für das TESS-System ist die Corolla, die sich innerhalb der präparierten Spongiosa, aber auch peripher, nahe dem kortikalen Knochen verankert (Abb. 1). Somit wird die Corolla in der Regel press-fit in die Metaphyse eingeschlagen. Dabei besteht die inverse Corolla gegenüber der anatomischen Variante aus einem schalenähnlichen Metallblock, in dem das inverse Polyethlyen in verschiedenen Höhen aufgenommen werden kann. Diese Art der metaphysären Verankerung unterscheidet sich deutlich von zentralen Verankerungskonzepten, wie z.B. der zentralen Hohlschraube bei der Eclipse Prothese (Arthrex) oder der Simpliciti Prothese (Tornier) mit dem sich wiederum eher zentral verankernden 3-schenkligen Kreuz [28]. Je nach Knochensituation kann die Corolla bzw. die inverse Corolla mit einem Stil verlängert und distal auch einzementiert werden. Ähnlich wie bei anderen Systemen kann der zentrale Zapfen am Glenoid verlängert werden. Eine weitere Besonderheit des TESS-Systems ist, dass es sich um ein hochmodulares System handelt. So kann der Operateur sich je nach Bedarf für eine anatomische Hemi- oder Totalprothese oder für eine inverse Prothese entscheiden. Je nach Knochensituation ist es möglich, die Prothesen mit oder ohne Schaft zu implantieren. Alternativ zu den zementierten Polyethylenglenoiden kann innerhalb der Versorgung mit einer anatomischen TESS-Endoprothese auch ein Metal-back Glenoid gewählt werden (Abb. 1, Abb. 3). Hierbei zeichnet sich die Basisplatte neben dem zentralen Zapfen zur Knochenverankerung sowie winkelstabilen Schrauben oder optionalen Spikes zur optimierten Befestigung aus. Zudem besitzt das TESS-System eine Doppelbeschichtung, die neben einer porösen Titanlegierung (Ti6AL4V) aus einer Hydroxylapatitbeschichtung besteht. Somit hat das Metal-back Glenoid der TESS-Prothese die Eigenschaften, die sich trotz der in älteren Studien bekanntermaßen kritischen Datenlage [29, 30], in aktuelleren Studien doch durch vergleichsweise lange Überlebenszeiten auszeichnen [31, 32]. Ein weiterer Vorteil ist, dass diese Basisplatte auch für die inverse Prothese verwendet werden kann. Dies macht im Revisionsfall einen Wechsel von einer anatomischen auf eine inverse Prothese ohne Wechsel der Basisplatte realisierbar.

Wird die anatomische
oder inverse
Gelenkgeometrie erreicht?

Ziel der anatomischen Prothese ist ein möglichst genauer Erhalt der Gelenkgeometrie. Hingegen sollte eine optimale inverse Versorgung mittels Distalisierung und Medialisierung von Humerus und Rotationszentrum die funktionell günstigen Änderungen von Hebelarm sowie Vorspannung des Deltamuskels ermöglichen. In einigen unserer Fälle haben wir für die Auswertung der Gelenkgeometrie die prä- und postoperativen Röntgenbilder der betroffenen Schultern mit dem Programm MediCAD vermessen. Bei den präoperativen Röntgenbildern wurden Maßstabkugeln und bei den postoperativen Röntgenbildern die Prothesengrößen zur Skalierung verwendet (Abb. 2). Gemessen wurde die akromiohumerale Distanz, als kürzeste Verbindung von Akromion und Humeruskopf; das humerale Offset, als der Abstand von der lateralen Grenze des Tuberculum majus zum Rotationszentrum; das laterale glenohumerale Offset als der Abstand von der Basis des Korakoids zur lateralen Grenze des Tuberculum majus und die Höhe des Rotationszentrums in Beziehung zur unteren Kante des Glenoids. Zudem wurde der Hals-Schaft-Winkel prä- und postoperativ gemessen, der als der mediale Winkel zwischen der Schaftachse und einer Senkrechten zum anatomischen Hals bzw. der humeralen Osteotomie definiert ist (Abb. 4).

In einer Fallserie mit 75 mit einer inversen TESS versorgten Patienten, sahen wir für alle Parameter signifikante Veränderungen der Gelenkgeometrie. In der Literatur findet sich zur Medialisierung des Rotationszentrums nach inverser Prothese eine Streuweite zwischen 8 und 20 mm [18, 33–35]. Bei unseren mittels inverser TESS versorgten Patienten betrug die Medialisierung, die sich aus der Summe der humeralen Offsetzunahme (im Mittel 13,8 mm) und der Abnahme des lateralen glenohumeralen Offset (im Mittel 5,9 mm) errechnet, im Mittel knapp 20 mm. Daher kann in unseren Fallserien von einer ausreichenden Erweiterung des Hebelarms des Deltamuskels ausgegangen werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang einige Studien, die zeigen konnten, dass eine Erweiterung des Hebelarms mit einer signifikanten Besserung der aktiven Beweglichkeit der Schulter assoziiert ist [18, 32]. Eine Medialisierung des Humerus führt auch zu einer Reduktion der Vorspannung und damit zu einer geringeren Effektivität des Deltamuskels. Um dieses Problem und auch mögliche Instabilitäten zu vermeiden, benötigt jede inverse Versorgung auch eine ausreichende Distalisierung des Humerus. Diese Distalisierung lässt sich durch eine Erhöhung der akromiohumeralen Distanz beschreiben. Die Erhöhung der akromiohumeralen Distanz betrug in unserer Serie im Mittel 16,1 mm. Dies liegt wiederum im oberen Range der Literatur [4, 18, 34, 36–38], sodass eine erfolgreiche Erhöhung der Deltavorspannung mit einer entsprechenden Funktionsverbesserung der Schulter und eine gute Stabilität der medialisierten Schulter zu erwarten ist. Ein Teil dieser Distalisierung sollte hierbei durch eine möglichst distale Positionierung der Basisplatte erreicht werden. Dies entspricht der Höhe des Rotationzentrums über der Unterkante des Glenoids. In unserer Fallserie verringerte sich dieser Wert nach Prothesenimplantation signifikant um im Mittel 4,3 mm. Dies entspricht in etwa den Messungen von Boileau et al. [18], die im Mittel eine ähnliche Distalisierung von ca. 4 mm beschrieben haben. All diese signifikanten Messergebnisse zur Medialisierung und Distalisierung zeigen, dass das mit dem TESS-Schultersystem die für die inversen Prothesen typischen und funktionell günstigen Änderungen des Hebelarms und auch der Vorspannung des Deltamuskels erreicht werden können.

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