Übersichtsarbeiten - OUP 10/2018

Neuropathischer Schmerz in der muskuloskelettalen Schmerztherapie
Ein UpdateAn update

Das Vorliegen einer Neuropathie ist immer dann plausibel, wenn Sensibilitätsstörungen einem neuroanatomisch nachvollziehbaren Verteilungsmuster entsprechen [16].

Peripher: Mono-/Polyneuropathie,
radikuläre Läsion, Plexusläsion

Zentral: spinale, zerebrale Läsionen (vor allem Hirnstamm, Thalamus)

Allerdings bedeutet der Nachweis einer Nervenschädigung nicht automatisch, dass auch ein neuropathischer Schmerz vorliegt, da Patienten mit schmerzlosen Neuropathien auch an nozizeptiven (insbesondere muskuloskelettalen) Schmerzen in diesem Areal leiden können. Das gleichzeitige Vorliegen von nozizeptiven und neuropathischen Schmerzanteilen wird als „mixed pain syndrome“ bezeichnet (s. unten) [1].

Aufgrund der Nervenschädigung können bei neuropathischen Schmerzsyndromen in der Regel somatosensorische Veränderungen in Form von mechanischer und/oder thermischer Hypästhesie (sensible Minuszeichen) oder Hyperalgesie/Allodynie (sensible Pluszeichen) nachgewiesen werden, die häufig nebeneinander und in unterschiedlichen Kombinationen vorliegen (Tab. 3). Die klinische Untersuchung erlaubt mithilfe einfacher Bedside-Tests den qualitativen Nachweis der o.g. sensiblen Defizite und deren Ausbreitung/ Verteilungsmuster.

Das Areal der Sensibilitätsstörung kann hierbei mit dem schmerzhaften Areal überlappen, bedingt durch zentrale Sensibilisierungsprozesse über das Areal hinausreichen oder nur einem Teilbereich entsprechen. Ein Sensibilitätsverlust ist in der Regel erforderlich, in der klinischen Untersuchung (Bedside-Test) können jedoch die Übererregbarkeitsphänomene die einzigen sensiblen Auffälligkeiten darstellen.

Mit einem kalten Reflexhammer lässt sich beispielsweise die Kältedetektion im schmerzhaften Areal und einem spiegelbildlichen Kontrollareal untersuchen. Dieser nicht-schmerzhafte Reiz wird über dünn myelinisierte A?-Fasern vermittelt, die über den spinothalamischen Trakt zum Thalamus projizieren. Insofern weist ein über dem schmerzhaften Areal vermindertes Kälteempfinden auf eine Läsion entlang dieser neuroanatomischen Achse hin. Die gleiche Annahme gilt für die Wahrnehmung von Wärme, die über nicht-myelinisierte C-Fasern vermittelt wird.

Die Warmempfindung kann z.B. mit einem Reagenzglas – gefüllt mit warmen Wasser – qualitativ untersucht werden.

Der Hitze und Kälteschmerz sowie weitere mechanisch evozierte Schmerzen werden über andere C-Fasern und auch A?-Fasern vermittelt, die ebenfalls über den spinothalamischen Trakt des Rückenmarks zum Thalamus und nachgeschalteten Kortexarealen projizieren. Diese Funktionen können mit Reagenzgläsern, gefüllt mit heißem oder kaltem Wasser, getestet werden (Tab. 3). Im Gegensatz hierzu werden Berührungsreize und Vibration über dick-bemarkte A?-Fasern vermittelt, die weiter über das lemniskale System (Hinterstränge des Rückenmarks) zu höheren Gehirnzentren projizieren. Klinische Tests umfassen z.B. die Propriozeptionstestung und das Vibrationsempfinden.

Neben Ausfallserscheinungen im somatosensorischen System sollte zusätzlich nach weiteren Defiziten im Bereich des motorischen Systems, der Reflexe und autonomer Funktionen gesucht werden. Dies erlaubt einerseits eine genauere Topodiagnostik, andererseits ist besonders die Untersuchung des motorischen Systems wichtig, um zusätzlich oder isoliert vorliegende, nicht-neuropathische Schmerzkomponenten beispielsweise durch spastische oder rigorartige Tonuserhöhung zu erkennen.

Wie bereits erwähnt, liegen bei neuropathischen Schmerzen sensible Minus- und Pluszeichen nebeneinander vor. Interessanterweise ist dieses typische Merkmal neuropathischer Schmerzsyndrome unabhängig von der zugrundeliegenden Diagnose/Ätiologie. Dies konnte mithilfe quantitativer Untersuchungen der Funktionen des somatosensorischen Systems, der quantitativen sensorischen Testung (QST) nachgewiesen werden [7] (Abb. 3).

Die quantitative sensorische Testung (QST) stellt eine standardisierte Erweiterung der klinisch-neurologischen Untersuchung dar und wird zunehmend in der klinischen Routine bei Verdacht auf eine Neuropathie bzw. eine neuropathische Schmerzkomponente eingesetzt. Im Gegensatz zu konventionellen elektrophysiologischen Verfahren (Neurografie, somatosensorisch-evozierte Potenziale), die die Funktion dick-bemarkter A?-Fasern abbilden, erlaubt die QST auch die Beurteilung der Funktion von C- und A?-Fasern (Tab. 3).

Abgrenzung neuropathischer von nicht-neuropathischen Schmerzen oder Schmerzkomponenten bei neurologischen Erkrankungen

Während neuropathischer Schmerz definitionsgemäß eine direkte Folge einer Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Systems darstellt, kann nozizeptiver Schmerz auch sekundär bei verschiedenen neurologischen und nicht-neurologischen Erkrankungen auftreten. So können Schmerzen bei neurologischen Erkrankungen sowohl aufgrund einer Schädigung des motorischen als auch des somatosensorischen Systems entstehen.

Sekundäre Schmerzen aufgrund einer Schädigung des motorischen Systems beinhalten z.B. schmerzhafte spastische Muskeltonuserhöhung bei Schädigung des ersten Motoneurons (z.B. bei multipler Sklerose oder zerebraler Ischämie) oder eine vermehrte Muskelsteifigkeit (Rigor) und resultierender Fehlhaltungen bei extra-pyramidalen Erkrankungen (z.B. Morbus Parkinson [17]). Nozizeptive Schmerzen können auch in Arealen mit Sensibilitätsstörungen vorliegen, wie z.B. Schulterschmerz aufgrund einer Reizung der Rotatorenmanschette bei einem Schlaganfallpatienten auf der von der sensomotorischen Hemiparese betroffenen Körperhälfte. Bei Propriozeptionsstörungen und Hypästhesien im Rahmen einer Polyneuropathie können aufgrund der unphysiologischen Bewegungsabläufe Mehr- und Fehlbelastungen der Haltemuskulatur auftreten (vor allem im Bereich der Unterschenkel, Fußsohle i.S. einer Plantarfasziitis), die zu muskuloskelettalen/myofaszialen Schmerzen führen können.

Häufig sind myofasziale Triggerpunkte nachweisbar als Hinweis auf ein myofasziales Schmerzsyndrom oder Schmerzkomponente, die zwar durch die Neuropathie getriggert wird, aber eben nicht direkt aus der Nervenschädigung resultiert [7] .

Klinische Charakteristika myofaszialer Schmerzen

Myofasziale Schmerzen stellen eine Sonderform muskuloskelettaler Schmerzen dar, die durch lokale und übertragene Schmerzen („referred pain“) und dem Vorliegen myofaszialer Triggerpunkte (TrPs) gekennzeichnet sind (Tab. 4). Bei der Palpation der TrPs kann die Schmerzsymptomatik bei den Patienten reproduzierbar ausgelöst werden. Der Schmerz wird nicht nur lokal erlebt, sondern hat einen ausstrahlenden Charakter (Tab. 4) [15]. Dies wird als übertragener Schmerz oder referred pain bezeichnet und ist – bedingt durch die Konvergenz von primären Nozizeptoren auf sekundäre Neurone auf spinaler Ebene – ähnlich dem ausstrahlenden Schmerz bei Myokardinfarkten. Dieser Schmerz kann differenzialdiagnostisch schwer von neuropathischen Schmerzen abzugrenzen sein, die in das Innervationsgebiet projiziert werden (z.B. bei radikulären Läsionen) [13].

Da sowohl neuropathische als auch myofasziale Schmerzen einen ausstrahlenden Charakter aufweisen können, stellt die Abgrenzung beider Schmerzkomponenten eine differenzialdiagnostische Herausforderung dar.

SEITE: 1 | 2 | 3