Übersichtsarbeiten - OUP 03/2018

Osteoporose-assoziierte Fragilitätsfrakturen des Beckenrings*

Ludwig Oberkircher1, Steffen Ruchholtz1, Pol Maria Rommens2, Alexander Hofmann3, Benjamin Bücking1, Antonio Krüger1

Zusammenfassung

Hintergrund: Die Inzidenz der Osteoporose- assoziierten Beckenringfrakturen bei Patienten von über 60 Jahren wird in Deutschland mit 224/100.000 pro Jahr angegeben, wobei diese weiter zunimmt. Bezüglich der operativen Therapie sind verschiedene Techniken verfügbar, allerdings fehlen bisher klinische Langzeitdaten.

Methode: Selektive Literatur- und Leitlinienrecherche sowie die klinische Erfahrung der Autoren.

Ergebnisse: Anamnestisch werden häufig ein oder mehrere Bagatelltraumata ermittelt. Die Patienten berichten von Schmerzen im Bereich von Hüfte, Leiste, tieflumbal oder von Beschwerden einer Lumboischialgie. Die neue Klassifikation Fragility Fractures of the Pelvis (FFP) berücksichtigt die besondere Frakturmorphologie und kann als Therapieentscheidungshilfe hinzugezogen werden (Evidenzstufe IV). Ziel der Therapie ist eine zeitnahe Mobilisation unter adäquater Schmerzbehandlung. Die isolierte vordere Beckenringfraktur (FFP I) und die nicht verschobene Fraktur des hinteren Beckenrings (FFP II) sind meist stabil und können konservativ behandelt werden. Verletzungen vom Typ III und IV sind durch Instabilität gekennzeichnet und sollten in der Regel operiert werden.

Schlussfolgerung: Retrospektive Analysen zeigen eine
1-Jahres-Mortalität von 9,5–27 %, eine Abnahme der Mobilität und eine verminderte Selbstständigkeit. Prospektive Therapiestudien sind dringend notwendig.

Schlüsselwörter: Fragilitätsfraktur Becken, osteoporotische
Fraktur, FFP-Klassifikation

Summary

Background: The estimated incidence of osteoporotic pelvic fractures among persons over age 60 in Germany is 224 per 100,000 persons per year, and rising. A number of surgical treatment options are available, but clinical long-term data are lacking.

Method: This review is based on pertinent publications and guidelines retrieved by a selective literature search, and on the authors’ personal experience.

Results: Patients often report one or more relatively trivial traumatic incidents leading up to the fracture. They complain of pain in the hip, groin, or lower lumbar region, or of low back pain and sciatica. A new classification scheme entitled Fragility Fractures of the Pelvis (FFP) takes the morphology of the fracture into account and can be used as an aid to therapeutic decision-making (evidence level IV). The goal of treatment is early mobilization with adequate pain relief. Isolated anterior pelvic ring fractures (FFP I) and nondisplaced posterior pelvic ring fractures (FFP II) are usually stable and can be treated conservatively. Type III and IV injuries are unstable and should generally be treated surgically.

Conclusion: Retrospective analyses have shown that osteoporotic pelvic fractures are associated with decreased mobility and independence and with a one-year mortality ranging from 9.5% to 27%. Prospective therapeutic trials are urgently needed.

Keywords: fragility fracture pelvis, osteoporotic pelvic fracture, FFP-classification

Citation
Oberkircher L, Ruchholtz S, Rommens PM, Hofmann A, Bücking B, Krüger A: Osteoporotic pelvic fractures. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 70–80. DOI: 10.3238/arztebl.2018.0070

Aufgrund des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung kommt es zu einer zunehmenden Häufigkeit und klinischen Relevanz der Osteoporose-assoziierten Insuffizienz- oder Fragilitätsfrakturen des Beckenrings. Die Fragilitätsfraktur wird nach der World Health Organization (WHO) als eine Fraktur definiert, die aufgrund eines inadäquaten Traumas entsteht, das bei normaler Knochensubstanz nicht zu einer knöchernen Verletzung führt. Hierzu kommt es aufgrund einer verminderten Knochenfestigkeit gegenüber Kompressions- und/oder Torsionskräften [1, 2].

Insbesondere die Fragilitätsfrakturen des Beckenrings innerhalb des geriatrischen Patientenkollektivs haben einen wesentlichen Einfluss auf die Lebensqualität sowie Immobilität und stellen uns vor eine Herausforderung bezüglich adäquater Diagnostik, Klassifikation und therapeutischer Möglichkeiten. Gerade in Hinblick auf adäquate Behandlungskonzepte fehlen derzeit noch kontrollierte randomisierte Studien, auf deren Grundlage entsprechende Strategien entwickelt werden können. Dies führt im ambulanten, aber auch stationären Bereich oft zu unzureichender Diagnostik und entsprechender Therapieeinleitung, sodass es bei vielen Patienten zu einem prolongierten Leidensweg durch viele Fachabteilungen kommt. Weiterhin zeigt sich eine Problematik bezüglich der bisherigen Klassifikation der Beckenringfrakturen nach der gebräuchlichen AO(Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen)-Klassifikation, weil sich die Verletzungen des geriatrischen Patientenkollektivs morphologisch deutlich von den Beckenfrakturen jüngerer Patienten unterscheiden. Bezüglich diagnostischer Möglichkeiten, Klassifikation und Therapieoptionen zeigen sich in den letzten Jahren neuere Entwicklungen, die in diesem Artikel auf wissenschaftlicher Grundlage erläutert werden.

Methodik

Auf Basis der klinischen und wissenschaftlichen Erfahrungen der Autoren erfolgte eine selektive Literaturrecherche in PubMed (Suchbegriffe: „fragility fracture pelvis“, „pelvic fracture elderly“, „osteoporotic pelvic fracture“, „insuffiency fracture“) unter Zuhilfenahme der WHO-Leitlinie und weiterer nicht in PubMed gelisteter wissenschaftlicher Veröffentlichungen sowie interner Leitlinien des Zentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg GmbH, Standort Marburg.

Der Leser soll nach Lektüre dieses Beitrags

eine strukturierte Diagnostik bei geriatrischen Beckenringfrakturen durchführen und eine Einteilung anhand der FFP(Fragility Fractures of the Pelvis)-Klassifikation vornehmen können,

die differenzierten Therapieoptionen auf dem Hintergrund der FFP-Klassifikation kennen.

Ätiologie und Epidemiologie

Die Entität der Osteoporose-assoziierten Beckenringfraktur des geriatrischen Patientenkollektivs unterscheidet sich wesentlich vom Charakter der Beckenringfrakturen jüngerer Patienten mit guter Knochenqualität. Jüngere Patienten erleiden oftmals aufgrund eines hochenergetischen Traumas eine Beckenringverletzung mit ligamentären Läsionen, Frakturen und Dislokationen oder begleitenden Gefäß-Nerven-Verletzungen. Bei älteren Patienten ist die Ursache zumeist ein Bagatelltrauma, und die Fraktur ereignet sich aufgrund der verminderten Knochenqualität. In manchen Fällen liegt sogar eine negative Trauma-Anamnese vor. Diese niedrigenergetisch bedingten Beckenringfrakturen führen in der Regel nicht zu einer hämodynamischen Instabilität, begleitenden intrapelvinen Organverletzung oder Verletzung des umgebenden Weichteilmantels [2].

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6