Übersichtsarbeiten - OUP 03/2018

Osteoporose-assoziierte Fragilitätsfrakturen des Beckenrings*

Anamnestisch liegen zumeist ein oder mehrere Bagatelltraumata vor. In einigen Fällen ist die Anamnese unklar, oder es kann kein Trauma angegeben werden. Die Patienten präsentieren sich mit heftigen Schmerzen, die im Bereich der Hüfte, der Leiste oder tieflumbal gelegen sind und oft auch als Lumboischialgie-Beschwerden imponieren. Die klinische Untersuchung sollte neben der Palpation des vorderen und hinteren Beckenrings auch eine mechanische Überprüfung der Stabilität des Beckenrings durch vorsichtige Kompression der Beckenschaufeln sowie vorsichtiges „Aufklappen“ durch kontrollierten Druck auf beide Beckenkämme umfassen. Bei Verdacht auf eine Beckenringfraktur sollte zuerst eine Übersichtsaufnahme „Becken a.p.“ erfolgen, die durch „inlet“- und „outlet“-Aufnahmen sowie einer „Hüftaufnahme axial“ bei entsprechender Beschwerdesymptomatik ergänzt werden kann. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass nur die Diagnostik mithilfe der Computertomografie (CT) zur adäquaten Diagnosestellung führt, da nichtdislozierte Kompressionsfrakturen des Sakrums nur unzureichend mithilfe konventioneller Untersuchungen diagnostiziert werden können [10, 16, 20].

Zunächst als isolierte vordere Beckenringfrakturen klassifizierte Läsionen zeigten in der späteren CT-Diagnostik in bis zu 80 % eine zusätzliche dorsale Läsion [20, 21]. Bei Nichterkennen der Verletzungsschwere kann es zu einer inadäquaten Behandlung und in der Folge verzögerten Wiederherstellung und höheren Morbidität kommen.

Die Diagnostik mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) gewinnt bei persistierenden Schmerzen im Bereich des hinteren Beckenrings oder tieflumbalen Schmerzen ohne Korrelat in der CT-Untersuchung an Stellenwert. So lassen sich okkulte Sakruminsuffizienzfrakturen deutlich früher und effizienter diagnostizieren. Cosker et al. konnten an einem Patientenkollektiv mit zunächst vermuteter isolierter vorderer Beckenringfraktur in der anschließenden MRT-Untersuchung bei 95 % der Patienten eine Läsion des hinteren Beckenrings nachweisen [22]. Somit weist dieses Verfahren die höchste Sensitivität auf.

Alternativ steht die Dual-Energy-Computertomografie (DECT) zur Verfügung, die ihren Vorteil in der höheren Sensitivität bezüglich eines Knochenmarködems im Vergleich zur klassischen CT hat [23].

Bei Verdacht auf eine Fragilitätsfraktur des Beckens sollte die Diagnostik zeitnah und umfassend durchgeführt werden.

Therapie

Im Vordergrund steht die zeitnahe Mobilisation unter adäquater Schmerzbehandlung. Eine hämodynamische Instabilität ist selten und sollte mittels einer dringenden Becken-CT-Untersuchung mit Kontrastmittel identifiziert und durch eine darauffolgende Angiografie und selektive Embolisation therapiert werden [24]. Bei Patienten mit medikamentöser Antikoagulation sollte an begleitende Blutungen gedacht werden. Eine hämodynamische Überwachung für mindestens 24 Stunden wird in diesem Fall empfohlen, um protrahierte Blutungen frühzeitig zu identifizieren und einer Angiografie und Embolisation zuzuführen [25, 26].

Weiterhin sollte eine zeitnahe Knochendichtemessung (DEXA) erfolgen und eine entsprechende Osteoporosetherapie eingeleitet werden. Maier et al. berichten in ihrer Studie, dass 75 % der aufgenommenen Patienten bereits eine diagnostizierte Osteoporose aufwiesen, allerdings nur 39 % der Patienten eine Osteoporosetherapie vor der Aufnahme erhielten. Eine durchgeführte DEXA-Messung zeigte bei allen 69 vermessenen Patienten einen T-Score von weniger als ?2,5 [13]. Hier sei auf einen neuen Therapieansatz mittels Parathormon (Teriparatid) hingewiesen. Peichl et al. konnten bereits 2011 eine signifikant verkürzte Heilung bei Osteoporose-assoziierten Beckenringfrakturen nachweisen [27].

Generell sollte die Entscheidung über die Vorgehensweise bei der Therapie von einem multidisziplinären Team mit Chirurgen, Geriatern, Schmerztherapeuten und Physiotherapeuten getroffen werden. Ziel der Entscheidungsfindung sollte eine Optimierung des Patientenzustands innerhalb kürzester Zeit sein sowie eine suffiziente Schmerzreduktion und Mobilisation mit den möglichst minimalinvasiven Optionen [2]. Dazu sollte in der physiotherapeutischen Behandlung eine schmerzadapierte Vollbelastung erfolgen.

In Abbildung 6 ist der klinikinterne Behandlungsalgorithmus des Zentrums für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Marburg/Gießen, Standort Marburg, abgebildet.

Die Therapieentscheidung richtet sich weiterhin nach den genannten Instabilitätskriterien der FFP-Klassifikation, sodass eine genaue Analyse der jeweiligen Fraktursituation essenziell ist. Im Folgenden werden die verschiedenen Therapieoptionen in Zusammenhang mit der FFP-Klassifikation“ detailliert aufgeführt.

Die im Jahr 2013 publizierte FFP-Klassifikation bietet einen Rahmen zur Betrachtung der Verletzungen, sie wurde jedoch bisher noch nicht durch Studien validiert. Zu den einzelnen Therapieoptionen bestehen ebenfalls noch keine randomisierten kontrollierten Studien, und die Empfehlungen stützen sich weitestgehend auf retrospektive Daten.

Frakturtyp FFP I

Die isolierte vordere Beckenringfraktur kann als stabil eingeschätzt und somit konservativ behandelt werden. Die stationäre Aufnahme kann bei hoher Schmerzintensität trotz analgetischer Therapie zur Mobilisation unter Vollbelastung und physiotherapeutischer Betreuung indiziert sein. Die Anwendung standardisierter Protokolle zur Schmerztherapie kann aufgrund der Co-Morbiditäten der Patienten erschwert sein. In Anbetracht der Nebenwirkungen und Interaktionen sollte die Therapie mit nichtsteroidalen Antirheumatika vorsichtig angewandt werden [28, 29]. Zumeist sind Opioide als zusätzliche Therapieoption indiziert. Kognitiv eingeschränkte Patienten sollten eingehend untersucht und beurteilt werden, um eine adäquate Analgesie einzuleiten [30]. Hier sei auf spezielle Tools zur Schmerzerkennung bei demenziellen Patienten, wie z.B. auf den „BESD“(Beurteilung des Schmerzes bei Demenz)-Score, hingewiesen, der Atmung, negative Lautäußerungen, Körperhaltung, Mimik und die Reaktion des Patienten auf Trost beinhaltet [31].

Eine radiologische Kontrolle wird empfohlen, um sekundäre Dislokationen oder sekundär auftretende Frakturen auszuschließen und wenn keine zeitnahe Mobilisation aufgrund der ausgeprägten Schmerzsymptomatik möglich ist. In diesem Falle ändert sich gegebenenfalls die Klassifikation der FFP.

Frakturtyp FFP II

FFP II ist durch eine nichtverschobene Fraktur im Bereich des hinteren Beckenrings gekennzeichnet. Eine isolierte hintere Beckenringverletzung (Typ FFP IIa) tritt selten auf. Meist kommt es aufgrund des Unfallmechanismus zusätzlich zu einer vorderen Beckenringfraktur in Kombination mit einer Kompressionsfraktur im Bereich der Massa lateralis des Sakrums (FFP Typ IIb) oder zu einer nichtverschobenen, vollständigen Sakrumfraktur, Iliumfraktur oder iliosakraler Verletzung (FFP Typ IIc). Auch diese Verletzungen können konservativ behandelt werden, sie führen allerdings zu längeren Immobilisierungsphasen. Falls die konservative Therapie nicht zu einer suffizienten Schmerzlinderung und Mobilisation führt, ist mit dem Patienten die operative Therapie zu diskutieren. Hier stehen perkutane Verfahren im Vordergrund. Zusätzlich zur Stabilisierung des hinteren Beckenrings ist auch eine Stabilisierung des vorderen Beckenrings in Betracht zu ziehen [2].

FFP III und IV

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