Übersichtsarbeiten - OUP 06/2017

Patellofemorales Schmerzsyndrom

Daniel Wagner1

Zusammenfassung: Das komplex aufgebaute Patellofemoralgelenk ist durch anatomische, biomechanische und neuromuskuläre Faktoren störanfällig für ein Maltracking der Patella mit resultierenden unphysiologischen Belastungen. Diese führen über osteochondrale und ligamentäre Veränderungen zu Schmerzen. Eine ursachenorientierte Klassifikation basiert auf einer gezielten Diagnostik und dient als Basis für eine differenzierte Therapie. Bei fehlenden strukturellen Schäden ist die konservative multimodale Therapie mit dem Fokus auf die Normalisierung der gestörten neuromuskulären Situation Mittel der Wahl. Nur bei strukturellen Schädigungen oder ausgeprägten Veränderungen der anatomischen Einflussfaktoren sollten chirurgische Maßnahmen in Betracht gezogen werden.

Schlüsselwörter: Patella, Schmerzen, Ursache, Therapie

Zitierweise
Wagner D: Patellofemorales Schmerzsyndrom.
OUP 2017; 6: 301–305 DOI 10.3238/oup.2017.0301–0305

Summary: Based on anatomical, biomechanical and neuromuscular factors, the complex patellofemoral joint is susceptible to patellar maltracking with resulting unphysiological loading. Osteochondral and ligamentous changes lead to a pain syndrome. A cause-orientated classification is based on systematic diagnostics and serves as basis for a differentiated treatment. In the absence of structural damage, conservative multimodal treatment with special focus on normalizing the disturbed neuromuscular situation is the method of choice. Surgical procedures should only be considered in case of structural damage or pronounced alteration of anatomic factors.

Keywords: patella, factor, pain, treatment

Zitierweise
Wagner D: Patellofemoral pain syndrome.
OUP 2017; 6: 301–305 DOI 10.3238/oup.2017.0301–0305

Einleitung

Als Teil des Streckapparats dient die Patella als Umlenkrolle für die Kraftübertragung der Quadrizepsmuskulatur auf die Patellasehne. Zusätzlich vergrößert die Patella den Abstand des Kraftvektors zum Rotationszentrum des Kniegelenks und damit als Hebelarm. Die retropatellare Knorpelfläche vermindert den Gleitwiderstand und nimmt patellofemorale Reaktionskräfte auf. Resultierende Kräfte, die im Alltag und bei sportlichen Aktivitäten entstehen, können das Mehrfache des Körpergewichts betragen und spiegeln sich in der Knorpeldicke wider, welche die höchste am menschlichen Körper ist.

Grundsätzlich werden die Belastungen durch neuromuskuläre Dysbalancen, anatomische sowie biomechanische Faktoren modifiziert und können zu einer gestörten Position der Patella während des Gleitvorgans führen. So ist das komplex aufgebaute Patellofemoralgelenk (PFG) störanfällig für ein Maltracking der Patella, welches durch unphysiologische Belastung des Patellofemoralgelenks mit erhöhten ossären Druck- und ligamentären Zugbelastungen zur Instabilität, einem patellofemoralem Schmerzsyndrom (PFSS) und einer Arthrose führen kann (Abb.1).

Für die Problematik eines PFSS, von Stanley James auch „black hole of orthopedics“ genannt, war in der Vergangenheit die Terminologie meist symptomorientiert und verwirrend.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich bei den sehr unterschiedlichen individuellen Gegebenheiten Beschwerden in differenzierter Weise bemerkbar machen. Mit einer hohen Inzidenz von 22/1000 und einer Geschlechtsverteilung von 2:1 weiblich zu männlich lohnt es sich, diesem Komplex eine vermehrte Aufmerksamkeit zu schenken. Betroffen sind meist Jugendliche und junge Erwachsene mit funktionellen Störungen, oder in späteren Lebensabschnitten Patienten mit arthrotischen Veränderungen im PFG [3]. Moderne diagnostische Verfahren haben neue Erkenntnisse und Entwicklungen für konservative und operative Therapieoptionen ermöglicht.

Ätiologie/Pathogenese

Für die Entstehung eines PFSS sind unphysiologische Gelenkbelastungen notwendig. Diese können durch vermehrte Belastungsintensitäten und -umfänge sowie ungünstige Belastungen erzeugt werden. Beeinflusst wird dies durch extrinsische und intrinsische Risikofaktoren.

Extrinsische Faktoren beziehen sich zum Beispiel auf eine Sportart und deren Regelwerk mit dem spezifischen Anforderungsprofil und der Trainingsgestaltung. Aber auch Bodenbeschaffenheiten, Ausrüstung und Wetterbedingungen können die Situation verändern [57]. So zeigt sich eine erhöhte Prävalenz in Sportarten mit hohen Impulsen durch strecknahe Belastungen, wie z.B. Weitspringen oder Tennis.

Intrinsische Risikofaktoren beziehen sich auf anatomische Normvarianten des Patellofemoralgelenks und neuromuskuläre Ursachen. Beide bedingen das Patellatracking wesentlich. Die Tochleadysplasie, der tibial tuberosity trochlear groove- (TTTG) -Abstand, die Patellahöhe, ligamentäre Gegebenheiten sowie Beinachsen- und Torsionsverhältnisse stellen strukturelle Risikofaktoren dar [17]. Eine Schweregradeinteilung der einzelnen Faktoren ermöglicht eine Einschätzung der Wertigkeit der Komponenten.

Neuromuskuläre Risikofaktoren können als Auslöser oder reaktiv häufig gefunden werden. Ein veränderter Quadrizeps-Kraftvektor kommt durch das Überwiegen des M. vastus lateralis gegenüber dem M. vastus medialis und einem verspäteten Onset des M. vastus medialis zustande. Eine erhöhte Spannung des Tractus iliotibialis, eine Verschiebung der Quadrizeps/Hamstring-Ratio, eine abgeschwächte Hüft- und Glutaeus-Muskulatur, die Abweichung der dynamischen Becken- und Beinachse in Form eines Valgusdrift, ein Rückfußvalgusmoment mit Abweichung der Beinachse und Rotation sowie negative Veränderungen der posturalen Kontrolle tragen zur unphysiologischen Belastung des PFG bei [12, 37].

Die intrinsischen und extrinsischen Faktoren bedingen eine statische und dynamische Abweichung der Patellaposition von der Norm. Dies wurde klinisch, über MRT, Ultraschall und optisch gestützte Untersuchungen mehrfach bestätigt [21, 60]. Hieraus resultieren veränderte patellofemorale Gelenkbelastungen.

Der Verlust von knöcherner und weichteiliger Homöostase der peripatellaren Strukturen kann durch zusätzliche supraphysiologische Belastungen entstehen. Die intrinsischen Risikofaktoren reduzieren dabei den individuellen „envelope of function“ [23]. Die Schmerzentstehung kann durch eine Veränderung des Knochenmetabolismus erklärt werden, der sich in subchondralen Anpassungen zeigt und szintigrafisch nachgewiesen werden kann. Die erhöhten Druckbelastungen sind meist lateral gelegen und können langfristig zur Schädigung des Knorpels mit dem höheren Risiko einer patellofemoralen Arthrose führen [11, 46, 54, 56].

Als Schmerzursache können auch die erhöhten ligamentären Zugbelastungen verantwortlich gemacht werden. Diese bedingen eine repetitive Ischämie und Hypoxie im peripatellaren Weichteilgewebe und nachfolgender Ausschüttung von chemischen Substanzen wie NGF, VEGF, PFM und Substanz P. Es resultiert ein degenerativer morphologischer neuronaler Schaden mit gesteigerter Nozizeption und verminderter Sensorik. Dies wiederum kann die muskuläre Aktivität und Ansteuerung negativ beeinflussen und einen Circulus vitiosus in Gang setzten.

Diagnostik

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