Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2017

Posttraumatische Schulterinstabilität
Diagnose und Therapie in der PraxisDiagnosis and treatment in practice

Ein Test zum Nachweis einer Hyperlaxität der unteren Kapsel-Band-Strukturen ist der Hyperabduktions-Test nach Gagey [7]. Der Untersucher fixiert mit einer Hand die Skapula und führt mit der anderen Hand eine maximal mögliche passive glenohumerale Abduktion aus. Der Test ist positiv, wenn eine glenohumerale Abduktion über 105° möglich ist.

Bildgebende Verfahren

Zu den durchzuführenden bildgebenden Verfahren bei chronischer Schulterinstabilität gehören die klassischen Röntgenaufnahmen mit Instabilitätsserie.

1. True-a.-p.-Aufnahme: zur überlagerungsfreien Darstellung des glenohumeralen Gelenkspalts

2. Y-Aufnahme: zur Beurteilung der anterioren oder posterioren Luxations- oder Subluxationsrichtung

3. Axiale Aufnahme: zur Beurteilung der Kopfposition zur Pfanne (cave: hintere Luxation), der ventralen Kopfimpression (reversed Hill-Sachs-Läsion), zur Beurteilung der Pfannenneigung und von Pfannenrandfrakturen

4. Stryker-Aufnahme: zur Darstellung des Hill-Sachs-Defekts

5. Bernageau-Aufnahme: Pfannenprofilaufnahme mit überlagerungsfreier Darstellung des vorderen unteren Pfannenrands z.B. bei chronischer Bankart-Fraktur

Da die Größe der knöchernen Läsion am Glenoid mitunter der entscheidende Faktor betreffend der Reluxationsrate zu sein scheint, sollte zusätzlich zu den klassischen Röntgenaufnahmen ein (Arthro-)CT zur Erfassung der Größe und des Ausmaßes eines dislozierten Knochendefekts durchgeführt werden (Abb. 5).

Die MRT gilt heute weiterhin als der „Gold-Standard“ in der morphologischen Diagnostik der Schulterinstabilität. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erkennung von Luxationsfolgen am Humeruskopf und Glenoid, Labrum-Kapsel-Komplex (Abb. 6), am Knorpel sowie von Begleitverletzungen der Rotatorenmanschette. Sie ist zur präoperativen Planung und Indikationsstellung heute nicht mehr wegzudenken.

Therapeutisches Vorgehen

Konservativ

Die Indikationsstellung zwischen konservativer und operativer Therapie richtet sich in erster Linie nach dem Risiko für eine Rezidivluxation und hängt neben der Diagnose vom Alter, den Funktionsansprüchen und der Compliance des Patienten ab. Das Patientenalter stellt einen bedeutenden prognostischen Faktor dar.

Vergleichsstudien an Patienten unter 30 Jahren beschreiben unter konservativer Therapie Reluxationsraten von 47–80 % [1, 2, 14, 16]. Bei Patienten über 40 Jahren liegt die Rezidivrate mit 16 % dagegen deutlich niedriger [27]. Junge Männer haben wiederum ein signifikant höheres Risiko als gleichaltrige Frauen [25].

Nach Habermeyer et al. [10] ist ein konservatives Vorgehen bei folgenden Faktoren indiziert:

Kinder, Jugendliche mit offenen Epiphysenfugen, Alter zwischen 18 und 30 Jahren (wenn einer oder mehrere der folgenden Faktoren vorliegt: ohne Hill-Sachs-Defekt, ohne Bankart-Läsion, ohne adäquates Trauma, ohne sportlichen Anspruch, mit begleitender Kapsellaxität, mit begleitender Axillarisschädigung, mit muskulär willkürlicher/unwillkürlicher Dysbalance), Alter über 30 Jahre ohne Bankart-Fraktur und Alter über 40 Jahre ohne Rotatorenmanschettenruptur.

Die konservative Therapie beinhaltet eine schmerztherapeutische Ruhigstellung z.B. in einem Gilchrist-Verband für max. 3 Wochen, um eine posttraumatische Schultersteife vorzubeugen, und funktionelle Nachbehandlung. Ob die Immobilisation in Innenrotations- oder Außenrotations-Stellung vorteilhafter ist, lässt sich bis dato nicht lückenlos klären. Basierend auf den Arbeiten von Itoi scheint die beste Stellung in 30° Abduktion und 60° Außenrotation zu sein. In dieser Stellung liegt das anteriore Labrum samt Kapsel-Labrum-Komplex dem anterioren Glenoid an [11, 13, 21].

Aktiv assistierte Krankengymnastik zur Muskelkräftigung der Rotatorenmanschette und der Skapulastabilisatoren. Striktes Vermeiden von Auslösebewegungen.

Operativ

Eine operative Behandlung sollte unter Berücksichtigung folgender Kriterien und bei Vorliegen der folgenden Faktoren indiziert werden:

rezidivierende Instabilität unter konservativer Therapie

hohe sportliche Aktivität (Wurf- und Überkopfsportarten sowie Kontaktsport)

Alter < 30 Jahre

Geschlecht

Auftreten begleitender Pathologien (intra- und periartikuläre Frakturen, SLAP-Läsionen, Läsionen des Rotatorenintervalls, RM-Rupturen)

Größe der glenoidalen und/oder humeralen Knochendefekte (knöcherner Bankart-Defekt; > 20 % Gelenkfläche bei Hill-Sachs-Läsion [5])

In Abhängigkeit von Ätiologie, Luxationsart und -richtung sowie Ausmaß intraartikulärer Schäden können verschiedene Operationsverfahren einzeln oder in Kombination angewandt werden, wobei offene und arthroskopische Techniken (Bild 7–9: arthroskopische Bankart-Repair) sowie anatomische und nicht anatomische Rekonstruktionsverfahren zur Verfügung stehen.

Fazit für die Praxis

Zur konkreten Diagnosesicherung und Therapieeinleitung sollte die klinische Untersuchung mit den verschiedenen klinischen Tests und die anschließende weiterführende Diagnostik strukturiert und systematisch durchgeführt werden. Das Alter, die Aktivität und Funktionsansprüche des Patienten beeinflussen die Entscheidung der Therapieform maßgebend. Ebenso spielen die möglichen Begleitverletzungen eine große Rolle, und ihre Therapie richtet sich nach Lage und Ausmaß der Schädigung.

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dervis Kücükköylü

Johanna-Etienne-Krankenhaus gGmbH

Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin

Am Hasenberg 46

41462 Neuss

D.Kuecuekkoeylue@ak-neuss.de

Literatur

1. Arciero RA, Wheeler JH, Ryan JB et al.: Arthroscopic Bankart repair versus nonoperative treatment for acute, initial anterior shoulder dislocations. Am J Sports Med 1994; 22: 589–594

2. Bottoni CR, Wilckens JH, DeBerardino TM et al.: A prospective, randomized evaluation of arthroscopic stabilization versus nonoperative treatment in patients with acute, traumatic, first-time shoulder dislocations. Am J Sports Med 2002; 30: 576–580

3. Boss A, Pellegrini L, Hintermann B: Prognostisch relevante Faktoren in der Behandlung des posttraumatisch instabilen Schultergelenks. Unfallchirurg 2000; 103: 289–294

4. Brunner UH: Klinische Untersuchung der Schulter. In Habermeyer P (Hrsg.): Schulterchirurgie. München-Jena: Urban& Fischer, 2002: 45–69

5. Brunner UH: Kopferhaltende Therapie der proximalen Humerusfraktur. In: Lichtenberg S, Habermeyer P, Magosch P, Hrsg. Schulterchirurgie. München: Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag 2010; 544

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