Übersichtsarbeiten - OUP 09/2019

Proximale Femur-Osteotomie

Thomas Mattes

Zusammenfassung:

Die Rolle der proximalen Femur-Osteotomie hat sich in den letzten 50 Jahren deutlich gewandelt. Basierend auf von Pauwels [16] beschriebenen Grundüberlegungen zur Biomechanik des Hüftgelenks war sie über Jahrzehnte eine der Standardoperationen in der orthopädischen Chirurgie. Unterschiedlichste angeborene oder erworbene Fehlstellungen des proximalen Femurs wurden zur Normalisierung oder Verbesserung der Biomechanik und Reduktion der Arthroseprogression des Hüftgelenks damit behandelt. In Abhängigkeit der Ursache und der zugrunde liegenden Pathologie können durch diesen Eingriff die Hebelkräfte, die Druckverteilung, die Gelenkstabilität und die Gelenkkongruenz normalisiert oder optimiert werden. Einen festen Stellenwert als primäres
Therapieverfahren hat sie nach wie vor bei der Zentrierung und Stabilisierung von subluxierten oder luxierten Hüftgelenken bei spastischen Bewegungsstörungen [23] - mit oder ohne
Kombinationseingriff an der Hüftpfanne. Bei anderen klassischen Indikationen haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch für viele Indikationen andere OP-Techniken durchgesetzt, wie die
reorientierende Becken-Osteotomie, Impingement-Chirurgie bei femoroazetabulärem Impingement (FAI) und letztendlich die endoprothetische Versorgung [6, 7, 9, 11, 22]. Auch wenn gelenkerhaltende Eingriffe und insbesondere proximale Femur-Osteotomien in der Gesamtmenge
hüftchirurgischer Eingriffe an Bedeutung verloren haben und die Hüftendoprothetik exzellente mittel- und langfristige Ergebnisse bringt, sollten gelenkerhaltende Eingriffe insbesondere bei
jungen Patienten nicht vergessen werden. Proximale Femur-Osteotomien spielen deshalb nach wie vor teils als isolierter, teils als Kombinationseingriff im Spektrum der gelenkerhaltenden Hüftchirurgie eine Rolle und sollten in der Differenzialtherapie mit berücksichtigt werden.

Schlüsselwörter:

Hüftdysplasie, Coxa valga, Coxa vara, Coxa antetorta, Epihysolysis capitis femoris (ECF), femoroazetabuläres Impingement (FAI), Hüftkopfnekrose, Morbus Perthes, proximale Femur-Osteotomie

Zitierweise:

Mattes T: Proximale Femur-Osteotomie. OUP 2019; 8: 452–459

DOI 10.3238/oup.2019.0452–0459

Summary: The role of proximal femur osteotomy has changed significantly in the last 50 years. Based on
Pauwels [16] basic considerations on hip biomechanics, proximal femur osteotomies has been one of the
standard operations in orthopedic surgery for decades. Various congenital or acquired malformation of the proximal femur have been treated to normalize or improve biomechanics and reduce osteoarthritis of the hip joint. Depending on the cause and the underlying pathology, leverage, joint pressure distribution, joint stability and joint congruence can be normalized or optimized through this intervention. Nowadays proximal femur
osteotomies are still preferred as therapy centering and stabilization of subluxed or dislocated hip joints in spastic movement disorders [23], with or without additional reorientation osteotomy of the acetabulum. In
several other indications, however, other surgical techniques, such as reorienting pelvic osteotomy, impingement surgery for FAI and ultimately total hip replacement have replaced proximal femoral osteotomies in recent decades [6, 7, 9, 11, 22]. Although joint preserving interventions, and in particular proximal femoral osteotomies, have lost significance in the total amount of hip surgery and hip arthroplasty yields excellent mid and long term results, joint preservation should not be forgotten, especially in young patients. Proximal femur
osteotomies therefore continue to play a role in the spectrum of joint-preserving hip surgery, sometimes as an isolated and partly as a combination procedure, and should be taken into account in differential therapy.

Keywords: development dysplasia of the hip (DHH), pelvic osteotomy, coxa vara, coxa valga, coxa antetorta, slipped capital femoral epiphysis (SCFE), Morbus Perthes, femoral head avascular necrosis, proximal femoral
osteotomy

Citation: Mattes T: Proximal femoral osteotomy. OUP 2019; 8: 452–459 DOI 10.3238/oup.2019.0452–0459

Sportklinik Ravensburg

Einleitung

Proximale Femur-Osteotomien haben sich nach biomechanischen Überlegungen zum Kräfte- und Druckverhältnis [16] am Hüftgelenk in der Mitte des letzten Jahrhunderts als Standardverfahren zur Behandlung der symptomatischen Hüftdysplasie und Früharthrose des Hüftgelenks entwickelt. Durch die Normalisierung oder zumindest Optimierung pathologischer Winkel am proximalen Femur – Caput-Collum-Diaphysen-Winkel (CCD-Winkel), Antetorsions-Winkel (AT-Winkel), Schenkelhalslänge und Trochanterstellung – kann eine Beschwerdereduktion, Funktionsverbesserung und Abbremsung des Gelenkverschleißes erreicht werden. Durch die Einführung der Winkelplatte und Standardisierung der OP-Planung und -Technik [13, 14] konnte je nach zugrunde liegender Pathologie eine 3-dimensionale Korrektur mit Optimierung der Druckverteilung im Gelenk und der Muskelkräfte um das Gelenk erreicht werden. Darüber hinaus wurde die OP-Technik zur Behandlung des Morbus Perthes, des Hüftkopfabrutschens bei der Epihysiolysis capitis femoris, zum Verhindern des Hüftkopfeinbruchs bei der Hüftkopfnekrose des Erwachsenen und zur Zentrierung und Stabilisierung subluxierter oder luxierter Hüftgelenke im Rahmen spastischer Bewegungsstörungen angewendet.

Eine weitere Indikation des Verfahrens aus dem Bereich der Traumatologie ist die Behandlung der Schenkelhals-Pseudarthose nach Schenkelhalsfrakturen. Vor Etablierung der Hüftendoprothetik erfolgte auch häufiger eine Valgisations-Osteotomie, um zentrokaudalen Kopfknorpel in die Belastungszone zu bringen. Die Zusammenhänge zwischen Druckverteilung im Gelenk, Veränderung der Hebelkräfte und Beeinflussung der Lastachsen und Kraftvektoren sind sehr komplex. Die Beeinflussung der gesamten Beinachse mit Wechselwirkungen auf das Kniegelenk sind bei der OP-Technik zu berücksichtigen und im Vorfeld abzuschätzen. Neben den positiven Effekten sind stets negative Effekte zu berücksichtigen. In Abhängigkeit von der Indikation müssen hier auch Kompromisse in Kauf genommen werden und physiologische Winkelverhältnisse pathologisch eingestellt werden. Unmittelbare Folgen können Veränderungen der Beinlänge und der Lastachsen sein. Funktionell kann es zu Störungen der Muskelfunktion kommen. So führt z.B. eine Varisations-Osteotomie zwar zu einer besseren Flächendruckverteilung in der Gelenkfläche und zu einer besseren Zentrierung und Stabilisierung des Gelenks, gleichzeitig kommt es jedoch zu einer Beinverkürzung und – durch eine Proximalisierung des Trochanter majors – zu einer relativen Insuffizienz der Glutealmuskulatur. Wird die OP-Technik beim Morbus Perthes oder bei der Hüftdysplasie angewendet, kann ein den Patienten störendes, nicht kompensierbares Hinken auftreten. Wird die gleiche Technik eingesetzt bei der Zentrierung spastisch subluxierter Gelenke, führt sie durch die relative Glutealinsuffizienz jedoch zu einer positiven Reduktion der Muskelspannung. Weitere Nachteile, die sich im Laufe der Zeit zeigten, sind die teils erhebliche Deformierung des proximalen Femurs und Knochenvernarbungen. Dies kann eine spätere Positionierung eines Schafts bei der endoprothetischen Versorgung erheblich erschweren. So haben sich zunehmend Korrektureingriffe an der Hüftpfanne etabliert, da sich hierdurch häufig die Druckverteilung im Gelenk sowie die Stabilisierung des Gelenks besser beeinflussen lassen, ohne die beschrieben negativen Effekte zu erzeugen.

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