Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch- schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin

Stephan Grüner, Marcela Lippert-Grüner

Zusammenfassung:
Botulinumtoxin wurde vor über 30 Jahren als Medikament eingeführt, das Indikationsspektrum hat sich seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Mittlerweile existiert eine Reihe von Indikationen im Bereich Augenheilkunde, HNO, Neurologie, Urologie und fachübergreifenden Gebieten. Das Toxin ist das stärkste bekannte Gift, das klinische Erscheinungsbild einer Vergiftung wird Botulismus genannt mit verschiedenen Entstehungsformen, klinischen Symptomatiken und Prognosen. Hierbei handelt es sich um ein Exotoxin, vorwiegend von Clostridium botulinum produziert. Der Wirkmechanismus besteht in der strukturell irreversiblen und durch Neuausbildung zeitlich befristeten Blockade der Freisetzung von Acetylcholin in den synaptischen Spalt an der motorischen Endplatte und am Drüsengewebe. Neueren Datums sind Erkenntnisse, dass für die Reizweiterleitung relevante Stoffe wie v.a. CGRP gehemmt werden, mit der Folge einer verringerten sensiblen Weiterleitung und damit auch der Reduktion der peripheren und nachfolgend der zentralen Schmerzsensibilisierung. In der EU erhältlich sind vorrangig 3 verschiedene Toxintypen mit unterschiedlichen zugelassenen Indikationen, ein 4. Typ wurde jetzt in den Vertrieb genommen, ein 5. Typ besitzt die Zulassung. Gerade für einen In-Label-Use ist zu beachten, dass nicht alle Präparate für alle Indikation zugelassen sind, manchmal existieren noch weitere Begrenzungen, die Zulassung kann sich auch bei identischen Präparaten länderspezifisch unterscheiden. Daneben werden diese Präparate auch außerhalb der Zulassung angewendet (Off-Label-Use). Die Anwendung kann dann infrage kommen, wenn die herkömmlichen Therapien nicht erfolgreich, mit größeren Nebenwirkungen behaftet oder kontraindiziert sind. Hierbei handelt es sich einerseits um Therapien mit den offiziellen Zulassungen ähnlicher Indikationen, aber auch um Anwendungen in anderen Bereichen. Die Indikationsstellung wird umso leichter, je besser sich die wissenschaftliche Basis darstellt. Hierbei kann man im orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutischen Bereich 3 Gruppen unterscheiden. Sinnvolle Indikation sind myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schulterregion inkl. Cervikocephalgien, Epikondylitis humeroradialis, Plantarfasciitis und Trigeminusneuralgie. Mögliche Indikationen mit eingeschränkter wissenschaftlicher Basis sind myofasziale Triggerpunkte im Bereich LWS, Bruxismus, Postzosterneuralgie, extraartikuläre Muskelentspannung bei Coxarthrose und vorderem Knieschmerz, Gonarthrose, Schulteraffektionen und Spannungskopfschmerzen. Einzelfallindikationen sind u.a. Achillessehnenruptur, Morton-Neurom, diabetische Neuropathie, Reizzustände nach Knieendoprothese, Stumpfschmerzen und Anpassungsprobleme bei Exoprothesen. Basis für die Anwendung von Botulinumtoxin ist eine ausreichende Ausbildung, hier existiert eine spezielle Kursserie der IGOST.

Schlüsselwörter:
Botulinumtoxin, Orthopädie, Schmerztherapie, Off-Label-Use

Zitierweise:
Grüner S, Lippert-Grüner M: Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin
OUP 2023; 12: 213–222
DOI 10.53180/oup.2023.0213-0222

Summary: Botulinum toxin was introduced as a drug over 30 years ago, and the range of indications has developed continuously since then. There are now a number of indications in ophthalmology, ENT, neurology, urology and interdisciplinary. The toxin is the strongest known poison, the clinical appearance of a poisoning is called botulism, with different forms of development, clinical symptoms and prognoses. This is an exotoxin, predominantly produced by Clostridium botulinum. The mechanism of action is the structurally irreversible and temporary blockade of the release of acetylcholine into the synaptic cleft at the motor endplate and glandular tissue. More recent findings indicate that substances relevant for stimulus transmission, such as CGRP in particular, are inhibited, with the consequence of reduced sensitive transmission and thus also a reduction in peripheral and subsequently central pain sensitization. Three different toxin types with different approved indications are primarily available in the EU, a 4th type has now been put on the market and a 5th type has been approved. Especially for an in-label use it has to be considered that not all preparations are approved for all indications, sometimes there are further limitations, the approval can differ country specific even for identical preparations. In addition, these preparations are also used outside of the approval (off-label use). Off-label use may be considered when conventional therapies are unsuccessful, have major side effects, or are contraindicated. On the one hand, these are therapies with indications similar to the official approvals, but also applications in other areas. The better the scientific basis, the easier it is to determine the indication. In this context, three groups can be distinguished in the orthopedic-accident surgery-pain therapy area. Possible indications are myofascial trigger points in the cervical spine and shoulder region, including cervicocephalgia, epicondylitis humeroradialis, plantar fasciitis and trigeminal neuralgia. Possible indications with limited scientific basis are myofascial trigger points in the lumbar spine, bruxism, post zoster neuralgia, extraarticular muscle relaxation in coxarthrosis and anterior knee pain, gonarthrosis, shoulder afflictions and tension-type headache. Individual case indications include Achilles tendon rupture, Morton‘s neuroma, diabetic neuropathy, post knee arthroplasty irritation, residual limb pain and fitting problems with exoprostheses. The basis for the application of botulinum toxin is a sufficient training, here exists a special course series of the IGOST.

Keywords: Botulinum toxine, orthopedic, pain therapy, off-label use

Citation: Grüner S, Lippert-Grüner M: Useful and possible orthopedic-traumatological-pain therapeutic
indications of botulinum toxin
OUP 2023; 12: 213–222. DOI 10.53180/oup.2023.0213-0222

S. Grüner: Praxis Dr. Grüner, Köln

M. Lippert-Grüner: Klinik für Rehabilitationsmedizin Universitätskrankenhaus Královské Vinohrady, CZ & Medizinische Fakultät Karls-Universität Prag, CZ

Einleitung

Nach der Einführung von Botulinumtoxin als Medikament vor über 30 Jahren hat sich das Indikationsspektrum kontinuierlich immer weiterentwickelt. Bisher war die Substanz vor allem in der Behandlung von neurologischen Erkrankungen und auch bei Anwendungen in der ästhetischen Medizin bekannt, obwohl die ersten therapeutischen Behandlungen im Bereich der Augenheilkunde beim Strabismus erfolgten [1, 2]. Botulinumtoxine sind Gifte, der Subtyp A ist das stärkste bekannte Toxin. Die Wirkstoffe sind Exotoxine, meist des stäbchenförmigen anaeroben Bakteriums Clostridium botulinum, welche in verschiedenen Subformen existieren. Gängig ist die Einteilung in die Typen A–G, in manchen Literaturquellen wird – wissenschaftlich umstritten – auch ein Typ H postuliert [3], weitere Unterteilungen benennen ca. 40 Subtypen [4–6]. Die meisten Typen sind human- und/oder tierpathogen (z.B. Fische, Hühner, Pferde, Rinder und Wasservögel), bei manchen Typen ist die Pathogenität nicht bekannt, in manchen Fällen produzieren die Bakterien gleichzeitig auch verschiedene Typen von Botulinumtoxinen [7], mittlerweile ist auch die Bildung von Botulinumtoxin von anderen Clostridienarten bekannt [4, 8]. Bei zu hoher Exposition eines Organismus mit Botulinumtoxinen kommt es zu einem Botulismus genannten klinischen Bild mit variabler Ausprägung und potenziell letalem Ausgang. Botulinumtoxin ist auch als Waffe denkbar und wird als biologisches Kampfmittel eingestuft, in den USA sogar in die höchste Gefährdungsstufe für die nationale Sicherheit [9–12].

Historisches

Die Vergiftung existiert vermutlich seit Jahrhunderten, die ersten dokumentierten Fälle werden auf das Jahr 1735 datiert [13], die erste systematische Beschreibung erfolgte 1817 durch Justinus Kerner [14–20]. 1820 erschien von ihm eine erste Monografie mit 76 Fällen und 1822 eine weitere Monografie mit 155 Fällen, in welcher er auch erste Überlegungen zu therapeutischen Anwendungen anstellte [14, 16, 19]. Er erkannte bereits, dass es sich um eine Vergiftung handelt, welche unter anaeroben Bedingungen entstand, Lähmungen hervorrief und potenziell tödlich ausging. Der Auslöser der Vergiftung war ihm noch nicht bekannt, er vermutete toxisch wirksame Fettsäuren. Die Namensgebung Botulismus stammt aus Arbeiten von Rupprecht und Müller um 1878 und leitet sich von dem lateinischen Wort „Botulus“ (Wurst) ab, basierend auf der Tatsache, dass viele Vergiftungen nach dem Verzehr von Würsten auftrat [19]. Der Nachweis der Quelle des Toxins, das Clostridium botulinum, erfolgte 1897 durch van Ermengen [6, 14, 19, 21]. Burke konnte 1919 im Tierversuch erste letale Minimaldosen bestimmen und die Toxine erstmalig in verschiedene Subtypen A und B differenzieren [13]. Im Verlauf weiterer Jahrzehnte konnten weitere Toxintypen identifiziert werden [16], bis zuletzt 2013 der (umstrittene neue) Typ H [3, 7]. Die Typen E–G werden von anderen Clostridienarten gebildet [22].

Wirkmechanismus [1]

Der bekannteste Wirkmechanismus von Botulinumtoxin wurde erstmalig 1949 von Burgen beschrieben, hierbei kommt es zu einer irreversiblen Hemmung der präsynaptischen Ausschüttung von Acetylcholin in den synaptischen Spalt mit der Folge einer motorischen Lähmung bzw. einer Hemmung von sekretorischen Drüsen. Nach einer gewissen Zeit bilden sich die entsprechenden gehemmten Strukturen wieder neu aus, die ursprüngliche Funktion setzt wieder ein. Hieraus erklärt sich der klinische Aspekt der motorischen und sekretorischen Abschwächung. In den letzten ca. 20 Jahren wurden zunehmend auch weitere Mechanismen bekannt, ausgehend von der Erkenntnis, dass sich nachweisbare Effekte mit diesem Wirkmechanismus nicht erklären lassen. Es ergeben sich Hinweise darauf, dass Botulinumtoxin auch auf den sensorischen Schenkel der Reizverarbeitung wirkt, hier mit Hemmung von verschiedenen relevanten Stoffen, am wichtigsten hier das Calcitonin Gene Related Peptide CGRP. Somit kommt es zur Hemmung der sensiblen Weiterleitung und, schmerztherapeutisch relevant, zur Reduktion der peripheren und nachfolgend auch der zentralen Sensibilisierung. Ein interessanter Befund hierbei ist der Nachweis eines retrograden axonalen Transportes des Toxins. Somit lassen sich auch ansatzweise analgetische Effekte erklären, viele Aspekte dieses weiteren Wirkmechanismus sind jedoch noch ungeklärt.

Botulismus

Das Bakterium Clostridium botulinum ist ein strikter Anaerobier, welcher unter Lufteinfluss rasch zugrunde geht [23]. Von diesem Bakterium existieren jedoch auch sehr stabile und ubiquitär vorkommende Sporenformen. Es ist als solches für den Menschen zunächst harmlos, gefährlich sind die gebildeten und sekretierten Exotoxine, Übertragungen vom Menschen zum Menschen sind nicht bekannt [23–25]. Die Erkrankung des Botulismus beim Menschen tritt vorwiegend bei den Typen A und B auf, Erkrankungen mit anderen Typen sind selten bzw. Raritäten [8, 26]. Bei manchen Typen ist nur eine Tierpathogenität, nicht aber eine Humanpathogenität bekannt, bei einzelnen anderen Typen ist die Pathogenität generell nicht geklärt (Tab. 1) [6].

Die am häufigsten vorkommenden Formen des Botulismus sind der Nahrungsmittelbotulismus sowie der Säuglingsbotulismus, dies jedoch weltweit unterschiedlicher Ausprägung. Während in Europa tendenziell häufiger die Nahrungsmittelform auftritt, ist tendenziell in Nordamerika die Säuglingsform häufiger. Botulismus gilt als Krankheit mit hoher Letalität, aber geringer Inzidenz [27]. Beim Nahrungsmittelbotulismus bilden die Bakterien vor der Aufnahme mit der Nahrung Toxine, welche die Vergiftung hervorrufen. Bekannt ist dies vor allem in Fleischwaren wie Würsten oder Schinken oder auch in Nahrungsmittel in Konserven [27]. Beim Wundbotulismus erfolgt die Toxinproduktion in kontaminierten Wunden, speziell ebenfalls unter Luftabschluss. Beim infantilen und beim Säuglingbotulismus handelt es sich um meist milde verlaufende Sonderformen des Nahrungsmittelbotulismus, bei welchem Bakterien oder deren Sporen mit der Nahrung aufgenommen werden und dann im Darm Toxine bilden [13]. Aus diesem Grund sollte man Säuglinge bis zum Ende des ersten Lebensjahres keine honighaltige Nahrung geben, da hier natürlicherweise Sporen enthalten sind. Eine ähnliche Sonderform stellt der intestinale Botulismus dar, hier die Kolonisation und Toxinbildung im Darm bei Betroffenen mit schweren gastrointestinalen Störungen oder auch längerer antibiotischer Behandlung.

Als nicht natürliche Formen des Botulismus sind aerogene und iatrogene Entstehungen zu benennen. Die aerogene Entstehung wurde zumindest tierexperimentell nachgewiesen, ebenfalls bekannt sind erfolglos verlaufende Versuche mit terroristischem Hintergrund. Iatrogene Formen sind in der Regel sehr selten, da die Dosierung in den als Medikament erhältlichen Präparaten in der Regel hierfür zu gering ist. Europaweit trat diese Vergiftung relativ konstant mit einer Frequenz von ca. 100 Fällen pro Jahr in der EU und assoziierten Staaten auf [28], das Jahr 2023 wird hier vermutlich eine Ausnahme bilden, da eine Vielzahl von iatrogenen Fällen vor allem aus der Türkei bei der Applikation von Botulinumtoxin in die Magenwand zum Zweck der Motilitätsminderung mit dem Ziel der Gewichtsabnahme bekannt wurden [29, 30]. Die Mortalität ist beim Typ A am größten, und wird in der Literatur mit Werten von 8–15 % angegeben [31].

Das klinische Bild ist gekennzeichnet durch die als pathognomonisch geltenden 5 „D“ Doppelbilder, Dysarthrie, Dysphonie, Dysphagie und Dyspnoe [21, 22]. Binnen Stunden oder weniger Tage, beim Wundbotulismus auch nach 1–2 Wochen, kommt es zu einer motorischen Lähmung inkl. der Atemmuskulatur, jedoch ohne Bewusstseinseintrübung und ohne Fieber [25], im Extremfall ersticken die Betroffenen bei vollem Bewusstsein. Die Nahrungsmittelformen und Vergiftungen mit dem Typ A sind in der Regel aggressiver im Verlauf als die anderen Formen. Die besondere Problematik besteht in der Erkennung der Vergiftung, da diese einerseits sehr selten ist und andererseits in den Erstsymptomen einer Vielzahl von häufig auftretenden Differenzialdiagnosen ähnelt. Laborchemisch stehen mittlerweile eine Reihe von Diagnoseverfahren zur Verfügung, welche in Speziallaboren durchgeführt werden können. Therapeutisch zielen die Bestrebungen – soweit möglich – zunächst auf die Elimination oder zumindest die Reduktion der toxinproduzierenden Bakterien ab. Beim Wundbotulismus besteht die Therapie in einer antibiotischen Behandlung und der chirurgischen Wundöffnung. Es existieren eine Reihe von Antitoxinen, deren Verfügbarkeit mitunter schwierig sein kann, für milde verlaufende Formen wird der Einsatz bei einem nicht zu unterschätzenden Allergierisiko teilweise kritisch gesehen. In fulminanten Fällen ist eine intensivmedizinische Betreuung und ggf. sogar die Beatmung notwendig, die Rekonvaleszenz kann sich über viele Monate bis Jahre erstrecken, Dauerschäden sind in der Regel nicht zu erwarten.

Botulinumtoxin als
Medikament

Nach ersten Tierversuchen [32] erfolgten die ersten Humanversuche 1977 durch Scott [2]. Die erste Teilzulassung des ersten Präparates in den USA erfolgte 1984 für das Präparat Onabotulinumtoxin, die Vollzulassung für Strabismus, Blepharospasmus und Spasmus hemifacialis erfolgte 1989 [2, 16, 19, 33], danach war das erste Präparat auch rasch in Europa erhältlich. Nachfolgend wurden weitere Substanzen zugelassen (Abobotulinumtoxin, Incobotulinumtoxin). Hierbei handelt es sich fast ausschließlich um verschiedene Formen des Botulinumtoxin Typ A in sehr hoher Verdünnung. In der EU sind im Wesentlichen 3 verschiedene Typen erhältlich, kürzlich kam noch ein 4. Typ aus Südkorea hinzu, ein 5. Typ aus den USA besitzt die Zulassung, Stand Juni 2023 jedoch (noch) nicht erhältlich, diese beiden Typen sind jedoch in ihren Heimatländern schon lange auf dem Markt etabliert [34–36]. Zwei der drei schon länger in Europa erhältlichen Präparate werden – sonst identisch – jeweils unter 2 verschiedenen Handelsnamen zur Behandlung von verschiedenen Diagnosen bzw. zur Anwendung in der ästhetischen Medizin von der jeweils gleichen Firma vertrieben. Beim 3. Präparat verhält es sich analog, wobei die beiden Produktlinien von verschiedenen Firmen vertrieben werden. Das neue südkoreanisches Präparat ist zunächst in Europa nur für die ästhetische Medizin zugelassen, in anderen Ländern jedoch auch für andere Indikationen wie z.B. der infantilen Zerebralparese [37]. Das 5. Präparat ist ausschließlich für Anwendungen der ästhetischen Medizin zugelassen. Weltweit ohne aktuelle Zulassung in der EU existieren noch eine Reihe anderer Botulinumtoxine [36, 38]. Weiter zugelassen war auch noch ein weiterer Typ Botulinumtoxin Typ B als Medikament, welches jedoch keine große Rolle spielte, auch bedingt durch nur eine einzige In-Label-Indikation. Die Botulinumtoxine des Typs A sind im Kern identisch, die einzelnen Präparate unterscheiden sich unter anderem in den Hüllproteinen. Die Wirksamkeit der verschiedenen Präparate ist bei Dosisäquivalenz in der Regel ähnlich, ebenso in der Regel auch die Wirkdauer, wobei jedoch erste Hinweise existieren, dass bei einzelnen Indikationen sich doch Unterschiede zwischen einzelnen Präparaten ergeben können. Bei den meisten Präparate muss eine Kühlkette eingehalten werden. In seltenen Fällen mit einer Häufigkeit von ca. 1 % muss mit neutralisierenden Antikörpern gerechnet werden, wobei dies bei einem Typ bisher nicht bekannt ist und nicht zwangsläufig auch klinisch wirkt [4, 26, 39]. Die Präparate werden in Glasflaschen als Trockenpulver ausgeliefert (Abb. 1) und müssen vor der Anwendung mit physiologischer Kochsalzlösung aufgelöst werden. Seit kürzerer Zeit existiert auch ein Präparat zur Anwendung in der ästhetischen Medizin als Fertigpräparat.

Botulinumtoxin –
zugelassene Indikationen

Indikationsstellung

Bei den Indikationen muss man immer überprüfen, ob die jeweilige Indikation auch im jeweiligen Land zugelassen ist, diese sind für die 3 Hauptvertreter in der Regel zwar ähnlich, aber nicht immer identisch. Die Anwendung in Deutschland ist gemäß den aktuellen Fachinformationen nicht alleine an eine bestimmte Facharztqualifikation gebunden, sondern lediglich an die humanmedizinische Approbation, eine nicht näher definierte Fachkenntnis wird jedoch gefordert. Die Anwendung von Botulinumtoxinen durch nicht-ärztliches Personal oder durch Zahnärzte ohne humanmedizinisches Studium ist in Deutschland nicht zulässig. Eine Anwendung von Botulinumtoxin zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ist neben der offiziellen Zulassung des jeweiligen Präparates für die jeweilige Indikation zudem an eine Reihe von weiteren Bedingungen geknüpft, so sind Präparate zur Behandlung in der ästhetischen Medizin zwar offiziell zugelassen, aber keine Leistung der GKV [40].

Eine Aufstellung der in Deutschland zugelassenen Indikationen, Stand Juni 2023, ist in Tab. 2 dargestellt. Hierbei ist nochmalig zu betonen, dass nicht alle Präparate für alle Indikationen zugelassen sind, für manche Präparate gelten zusätzlich bei sonst gleicher Indikation weitere Einschränkungen, die jeweils gültige Fachinformation ist vor der Anwendung zu konsultieren. Eine Nichtbeachtung der weiteren Einschränkungen kann zum Off-Label-Use führen, mit möglicher Regressgefahr bei Anwendung zulasten der GKV (Tab. 2) [36].

Dosierungen,
Anwendungsfrequenz und
Anwendungsdauer

Bei manchen Indikationen wie z.B. Spastiken oder chronischer Migräne bedarf es in der Regel einer regelmäßigen Behandlung, in anderen Fällen kann eine einmalige oder eine niederfrequente Behandlung ausreichen. Führt die erste Behandlung nicht zum gewünschten Therapieerfolg, bedarf es der Überprüfung der Indikation und der Durchführung, die 2. oder spätestens die 3. erfolglose Therapie sollte zu einem Abbruch führen. Je nach Indikation existieren Nonresponder, so sprechen bspw. ein Drittel der Betroffenen mit chronischer Migräne nicht auf eine Therapie mit Onabotulinumtoxin an [41]. Es stellt sich auch die Frage, ob die richtigen Stellen in der richtigen Dosierung infiltriert wurden. Eine zu geringe Dosis erbringt in der Regel einen verringerten Therapieerfolg, eine zu hohe Dosis z.B. eine unerwünschte oder zu starke muskuläre Abschwächung. In seltenen Fällen bestehen auch Antikörper, die Frage nach einer Existenz einer natürlichen Immunität auf Botulinumtoxine ist noch nicht abschließend geklärt. Gerade im schmerztherapeutischen Bereich ist die lokale Behandlung einer somatoformen Schmerzstörung oder einer Fibromyalgie oft frustran, wobei die Möglichkeit einer Koexistenz mit einem lokalen Problem zu beachten und im Einzelfall auch aufzuklären ist. Bei der lokalen Injektion ist ferner die jeweilige Dosierung vor Ort in Abhängigkeit vom Injektionsvolumen und der Verdünnung zu beachten. Die Menge der Kochsalzlösung beeinflusst das spätere Injektionsgeschehen: Eine größere Menge bedeutet bei gleichen Injektionsvolumina eine geringere Konzentration vor Ort und umgekehrt; eine unterschiedliche Ausbreitung der Präparate (Diffusionsverhalten) ist Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.

Die normale Wirkdauer beträgt bei „muskulären“ Anwendungen sowie im Bereich der Schmerztherapie ca. 3 Monate, wobei sich dieses Intervall – v.a. bei regelmäßiger Anwendung – im Einzelfall auch etwas verlängern kann, im Bereich des Drüsengewebes beträgt die Wirkdauer normalerweise ca. 6 Monate [40]. Das Mindestintervall von 3 Monaten zwischen 2 Anwendungen sollte eingehalten werden, da in einer geringen Frequenz und unterschiedlich je nach Präparat mit der Bildung von neutralisierenden Antikörpern zu rechnen ist, welche jedoch auch als dosisabhängig gilt. Für die einzelnen Präparate existieren Höchstdosen, bei deren Überschreitung der In-Label-Use verlassen wird. Gerade im Bereich der neurologischen Indikationen ist oft eine sehr sorgsame Indikationsstellung notwendig, da die Höchstdosen bei komplexen Erkrankungsbildern schnell überschritten werden, zudem handelt es sich um eine seitens der Präparate hochpreisige Therapie von bis zu ca. 1700 € pro Behandlung in der Maximaldosis. Bei der Behandlung von einzelnen Muskeln existieren von den Herstellern/Vertreibern Dosisempfehlungen mit einer gewissen Spannbreite, wobei hier 3 Aspekte zu beachten sind:

  • 1. Für die Haupttypen Abo-, Inco- und Onabotulinumtoxin existieren vielfach in der Literatur publizierte Orientierungswerte in der Umrechnung, die Dosierungen der verschiedenen Präparate sind nicht 1:1 offiziell herstellerseitig umrechenbar; Incobotulinumtoxin und Onabotulinumtoxin gelten in etwa als dosisäquivalent, im Vergleich zum Abobotulinumtoxin kann man mit einem Verhältnis von ca. 1:2,5 rechnen, 50 U Incobotulinumtoxin und Onabotulinumtoxin entsprechen also ca. 125 U Abobotulinumtoxin [40].
  • 2. Von den Herstellern bzw. Vertreibern existieren Dosisempfehlungen, welche sich jedoch nur auf die zugelassenen Indikationen beschränken. So bedarf es in der Regel zur Behandlung außerhalb der Spastik geringerer Dosierungen als bei Spastik.
  • 3. Die individuelle Dosierung sollte sich immer an der Indikation, ggf. dem individuellen Muskelstatus sowie Vorerfahrungen richten: Im muskulären Bereich droht bei einer Unterdosierung ein ausbleibender oder geringerer Therapieeffekt, bei einer Überdosierung dagegen eine höhergradige Parese ohne stärkeren Effekt auf das Therapieziel.

Botulinumtoxin – Off-Label-Use im orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutischen Bereich

Es gibt bereits eine Anzahl von In-LabelIndikationen, welche auch in der Orthopädie-Unfallchirurgie und in der Schmerztherapie verankert sind. Hierbei sind in erster Linie zu nennen die Dystonien und die Spastiken, auch die infantile Zerebralparese. Daneben existiert eine echte offiziell zugelassene Schmerzmedikation in Form der chronischen Migräne. Schmerztherapeutisch sowie orthopädisch-unfallchirurgisch relevant ist auch der Umstand, dass Schmerzzustände bei Spastiken durch die Injektionen mit Botulinumtoxin ebenfalls positiv beeinflusst werden können, dies teilweise sogar mit rascherem Eintritt der Analgesie vor der antispastischen Wirkung, nach manchen Studien sogar mit analgetischer Wirkung bei Dosierungen unterhalb einer klinisch relevanten antispastischen Wirksamkeit. Daneben existiert eine Anzahl von Indikationen, für welche keine offizielle Zulassung besteht, die Anwendung jedoch als Heilversuch nach Ausschöpfung der zugelassenen Behandlungen erwogen werden kann [40].

Theoretische Überlegungen zum Off-Label-Use von
Botulinumtoxin

Botulinumtoxine eignen sich in der Regel nicht zur Behandlung akuter Geschehnisse, da die Wirkung erst nach Tagen, teilweise erst nach Wochen einsetzt. Grundsätzlich stehen bei der Behandlung die wissenschaftlich anerkannten Maßnahmen im Vordergrund, bei medikamentöser Behandlung sind zuerst offiziell zugelassene Präparate anzuwenden. Botulinumtoxine wurden jedoch immer schon auch außerhalb der Zulassung angewandt, so waren z.B. bestimmte Spastikformen nicht in der Indikationsliste enthalten, die urologische Behandlung der Harnblase war früher nur für sehr seltene Erkrankungen zugelassen, mit nachfolgender deutlicher Ausweitung der Indikationsliste, die infantile Zerebralparese ist weiterhin erst ab dem 2. Lebensjahr offiziell zur Behandlung zugelassen. Es gibt also eine Reihe von Indikationen, bei welchen grundsätzlich eine Ähnlichkeit zur Indikation, aber keine Identität besteht. Darüber hinaus existieren Indikationen grundsätzlich anderer Art.

Für die Anwendung von Botulinumtoxin bei solchen Indikationen sollten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein:

Herkömmliche Therapieverfahren sind im Einzelfall erfolglos, nebenwirkungsbelastet oder kontraindiziert.

ausführliche Aufklärung

Abklärung des Haftungsrisikos

hinreichende Qualifikation

möglichst gute wissenschaftliche Abdeckung.

Die Aufklärung muss zusätzlich zu den üblichen Bestandteilen auch darüber erfolgen, dass diese Therapieform nicht offiziell zugelassen ist. Sie beinhaltet auch eine wirtschaftliche Komponente, da die Kosten meist von den Betroffenen selber übernommen werden müssen, im Einzelfall kann eine Kostenübernahme bei der GKV bei unterschiedlichen Erfolgsaussichten beantragt werden, bei privaten Krankenversicherungen und Beihilfestellen oder bei Berufsgenossenschaften empfiehlt sich ein vorheriger Antrag auf Kostenübernahme.

Hinsichtlich des Haftungsrisikos ist zu prüfen, ob dies durch die bestehende Versicherung abgedeckt ist, grundsätzlich fehlt hier die Haftung der Hersteller bzw. Vertreiber bei potenziell auftretenden Komplikationen, welche bisher nicht bekannt waren, auch dies ist bei der Berücksichtigung des Haftungsrisikos der Therapeutin/des Therapeuten zu beachten.

Eine hinreichende Qualifikation ist im Zweifelsfalle – auch bei juristischen Auseinandersetzungen – sinnvoll und notwendig, es existieren mittlerweile eine Reihe von Qualifikationsmaßnahmen. Vor einer Anwendung ohne entsprechende Ausbildung – In-Label und noch viel mehr Off-Label – ist abzuraten.

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Abdeckung tut man sich mit der Indikationsstellung leichter, wenn für die jeweilige Indikation eine größere Anzahl von qualitativ möglichst hochwertigen Studien und vielleicht sogar Übersichtsarbeiten und/oder Metaanalysen vorliegen. Hierbei kann man pragmatisch – orientierend an verschiedenen Studienklassifikationen – in 3 Kategorien unterteilen (mit fließenden Übergängen):

Sinnvolle Indikationen,
mögliche Indikationen und Einzelfallentscheidungen

  • I. Sinnvolle Indikationen, für welche eine größere Anzahl von (überwiegend) positiven qualitativ hochwertigen Studien und ggf. systematische Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen vorliegen, mit (weitgehend) kongruenten Ergebnissen
  • II. Mögliche Indikationen, für welche eine kleinere Anzahl von (überwiegend) positiven qualitativ hochwertigen Studien, qualitativ geringerwertigen Studien und ggf. systematischen Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen vorliegen, Ergebnisse ggf. widersprüchlich bzw. positive Effekte inkongruent nachweisbar
  • III. Einzelfall-Indikationen, für welche nur einzelne Studien verschiedener Qualität und/oder widersprüchlichen Ergebnissen vorliegen

Die Unterscheidung zwischen den einzelnen Kategorien ist qualitativ (subjektiv), die Übergänge sind fließend und können sich durch neue Studien verschieben.

In die Kategorie I der sinnvollen Indikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) für unser Fachgebiet und fachübergreifend für die Schmerztherapie folgende Indikationen eingruppieren:

  • I.1 Epikondylitis humeroradialis
  • I.2 Myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schulterregion inkl. Cervikocephalgien
  • I.3 Plantarfasciitis
  • (I.4 Trigeminusneuralgie)

I.1 Epikondylitis humeroradialis

Für die Epikondylitis konnten seit 2000 in 6 Datenbanken und ergänzenden Recherchen 9 RCT mit insgesamt ca. 500 Fällen identifiziert werden, zzgl. Vorstudien, Parallelpublikationen und Nachfolgearbeiten [42–56]. Hierbei erfolgten die Infiltrationen mit Botulinumtoxin (BoTX) intramuskulär (in der Regel M. extensor carpi radialis longus/brevis und/oder M. extensor digitorum) bzw. in einer Studie am Sehnenspiegel. Eine weitere Studie verglich die Infiltration intramuskulär mit der Infiltration am Sehnenspiegel sowie mit einer Infiltration am Sehnenspiegel mit Kortikosteroiden (KS). Vier der RCT BTX versus Placebo zeigten für das Verum ein statistisch signifikante größere Schmerzreduktion, beide Studien versus KS am Sehnenspiegel zeigten eine ähnliche Wirksamkeit beider Substanzen. Eine Studie mit 2 unterschiedlichen Dosierungen zeigt Vorteile für die höhere Dosis und eine Studie BoTX versus Operation bei therapierefraktären Fällen eine Gleichwertigkeit (Tab. 3). Eine Reihe von Übersichtsarbeiten [57–62] und alle 3 aktuelleren Metaanalysen [63–65] mit 6–8 diesbezüglichen Studien bestätigen eine statistisch signifikant bessere Schmerzreduktion versus Placebo.

I.2 Myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS

und Schulterregion inkl.

Cervikocephalgien

Die Literaturrecherche erfolgte in analoger Durchführung. Für dieses Gebiet gestaltet sich deren systematisierte Darstellung vorwiegend aus 5 Gründen problematisch [66–76]:

  • 1. Variable Injektionsstellen: Eine Vielzahl von Studien adressiert klassische myofasziale Triggerpunkte im Bereich der Muskulatur der HWS/BWS und des Schultergürtels. Andere Studien behandeln jedoch auch Triggerpunkte im Bereich LWS und Becken. Manche Studien, vornehmlich im Bereich des Anwendungsgebietes Kopfschmerz, adressieren neben Stellen im Bereich HWS/BWS und Schultergürtel auch Muskelgruppen im Bereich der Halsvorderseite und/oder am Schädel.
  • 2. Variable Zielgrößen: Eine Reihe von Studien behandeln klassische myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schultergürtel, jedoch mit selektionierten Probandenklientel (z.B. nach HWS-Distorsion („Schleudertrauma“) oder mit der Fragestellung der Wirksamkeit bei verschiedenen Kopfschmerzformen.
  • 3. Variable Anzahl von Injektionsstellen: In manchen Arbeiten werden nur wenige und mitunter sogar nur eine einzige Stelle infiltriert, andere Arbeiten liefen über eine variable Anzahl von Stellen bis hin zu teils lokalisationsmäßig fixen, teils variablen Injektionsschemata mit einer größeren Anzahl von Injektionen.
  • 4. Vergleichsgruppen: Die sog. Placebotherapie mit Injektion von physiologischer Kochsalzlösung ist nach den Ergebnissen verschiedener Studien kein Placebo, sondern ebenfalls eine wirksame Therapie, ebenso wie die alleinige Einführung von Nadeln (dry needling). Die sogenannten placebokontrollierten Studien stellen also de facto „head-to-head“-Studien dar.
  • 5. Studiengröße: Eine Reihe von Studien umfasst nur kleinere Fallzahlen, mit potenziellen Problemen hinsichtlich der statistischen Aussagekraft. In dieser Übersichtsarbeit konzentrieren wir uns nur auf die (insg. 4) fallzahlstarken Arbeiten mit 100 und mehr Probanden.

Eine Studie verglich BoTX in 3 verschiedenen Dosierungen an 4–5 Stellen mit Placebo, 2 Studien BoTX an 10 Stellen mit schmerzorientierter bzw. fixer Zuordnung und eine Studie BoTX an 8 Stellen in 2 Dosierungen. Die 1. Studie zeigte statistisch signifikante Verbesserungen im Zeitverlauf ohne Signifikanzen im direkten Vergleich, die nächsten beiden Studien statistisch signifikante Vorteile für BoTX im direkten Vergleich und die 4. Studie Verbesserungen im Zeitverlauf (ohne Signifikanzberechnung) sowie nicht signifikante Vorteile für die höhere Dosis im direkten Vergleich (Tab. 4).

Insgesamt ergeben die größeren Studien durchgängig Ergebnisse, die auf eine Wirksamkeit mit Botulinumtoxin zur Behandlung von myofaszialen Triggerpunkten im Bereich HWS/BWS/Schultern hinweisen. Im Vergleich mit einer Anzahl von kleineren Studien scheint das Ergebnis auch von der Anzahl der Injektionen abzuhängen, Studien mit wenigen Injektionen zeigten tendenziell weniger effektive Ergebnisse. Neuere Metaanalysen mit vollständiger Erfassung der Studien zur Behandlung von myofaszialen Schmerzzuständen im Bereich der oberen Rückenpartie konnten in der Literatur nicht identifiziert werden.

I.3 Plantarfasciitis

Für die Plantarfasciitis konnten seit 2000 in 6 Datenbanken und ergänzenden Recherchen 11 RCT mit insgesamt ca. 530 Fällen identifiziert werden [77–88]. Die Infiltrationen an verschiedene Stellen und teilweise unter Ultraschallkontrolle, im Plantarfascienverlauf, am Ursprung und auch an der Wadenmuskulatur (Tab. 5).

Vier von fünf RCT zeigten für BoTX eine statistisch bessere Schmerzreduktion als Placebo, analog auch für klinische und/oder subjektive Parameter. Die 5 RCT BoTX vs. KS zeigten signifikante Verbesserungen gegenüber den Ausgangswerten, im direkten Vergleich teils ohne Unterschiede, teils mit Signifikanzen zugunsten BoTX. Ein RCT BoTX versus EWST zeigte eine Wirksamkeit beider Verfahren mit Vorteilen für die EWST. Alle 5 Metaanalysen jüngerer Zeit bestätigten die positiven Resultate für Botulinumtoxin [89–93].

I.4 Trigeminusneuralgie

Eine weitere Indikation, welche jedoch für das orthopädisch-unfallchirurgische Fachgebiet eher eine Differenzialdiagnose und in der Regel nur für Schmerztherapeutinnen und -therapeuten ein Therapiegebiet darstellt, ist die Trigeminusneuralgie. Die Technik ist für unser Fachgebiet einfach in Form von flächigen subkutanen Injektionen, bei Befall des 2. Ast auch intramuskuläre Injektionen. In der Literatur finden sich 5 höherwertige Studien mit durchgängig positiven Ergebnissen [94–98]: In allen 3 RCT war BoTX wirksamer als Placebo, ein weiter RCT zur Dosisfindung zeigte einen gleichwertigen Effekt in beiden Dosierungen, ein weiterer RCT zeigte eine Effektivität unabhängig vom Alter sowohl bei unter 60-Jährigen als auch bei über 80-Jährigen.

In die Kategorie II der möglichen Indikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) für unser Fachgebiet und fachübergreifend die Schmerztherapie folgende Indikationen eingruppieren:

Bruxismus (Injektion in den M. masseter: aktuelle Metaanalyse aus 2023 [99] von 4 Studien versus Placebo und 3 Studien versus Aufbiss-Schiene mit kleinen Fallzahlen zeigt signifikante Reduktion der maximale Beißkraft für Zeiträume bis einen Monat und 1–3 Monate sowie signifikante Schmerzreduktion für Zeiträume bis einen Monat, 1–3 Monate und 3–6 Monate). Diese Indikation könnte auch durch weitere Pilotstudien alternativ in die Kategorie I eingestuft werden.

Coxarthrose (extraartikuläre intramuskuläre Injektion: 1 RCT und 2 Pilotstudien mit Wirksamkeitsnachweisen) [100–102]

Diabetische Polyneuropathie der Füße (subkutane Injektion: 4 RCT BTX wirksamer als Placebo) [103–106]

Gonarthrose (intraartikuläre Injektion: 9 RCT mit unterschiedlichen Vergleichen versus Dextrose, Hyaluronsäure, Kortikosteroiden, versus „wait and see“, physikalische Therapie oder in verschiedenen Dosierungen, in der Regel Schmerzreduktionen gegenüber der Baseline, mit besseren Resultaten als Hyaluronsäure, physikalische Therapie und Abwarten, diametrale Ergebnisse bei verschiedenen Dosierungen sowie versus Placebo und versus Kortikosteroiden, ähnliche Ergebnissen bei den Funktionsskalen, aktuelle Übersichtsarbeiten und Metaanalysen bestätigen die Schmerzeffekte und die Funktionsverbesserungen) [107–122]

Myofasziale Triggerpunkte im Bereich LWS (intramuskuläre Injektion: 5 RCT BTX versus Placebo mit 3 RCT mit Effektivität von BTX, 1 RCT teilweise effektiver, 1 RCT ohne Unterschied) [123–127]

Piriformis-Syndrom (intramuskuläre Injektion: RCT BTX versus Placebo (BTX signifikant bessere Schmerzreduktion), BTX versus KS-LA versus Placebo (BTX signifikant bessere Schmerzreduktion versus KS-LA und versus Placebo) und BTX versus Ozon versus LA (BTX signifikant geringere Schmerzreduktion als die anderen beiden Therapien nach 1 und 2 Monaten, nach 3 und 6 Monaten signifikant höhere Schmerzreduktion, subjektiver Score analog, gemäß einer Metaanalyse signifikant weniger analgetisch wirksam KS und LA zusammen, signifikant stärker analgetisch wirksam als Placebo und gleichwertig zu KS oder LA alleine, gemäß einer weiteren Metaanalyse geringe Evidenz für eine analgetische Wirkung)) [128–132].

Postzosterneuralgie (subkutane Injektion: 2 RCT BTX wirksamer als Placebo) [133, 134]

Schulteraffektionen (intraartikuläre bzw. subakromiale Injektion bei adhäsiver Kapsulitis, Impingementsyndrom und Omarthrose, 1 RCT BTX wirksamer als Placebo, 2 von 3 RCT BTX wirksamer als KS, 1 RCT gleichwertig) [135–141]

Spannungskopfschmerzen (Infiltrationen verschiedener Muskeln im Kopf,- Hals- Nackenbereich: 2 aktuelle Metaanalysen zeigen eine moderate Signifikanz, 2 aktuellere systematische Übersichten befürworten die Therapie) [142–145]

Vorderer Knieschmerz (extraartikulärer Zugang, 1 RCT BTX wirksamer als Placebo, 4 Pilotstudien mit Wirksamkeitsnachweise) [146–150]

In die Kategorie III der Einzelfallindikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) eine Vielzahl von Indikationen in unser Fachgebiet und fachübergreifend in der Schmerztherapie eingruppieren, so z.B. Muskelentspannung bei Achillessehnenruptur, Amputationen – Exoprothesen: Hyperhydrose und Stumpfschmerz, CRPS Beine, Hallux valgus, intraartikuläre Therapie von Reizzuständen nach Knieendoprothese, Morton-Neurom und OSG-Arthrose [151–159].

Ausbildung

Eine Reihe von Ausbildungsangeboten existieren im Bereich der offiziellen Indikationen; für unser Fachgebiet sowie fachübergreifend schmerztherapeutisch existiert seit mittlerweile über 10 Jahren mit inzwischen über 400 Teilnehmerinnen/Teilnehmern eine Ausbildungsserie der IGOST (Sektion Schmerz DGOOC und DGOU). Nähere Informationen auf www.igost.de und der Homepage der Kursserie www.orthobotulinumtoxin.de.

Diskussion

Botulinumtoxin ist ein seit über 30 Jahren bekanntes Medikament zur Behandlung einer Vielzahl von Indikationen, welche sich im Laufe der Zeit bezüglich der Zulassung stetig erweitert hat. Für die verschiedenen Präparate existiert eine breite Palette an zugelassenen Anwendungsgebieten. Klassische Indikationen wie Dystonien betreffen das Fachgebiet Orthopädie-Unfallchirurgie eher in Ausnahmefällen, häufiger für unser Gebiet relevant sind Spastiken, fachübergreifend relevant für Schmerztherapeutinnen und -therapeuten ist ferner die chronische Migräne. Die Anwendungen im Bereich der ästhetischen Medizin sind nicht an bestimmte Fachgruppen gebunden und für unser Fachgebiet mit genuin breiter Erfahrung in Injektionen gut erlernbar. Neben den zugelassenen Indikationen existiert eine Reihe von Anwendungsgebieten primär aus unserem Fachgebiet, für welche offiziell keine Zulassung bestehen, die aber dennoch als Reserveverfahren eine sinnvolle Therapiealternative darstellen können. Eine relativ breite wissenschaftliche Absicherung mit guten Therapieergebnissen ergibt sich aktuell für die Anwendungen bei myofaszialen Triggerpunkten im Bereich HWS/BWS/Schultern sowie für die Epikondylitis humeroradialis und die Plantarfasciitis. Für Schmerztherapeutinnen und -therapeuten interessant ist auch die Indikation der Trigeminusneuralgie. Interessante weitere Indikationen mit einer Literaturlage oberhalb von nur einzelnen und/oder qualitativ geringer wertigeren Studien ergeben sich im Bereich Bruxismus, Coxarthrose, Gonarthrose, myofasziale Triggerpunkte LWS, Postzosterneuralgie, Schulteraffektionen, Spannungskopfschmerz und vorderer Knieschmerz. Darüber hinaus existiert eine Reihe von weiteren Indikationen im Bereich des Bewegungsapparates, wobei hier die Literaturlage nicht über einzelne und zum Teil qualitativ nicht so hochwertige Studien hinausgeht. Insgesamt stellt Botulinumtoxin eine interessante Substanz dar, welche für unser Fachgebiet der Orthopädie-Unfallchirurgie einige zusätzliche Therapieoptionen ermöglicht, speziell auch für Schmerztherapeutinnen und -therapeuten mit zusätzlichen Behandlungsspektren jenseits der klassischen Erkrankungen unseres Fachgebietes. Die Anwendung setzt jedoch entsprechende Fachkenntnisse voraus, welche in speziellen Kursen vermittelt werden können.

Interessenkonflikte:

Keine angegeben.

Das Literaturverzeichnis zu
diesem Beitrag finden Sie auf:
www.online-oup.de.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Stephan Grüner

Praxis Dr. Grüner

Kalker Hauptstraße 217

51103 Köln

dsg@dr-gruener.de

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