Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch- schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin

Die normale Wirkdauer beträgt bei „muskulären“ Anwendungen sowie im Bereich der Schmerztherapie ca. 3 Monate, wobei sich dieses Intervall – v.a. bei regelmäßiger Anwendung – im Einzelfall auch etwas verlängern kann, im Bereich des Drüsengewebes beträgt die Wirkdauer normalerweise ca. 6 Monate [40]. Das Mindestintervall von 3 Monaten zwischen 2 Anwendungen sollte eingehalten werden, da in einer geringen Frequenz und unterschiedlich je nach Präparat mit der Bildung von neutralisierenden Antikörpern zu rechnen ist, welche jedoch auch als dosisabhängig gilt. Für die einzelnen Präparate existieren Höchstdosen, bei deren Überschreitung der In-Label-Use verlassen wird. Gerade im Bereich der neurologischen Indikationen ist oft eine sehr sorgsame Indikationsstellung notwendig, da die Höchstdosen bei komplexen Erkrankungsbildern schnell überschritten werden, zudem handelt es sich um eine seitens der Präparate hochpreisige Therapie von bis zu ca. 1700 € pro Behandlung in der Maximaldosis. Bei der Behandlung von einzelnen Muskeln existieren von den Herstellern/Vertreibern Dosisempfehlungen mit einer gewissen Spannbreite, wobei hier 3 Aspekte zu beachten sind:

  • 1. Für die Haupttypen Abo-, Inco- und Onabotulinumtoxin existieren vielfach in der Literatur publizierte Orientierungswerte in der Umrechnung, die Dosierungen der verschiedenen Präparate sind nicht 1:1 offiziell herstellerseitig umrechenbar; Incobotulinumtoxin und Onabotulinumtoxin gelten in etwa als dosisäquivalent, im Vergleich zum Abobotulinumtoxin kann man mit einem Verhältnis von ca. 1:2,5 rechnen, 50 U Incobotulinumtoxin und Onabotulinumtoxin entsprechen also ca. 125 U Abobotulinumtoxin [40].
  • 2. Von den Herstellern bzw. Vertreibern existieren Dosisempfehlungen, welche sich jedoch nur auf die zugelassenen Indikationen beschränken. So bedarf es in der Regel zur Behandlung außerhalb der Spastik geringerer Dosierungen als bei Spastik.
  • 3. Die individuelle Dosierung sollte sich immer an der Indikation, ggf. dem individuellen Muskelstatus sowie Vorerfahrungen richten: Im muskulären Bereich droht bei einer Unterdosierung ein ausbleibender oder geringerer Therapieeffekt, bei einer Überdosierung dagegen eine höhergradige Parese ohne stärkeren Effekt auf das Therapieziel.

Botulinumtoxin – Off-Label-Use im orthopädisch-unfallchirurgisch-schmerztherapeutischen Bereich

Es gibt bereits eine Anzahl von In-LabelIndikationen, welche auch in der Orthopädie-Unfallchirurgie und in der Schmerztherapie verankert sind. Hierbei sind in erster Linie zu nennen die Dystonien und die Spastiken, auch die infantile Zerebralparese. Daneben existiert eine echte offiziell zugelassene Schmerzmedikation in Form der chronischen Migräne. Schmerztherapeutisch sowie orthopädisch-unfallchirurgisch relevant ist auch der Umstand, dass Schmerzzustände bei Spastiken durch die Injektionen mit Botulinumtoxin ebenfalls positiv beeinflusst werden können, dies teilweise sogar mit rascherem Eintritt der Analgesie vor der antispastischen Wirkung, nach manchen Studien sogar mit analgetischer Wirkung bei Dosierungen unterhalb einer klinisch relevanten antispastischen Wirksamkeit. Daneben existiert eine Anzahl von Indikationen, für welche keine offizielle Zulassung besteht, die Anwendung jedoch als Heilversuch nach Ausschöpfung der zugelassenen Behandlungen erwogen werden kann [40].

Theoretische Überlegungen zum Off-Label-Use von
Botulinumtoxin

Botulinumtoxine eignen sich in der Regel nicht zur Behandlung akuter Geschehnisse, da die Wirkung erst nach Tagen, teilweise erst nach Wochen einsetzt. Grundsätzlich stehen bei der Behandlung die wissenschaftlich anerkannten Maßnahmen im Vordergrund, bei medikamentöser Behandlung sind zuerst offiziell zugelassene Präparate anzuwenden. Botulinumtoxine wurden jedoch immer schon auch außerhalb der Zulassung angewandt, so waren z.B. bestimmte Spastikformen nicht in der Indikationsliste enthalten, die urologische Behandlung der Harnblase war früher nur für sehr seltene Erkrankungen zugelassen, mit nachfolgender deutlicher Ausweitung der Indikationsliste, die infantile Zerebralparese ist weiterhin erst ab dem 2. Lebensjahr offiziell zur Behandlung zugelassen. Es gibt also eine Reihe von Indikationen, bei welchen grundsätzlich eine Ähnlichkeit zur Indikation, aber keine Identität besteht. Darüber hinaus existieren Indikationen grundsätzlich anderer Art.

Für die Anwendung von Botulinumtoxin bei solchen Indikationen sollten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein:

Herkömmliche Therapieverfahren sind im Einzelfall erfolglos, nebenwirkungsbelastet oder kontraindiziert.

ausführliche Aufklärung

Abklärung des Haftungsrisikos

hinreichende Qualifikation

möglichst gute wissenschaftliche Abdeckung.

Die Aufklärung muss zusätzlich zu den üblichen Bestandteilen auch darüber erfolgen, dass diese Therapieform nicht offiziell zugelassen ist. Sie beinhaltet auch eine wirtschaftliche Komponente, da die Kosten meist von den Betroffenen selber übernommen werden müssen, im Einzelfall kann eine Kostenübernahme bei der GKV bei unterschiedlichen Erfolgsaussichten beantragt werden, bei privaten Krankenversicherungen und Beihilfestellen oder bei Berufsgenossenschaften empfiehlt sich ein vorheriger Antrag auf Kostenübernahme.

Hinsichtlich des Haftungsrisikos ist zu prüfen, ob dies durch die bestehende Versicherung abgedeckt ist, grundsätzlich fehlt hier die Haftung der Hersteller bzw. Vertreiber bei potenziell auftretenden Komplikationen, welche bisher nicht bekannt waren, auch dies ist bei der Berücksichtigung des Haftungsrisikos der Therapeutin/des Therapeuten zu beachten.

Eine hinreichende Qualifikation ist im Zweifelsfalle – auch bei juristischen Auseinandersetzungen – sinnvoll und notwendig, es existieren mittlerweile eine Reihe von Qualifikationsmaßnahmen. Vor einer Anwendung ohne entsprechende Ausbildung – In-Label und noch viel mehr Off-Label – ist abzuraten.

Hinsichtlich der wissenschaftlichen Abdeckung tut man sich mit der Indikationsstellung leichter, wenn für die jeweilige Indikation eine größere Anzahl von qualitativ möglichst hochwertigen Studien und vielleicht sogar Übersichtsarbeiten und/oder Metaanalysen vorliegen. Hierbei kann man pragmatisch – orientierend an verschiedenen Studienklassifikationen – in 3 Kategorien unterteilen (mit fließenden Übergängen):

Sinnvolle Indikationen,
mögliche Indikationen und Einzelfallentscheidungen

  • I. Sinnvolle Indikationen, für welche eine größere Anzahl von (überwiegend) positiven qualitativ hochwertigen Studien und ggf. systematische Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen vorliegen, mit (weitgehend) kongruenten Ergebnissen
  • II. Mögliche Indikationen, für welche eine kleinere Anzahl von (überwiegend) positiven qualitativ hochwertigen Studien, qualitativ geringerwertigen Studien und ggf. systematischen Übersichtsarbeiten mit und ohne Metaanalysen vorliegen, Ergebnisse ggf. widersprüchlich bzw. positive Effekte inkongruent nachweisbar
  • III. Einzelfall-Indikationen, für welche nur einzelne Studien verschiedener Qualität und/oder widersprüchlichen Ergebnissen vorliegen
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