Übersichtsarbeiten - OUP 05/2023

Sinnvolle und mögliche orthopädisch-unfallchirurgisch- schmerztherapeutische Indikationen von Botulinumtoxin

Die Unterscheidung zwischen den einzelnen Kategorien ist qualitativ (subjektiv), die Übergänge sind fließend und können sich durch neue Studien verschieben.

In die Kategorie I der sinnvollen Indikationen kann man nach heutigem Wissensstand (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Korrektheit) für unser Fachgebiet und fachübergreifend für die Schmerztherapie folgende Indikationen eingruppieren:

  • I.1 Epikondylitis humeroradialis
  • I.2 Myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schulterregion inkl. Cervikocephalgien
  • I.3 Plantarfasciitis
  • (I.4 Trigeminusneuralgie)

I.1 Epikondylitis humeroradialis

Für die Epikondylitis konnten seit 2000 in 6 Datenbanken und ergänzenden Recherchen 9 RCT mit insgesamt ca. 500 Fällen identifiziert werden, zzgl. Vorstudien, Parallelpublikationen und Nachfolgearbeiten [42–56]. Hierbei erfolgten die Infiltrationen mit Botulinumtoxin (BoTX) intramuskulär (in der Regel M. extensor carpi radialis longus/brevis und/oder M. extensor digitorum) bzw. in einer Studie am Sehnenspiegel. Eine weitere Studie verglich die Infiltration intramuskulär mit der Infiltration am Sehnenspiegel sowie mit einer Infiltration am Sehnenspiegel mit Kortikosteroiden (KS). Vier der RCT BTX versus Placebo zeigten für das Verum ein statistisch signifikante größere Schmerzreduktion, beide Studien versus KS am Sehnenspiegel zeigten eine ähnliche Wirksamkeit beider Substanzen. Eine Studie mit 2 unterschiedlichen Dosierungen zeigt Vorteile für die höhere Dosis und eine Studie BoTX versus Operation bei therapierefraktären Fällen eine Gleichwertigkeit (Tab. 3). Eine Reihe von Übersichtsarbeiten [57–62] und alle 3 aktuelleren Metaanalysen [63–65] mit 6–8 diesbezüglichen Studien bestätigen eine statistisch signifikant bessere Schmerzreduktion versus Placebo.

I.2 Myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS

und Schulterregion inkl.

Cervikocephalgien

Die Literaturrecherche erfolgte in analoger Durchführung. Für dieses Gebiet gestaltet sich deren systematisierte Darstellung vorwiegend aus 5 Gründen problematisch [66–76]:

  • 1. Variable Injektionsstellen: Eine Vielzahl von Studien adressiert klassische myofasziale Triggerpunkte im Bereich der Muskulatur der HWS/BWS und des Schultergürtels. Andere Studien behandeln jedoch auch Triggerpunkte im Bereich LWS und Becken. Manche Studien, vornehmlich im Bereich des Anwendungsgebietes Kopfschmerz, adressieren neben Stellen im Bereich HWS/BWS und Schultergürtel auch Muskelgruppen im Bereich der Halsvorderseite und/oder am Schädel.
  • 2. Variable Zielgrößen: Eine Reihe von Studien behandeln klassische myofasziale Triggerpunkte im Bereich HWS/BWS und Schultergürtel, jedoch mit selektionierten Probandenklientel (z.B. nach HWS-Distorsion („Schleudertrauma“) oder mit der Fragestellung der Wirksamkeit bei verschiedenen Kopfschmerzformen.
  • 3. Variable Anzahl von Injektionsstellen: In manchen Arbeiten werden nur wenige und mitunter sogar nur eine einzige Stelle infiltriert, andere Arbeiten liefen über eine variable Anzahl von Stellen bis hin zu teils lokalisationsmäßig fixen, teils variablen Injektionsschemata mit einer größeren Anzahl von Injektionen.
  • 4. Vergleichsgruppen: Die sog. Placebotherapie mit Injektion von physiologischer Kochsalzlösung ist nach den Ergebnissen verschiedener Studien kein Placebo, sondern ebenfalls eine wirksame Therapie, ebenso wie die alleinige Einführung von Nadeln (dry needling). Die sogenannten placebokontrollierten Studien stellen also de facto „head-to-head“-Studien dar.
  • 5. Studiengröße: Eine Reihe von Studien umfasst nur kleinere Fallzahlen, mit potenziellen Problemen hinsichtlich der statistischen Aussagekraft. In dieser Übersichtsarbeit konzentrieren wir uns nur auf die (insg. 4) fallzahlstarken Arbeiten mit 100 und mehr Probanden.

Eine Studie verglich BoTX in 3 verschiedenen Dosierungen an 4–5 Stellen mit Placebo, 2 Studien BoTX an 10 Stellen mit schmerzorientierter bzw. fixer Zuordnung und eine Studie BoTX an 8 Stellen in 2 Dosierungen. Die 1. Studie zeigte statistisch signifikante Verbesserungen im Zeitverlauf ohne Signifikanzen im direkten Vergleich, die nächsten beiden Studien statistisch signifikante Vorteile für BoTX im direkten Vergleich und die 4. Studie Verbesserungen im Zeitverlauf (ohne Signifikanzberechnung) sowie nicht signifikante Vorteile für die höhere Dosis im direkten Vergleich (Tab. 4).

Insgesamt ergeben die größeren Studien durchgängig Ergebnisse, die auf eine Wirksamkeit mit Botulinumtoxin zur Behandlung von myofaszialen Triggerpunkten im Bereich HWS/BWS/Schultern hinweisen. Im Vergleich mit einer Anzahl von kleineren Studien scheint das Ergebnis auch von der Anzahl der Injektionen abzuhängen, Studien mit wenigen Injektionen zeigten tendenziell weniger effektive Ergebnisse. Neuere Metaanalysen mit vollständiger Erfassung der Studien zur Behandlung von myofaszialen Schmerzzuständen im Bereich der oberen Rückenpartie konnten in der Literatur nicht identifiziert werden.

I.3 Plantarfasciitis

Für die Plantarfasciitis konnten seit 2000 in 6 Datenbanken und ergänzenden Recherchen 11 RCT mit insgesamt ca. 530 Fällen identifiziert werden [77–88]. Die Infiltrationen an verschiedene Stellen und teilweise unter Ultraschallkontrolle, im Plantarfascienverlauf, am Ursprung und auch an der Wadenmuskulatur (Tab. 5).

Vier von fünf RCT zeigten für BoTX eine statistisch bessere Schmerzreduktion als Placebo, analog auch für klinische und/oder subjektive Parameter. Die 5 RCT BoTX vs. KS zeigten signifikante Verbesserungen gegenüber den Ausgangswerten, im direkten Vergleich teils ohne Unterschiede, teils mit Signifikanzen zugunsten BoTX. Ein RCT BoTX versus EWST zeigte eine Wirksamkeit beider Verfahren mit Vorteilen für die EWST. Alle 5 Metaanalysen jüngerer Zeit bestätigten die positiven Resultate für Botulinumtoxin [89–93].

I.4 Trigeminusneuralgie

Eine weitere Indikation, welche jedoch für das orthopädisch-unfallchirurgische Fachgebiet eher eine Differenzialdiagnose und in der Regel nur für Schmerztherapeutinnen und -therapeuten ein Therapiegebiet darstellt, ist die Trigeminusneuralgie. Die Technik ist für unser Fachgebiet einfach in Form von flächigen subkutanen Injektionen, bei Befall des 2. Ast auch intramuskuläre Injektionen. In der Literatur finden sich 5 höherwertige Studien mit durchgängig positiven Ergebnissen [94–98]: In allen 3 RCT war BoTX wirksamer als Placebo, ein weiter RCT zur Dosisfindung zeigte einen gleichwertigen Effekt in beiden Dosierungen, ein weiterer RCT zeigte eine Effektivität unabhängig vom Alter sowohl bei unter 60-Jährigen als auch bei über 80-Jährigen.

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