Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2015

Supramalleoläre Valgus-Deformität bei partieller Nekrose der distalen Tibiaepiphyse
Kasuistik mit 3 FallberichtenCase report with 3 cases

Manuel Nell1, 2, Carsten Rist3, Johannes Hamel1, 2

Zusammenfassung: Es werden 3 Fälle einer epiphysären supramalleolären Wachstumsstörung bei Fragmentation und V.a. auf partielle Nekrose der anterolateralen distalen Tibiaepiphyse dargestellt. In 2 der Fälle besteht eine milde Fibulaverkürzung, in einem dieser Fälle eine leichte Unterschenkel-Außendrehfehlstellung. Zwei der 3 Jungen weisen keinerlei sonstige skelettäre oder neurogene Begleiterkrankung auf, in einem Fall besteht ein korrekturbedürftiges Genu varum, sodass als Grunderkrankung eine milde Form einer epiphysären Dysplasie zu diskutieren ist. Vergleichbare Fälle von nicht-posttraumatischem supramalleolärem Valgus-Fehlwachstum ohne Vorliegen einer anderen, z.B. neurogenen Grunderkrankung wurden nach Kenntnis der Autoren bisher nicht beschrieben. Die Patienten wurden mit supramalleolär korrigierender Osteotomie und/oder
Hemi-Epiphyseodese behandelt, wobei einmal ein schweres Valgus-Rezidiv im weiteren Verlauf zu beobachten war. Mögliche ätiologische Faktoren des supramalleolären Fehlwachstums mit partieller Epiphysennekrose und therapeutische Optionen werden im Literaturvergleich diskutiert.

Schlüsselwörter: OSG-Valgus, Epiphysennekrose, Fibulalänge, guided growth

Zitierweise
Nell M, Rist C, Hamel J. Supramalleoläre Valgus-Deformität bei partieller Nekrose der distalen Tibiaepiphyse. Kasuistik mit 3 Fallberichten. OUP 2015; 07: 356–362 DOI 10.3238/oup.2015.0356–0362

Summary: Three cases of supramalleolar epiphyseal growth-disturbance with partial necrosis of the distal tibial epiphysis with fragmentation are reported. In 2 cases the fibula shows slight shortening, in one case a slight external-rotation-disturbance of the tibia was found additionally. Two of 3 male children are previously healthy, in one case a mild form of epiphyseal dysplasia was suspected because of additional varus-growth-disturbance around both knee joints. Ankle valgus has been described in posttraumatic cases or neurological and bony disorders, but not in otherwise healthy children. Patients were treated with supramalleolar osteotomy and/or hemiepiphysiodesis. The etiology of ankle valgus and therapeutic aspects should be discussed in context with the current literature.

Keywords: ankle valgus, epiphyseal necrosis, fibula length, guided growth

Citation
Nell M, Rist C, Hamel J. Supramalleolar valgus deformity with partial necrosis of the distal tibial epiphysis. Case report with 3 cases.
OUP 2015; 07: 356–362 DOI 10.3238/oup.2015.0356–0362

Einleitung

Valgus-Deformitäten des oberen Sprunggelenkes (OSG) sind prinzipiell im Kindes- und Jugendalter selten, können jedoch sekundär auf dem Boden verschiedener Pathologien gehäuft in Erscheinung treten. Neurologische Grunderkrankungen, vorbehandelte idiopathische Klumpfüße, Fibulalängendefekte unterschiedlicher Genese, traumatisch bedingte Wachstumsfugenverletzungen sowie knöcherne Neoplasien oder syndromale Grunderkrankungen können zu Valgus-Deformitäten des OSG führen. Es ist auch eine seltene idiopathische Valgusfehlstellung bekannt, die im angloamerikanischen Sprachraum als „Volkman`s ankle“ bezeichnet wird [1]. In der Literatur finden sich allerdings nur vereinzelt Berichte über supramalleoläre Valgusfehlstellungen aufgrund von Epiphysennekrosen bei neurologischen Grunderkrankungen oder posttraumatischen Zuständen. OSG-Valgus-Deformitäten bei partieller Nekrose der distalen Tibiaepiphyse sowie bei ansonsten unauffälligen Kindern wurden bisher aber nicht beschrieben. Das valgische Fehlwachstum verläuft progredient und erfordert in den meisten Fällen die chirurgische Intervention. Die klinische Symptomatik ist häufig anfänglich milde, kann jedoch zu schmerzhaften subfibularen Impingmentsyndromen und unbehandelt im weiteren Verlauf zu Instabilitäten und OSG-Arthrose führen. Der Pes planovalgus oder Fehlstellungen des 1. Strahls sind assoziierte Deformitäten [2]. Es wird über 3 Fälle einer epiphysären supramalleolären Wachstumsstörung im Sinne der Valgus-Deformität aufgrund einer partiellen Nekrose der Tibiaepiphyse berichtet. Davon sind in 2 Fällen weder Grunderkrankungen bekannt, noch findet sich eine als relevant anzunehmende positive Traumaanamnese. Es findet sich jedoch in 2 Fällen eine milde Fibulaverkürzung, in einem Fall eine relative Fibulaüberlänge und in einem Fall eine mäßigradige Außenrotationsfehlstellung. In einem Fall lag der Verdacht auf eine familiäre epiphysäre Dysplasie auch mit Beteiligung der Kniegelenkregion vor. Die Ätiologie, die Bedeutung der Fibula-Länge sowie das therapeutische Vorgehen und insbesondere der Einsatz von Maßnahmen im Sinne des „guided growth“ sollen diskutiert werden.

Fallkasuistiken

Fall 1

Es handelt sich um einen zum Zeitpunkt der Erstvorstellung 15-jährigen Jungen mit seit 5 Monaten bestehenden und progredient verlaufenden erheblichen Schmerzen im Bereich des linken OSG. Ein Jahr zuvor habe er nach einem Trampolinspringen für wenige Wochen ebenfalls Schmerzen im linken Sprunggelenkbereich verspürt, die allerdings selbstlimitierend verliefen. Radiologisch zeigt sich eine deutliche Valgusfehlstellung des OSG mit imponierender Verschmälerung und Verdichtung der anterolateralen distalen Epiphyse sowie der distalen Tibiawachstumsfuge (Abb. 1). Dieser Befund zeigt sich interessanterweise ebenfalls auf der Gegenseite, jedoch in weitaus milderer Ausprägung – das rechte Sprunggelenk ist zudem asymptomatisch. Die Dünnschicht-CT bestätigt destruktive Veränderungen der distalen Epiphyse einschließlich der tibialen Gelenkfläche in ihrem zentral lateralen und anterolateralen Bereich im Sinne einer Nekrose mit Höhenminderung und Fragmentation (Abb. 2a-b). Es zeigt sich wegen des daraus resultierenden Minderwachstums lateralseitig eine Lateralisationstendenz des Talus mit erhöhtem medialem Abstand zwischen Talus und Malleolus medialis und zu vermutender Syndesmoseninsuffizienz.

In Zusammenschau der klinisch-radiologischen Befunde wird eine supramalleoläre varisierende Tibiaosteotomie durchgeführt in Kombination mit einer medialen Hemi-Epiphysiodese (mittels perkutan eingebrachter Kleinfragment-Spongiosaschraube) und einer Fibulaverlängerungsosteotomie mit Interposition eines trikortikalen Beckenkammspans. Gleichzeitig wird die vordere Syndesmose mittels Stellschraube versorgt (Abb. 3). Sechs Monate postoperativ wird die Hemi-Epiphysiodese aufgelöst und die tibiofibular gelegene Stellschraube entfernt. Jedoch verbleibt nach insgesamt sehr guter Korrektur in der Frontalebene eine funktionell beeinträchtigende 20°-Außenrotationsfehlstellung des Unterschenkels, die 14 Monate nach dem ersten Eingriff mittels 20° innenrotierender Re-Osteotomie von Tibia und Fibula korrigiert wird. Zwölf Monate postoperativ zeigt sich der Patient beschwerdefrei bei normalem Gangbild und guter Beweglichkeit im OSG sowie geschlossenen Wachstumsfugen an Tibia und Fibula (Abb. 4).

Fall 2

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4