Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2015

Supramalleoläre Valgus-Deformität bei partieller Nekrose der distalen Tibiaepiphyse
Kasuistik mit 3 FallberichtenCase report with 3 cases

Ein 11-jähriger Junge wird zur Abklärung einer beidseitigen Pes planovalgus-Deformität vorstellig, links dominiert hierbei insbesondere die Rückfußvalgus-Komponente. Radiologisch fällt jedoch eine supramalleoläre Valgusfehlstellung des OSG von 20° auf, gleichzeitig zeigt sich eine Nekrosezone mit Fragmentation bei scholligem Zerfall der anterolateralen distalen Tibiaepiphyse (Abb. 5 und 6a-d). Klinisch fällt zudem ein beidseitiges Genu varum auf, das links ausgeprägter als auf der Gegenseite ist. Der Verdacht auf eine milde Form der epiphysären Dysplasie wird gestellt. Es wird zunächst eine supramalleoläre varisierende Korrekturosteotomie mit gleichzeitiger Osteotomie der Fibula durchgeführt, kombiniert mit einer temporären medialen Hemi-Epiphyseodese in Schraubentechnik (Abb. 7). Die Metallentfernung kann 12 Monate postoperativ erfolgen. Ein Jahr später wird bei beidseitigem Genu varum die temporäre Epiphysiodese linksseitig mittels 8-plate (Fa. Orthofix) durchgeführt. Im weiteren Verlauf entwickelt sich jedoch ein deutlicher Rezidiv-OSG-Valgus bei offenbar vollständigem Wachstumsstillstand der anterolateralen Epiphysenanteile, der retrospektiv den Verdacht auf einen knöchernen „bar“ aufkommen lässt (Abb. 8a-b).

Fall 3

Es handelt sich um einen zum Zeitpunkt der Erstvorstellung 13-jährigen sportlich aktiven (Fußball) Jungen, der seit 6 Monaten erhebliche belastungsabhängige Schmerzen im Bereich des rechten OSG beklagt. Es sind keine Grunderkrankungen bekannt, die Traumaanamnese ist negativ. Unter mehrmonatiger Sportkarenz verbessert sich die Beschwerdesymptomatik im Alltag auf ein Minimum. Die initiale Bildgebung mittels Röntgen und MRT zeigt eine Nekrotisierung der lateralen Anteile der distalen Tibiaepiphyse mit entsprechendem Höhenverlust derselben bei einer supramalleolären Valgusfehlstellung von 11° (Abb. 9 und 10). Im Verlauf von 6 Monaten nimmt der OSG-Valgus nicht zu, die zentralen lateralen und anterolateralen Epiphysenareale sind stark verdichtet und höhengemindert – der Nekrotisierungsprozess scheint sich im Kondensationsstadium zu befinden. Gleichzeitig zeigt sich eine relative Überlänge der Fibula. Es wird eine temporäre mediale Hemi-Epiphysiodese der distalen Tibiawachstumsfuge mit Epiphysiodese der distalen Fibulawachstumsfuge durchgeführt – der Verlauf ist noch nicht absehbar.

Diskussion

Die Nekrose der distalen Tibiaepiphyse ist ein sehr seltenes Krankheitsbild, das erstmals von Siffert und Arkin als Komplikation einer Sprunggelenkfraktur vom Typ Salter-Harris IV bei einem 11-jährigen Kind beschrieben wurde [3]. Weitere vereinzelte Berichte über Epiphysennekrosen der distalen Tibia aufgrund von Sprunggelenkfrakturen sind bekannt [4]. Gascó et al. berichteten erstmals über 2 Fälle avaskulärer Nekrosen der distalen Tibiaepiphyse ohne traumatische Genese, jedoch auf dem Boden neurologischer Störungen [5].

Die atraumtische Epiphysennekrose mit konsekutiver OSG-Valgus-Deformität und ohne Vorliegen einer aus der Literatur bekannten Ursache für eine supramalleoläre epiphysäre Wachstumsstörung ist den Autoren zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bekannt. Bezogen auf die Sprunggelenkregion findet sich lediglich ein Fallbericht über die atraumatische Epiphysennekrose der distalen Fibula [6].

In Fall 2 und 3 ist jeweils die Traumaanamnese negativ. Fall 1 beschreibt vorübergehende Schmerzen im Bereich der linken Sprunggelenkregion nach einem zu vermutenden Distorsionsereignis beim Trampolinspringen. Zwar zeigte sich zum Zeitpunkt des o.g. Ersteingriffs eine insuffiziente vordere Syndesmose, jedoch erscheint den Autoren die traumatische Genese als nicht beweisführend für die Entwicklung der supramalleolären epiphysären Wachstumsstörung mit anterolateraler Epiphysennekrose, da sich derselbe Befund in geringerer Ausprägung auch auf der asymptomatischen Gegenseite zeigt. Zudem finden sich in 2 von 3 Fällen keine weiteren Grunderkrankungen. In einem Fall besteht zusätzlich ein beidseitiges Genu varum, sodass eine milde Form epiphysärer Dysplasie als Grunderkrankung denkbar wäre und zu diskutieren ist. Diese angeborene Skelettdysplasie ist in der den Autoren bekannten Literatur nicht als Ursache der OSG-Valgus-Deformität aufgeführt und der Zusammenhang zwischen epiphysärer Dysplasie und Ausbildung einer Epiphysennekrose bleibt letztlich ungeklärt.

Valgus-Deformitäten des OSG treten jedoch gehäuft auf sowohl bei neurologischen Grunderkrankungen wie der infantilen Zerebralparese, der Myelomeningozele und der Poliomyelitis [1, 2, 7] als auch beim idiopathischen Klumpfuß [1, 8]. Rupprecht et al. finden den idiopathischen Klumpfuß in einer retrospektiven Analyse nach medialer Schrauben-Epiphysiodese bei valgischem Fehlwachstum als häufigste Ursache dieser Deformität wieder, wobei das OSG-Valgus eines der Überkorrekturphänomene nach vorbehandeltem Klumpfuß darstellt [8]. Hereditäre multiple Exostosen führen ebenfalls häufig zu einem OSG-Valgus beim wachsenden Skelett [7], als weitere knöcherne Neoplasie ist der Morbus Ollier beschrieben[9]. Interessanterweise ist hingegen das posttraumatisch bedingte OSG-Valgus in seiner Häufigkeit eine seltene Ursache, obwohl die distale Tibia-Wachstumsfuge nach Peterson et al. die am zweithäufigsten verletzte Wachstumsfuge ist [10] und insgesamt 11 % aller Fugenverletzungen ausmacht [11]. Syndromale Zustände wie z.B. die Trisomie 21 sind ebenfalls mit dem valgischen Fehlwachstum des OSG assoziiert [1]. Im angloamerikanischen Sprachraum wird eine idiopathische OSG-Valgus-Wachstumsstörung als „Volkman`s ankle“ beschrieben [1], jedoch in der Literatur nicht weiter ausgeführt.

Angeborene oder erworbene Fibuladefekte führen wiederum häufig zur Ausbildung eines OSG-Valgus beim heranwachsenden Kind, sodass insbesondere der Fibulalänge in der Pathogenese eine zentrale Bedeutung zukommt. Wiltse beschrieb 1972 die Ausbildung eines OSG-Valgus nach Fibularesektion bei Kindern unter 10 Jahren und führte das Fehlwachstum auf den Längenverlust der Fibula zurück [12]. Valgus-Deformitäten des OSG werden auch nach Entnahme von (gefäßgestielten) Fibulatransplantaten im Rahmen knöcherner Rekonstruktionen, v.a. in der onkologischen Chirurgie, beobachtet [13].

Die Fibula gilt grundsätzlich als wichtiger Stabilisator der lateralen Anteile des OSG. Um dieser Funktion gerecht zu werden, ist eine intakte Fibulalänge notwendig. Während des Wachstums geht der Längengewinn der Fibula größtenteils von der proximalen Wachstumsfuge aus [13]. Primäre oder sekundär erworbene Diskontinuitäten oder Defektzonen im Schaftbereich der Fibula führen somit während des Wachstums zu einer progredienten Verkürzung der Fibula mit einhergehendem Verlust ihrer das Sprunggelenk lateralseitig zu stabilisierenden Funktion. Um einer sekundären Destabilisierung mit Ausbildung einer Valgus-Deformität im OSG entgegenzuwirken, wurde bereits Mitte des letzten Jahrhunderts von Langenskiold sowohl bei primärer kongenitaler Fibulapseudarthrose als auch bei sekundärer Fibulapseudarthrose nach Fibularesektionen und Fibulatransplantat-Entnahmen die distale tibio-fibulare Fusion beschrieben [14].

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