Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2015

Supramalleoläre Valgus-Deformität bei partieller Nekrose der distalen Tibiaepiphyse
Kasuistik mit 3 FallberichtenCase report with 3 cases

Durch den (relativen) Längenverlust verliert der Talus seine laterale Abstützung mit Entwicklung progredienter valgischer Sprunggelenkinstabilität bei abnormer Krafteinwirkung, die den distalen lateralen Anteil der Tbiaepiphyse in ihrem weiteren Wachstum hemmt [13, 15]. Hsu et al. sowie Moon et al. beschreiben in Fällen mit Fibuladefekten den frühzeitigen Verschluss des lateralen Anteils der distalen Tibia-Wachstumsfuge aufgrund abnormer Lasteinwirkung [16, 17]. Die Kraft wirkt atypisch konzentriert auf den lateralen Anteil der Wachstumsfuge und der Epiphyse ein – mit zunehmendem Valgus-Fehlwachstum lateralisiert klinisch die Ferse, es findet sich ein zunehmend prominenter medialer Malleolus und Schmerzen aufgrund eines subfibularen Impingements können imponieren [1].

Normalerweise beteiligt sich die Fibula teilweise an der Lastaufnahme und Lastverteilung der unteren Extremität. Lambert beschrieb 1971 in einer biomechanischen Kadaverstudie, dass die Fibula beim Erwachsenen 1/6 der gesamten statischen Last trägt [18]. Bei Fibuladefektsituation am wachsenden Skelett kann die Last nicht mehr von der proximalen Fibula auf die distale Wachstumsfuge übertragen werden [15]. In den dargestellten Fällen findet sich keine primäre oder sekundäre Fibuladefektsituation, jedoch scheint in 2 der 3 beschriebenen Fälle eine milde, relative Fibulaverkürzung vorzuliegen (Abb. 1, 5). In diesen Fällen kann auch nicht von einer fibularen Hemimelie als Ursache ausgegangen werden, es fehlen die Beinverkürzung sowie Veränderungen der tarsalen skelettären Elemente. Normalerweise sollte sich die distale Wachstumsfuge der Fibula auf oder etwas unterhalb des Tibia-Plateaus befinden [1]. Im Hinblick auf die in der Literatur diskutierte Pathophysiologie sehen die Autoren dieser Fallserie in allen 3 Fällen des OSG-Valgus eine ausgebildete Nekrose der streng anterolateralen Anteile der distalen tibialen Epiphyse. Lediglich Gascó berichtete über 2 Fälle einer atraumatischen Nekrose der gesamten distalen Tibiaepiphyse ohne Ausbildung einer Valgus-Deformität des OSG [5].

In der Regel erfordert das progrediente Valgus-Fehlwachstum die operative Therapie. Dabei reicht das Spektrum operativer Eingriffe von der Langenskiold-Operation (distale tibio-fibulare Fusion) über die transepiphyseale Osteotomie der distalen Tibia bis hin zur supramalleolären tibialen Korrekturosteotomie und zur medialen Hemi-Epiphysiodese der distalen Tibia. Das Prinzip der Hemi-Epiphysiodese ist dabei mit dem Begriff des „guided growth“ (Wachstumslenkung) verbunden. Unabhängig vom Operationsverfahren bestehen die Behandlungsziele darin, den OSG-Valgus zu korrigieren, ein möglichst neutral eigestelltes und funktionelles OSG für das restliche Wachstum zu garantieren und weiteren Deformitäten sowie degenerativen Gelenkveränderungen präventiv entgegenzuwirken. Gerade die supramalleoläre Korrekturosteotomie und die mediale Hemi-Epiphyseodese stellen effektive Maßnahmen mit guten bis sehr guten Ergebnissen in der Behandlung der Valgus-Deformität dar [1, 2, 9].

Im Vergleich zur supramallelären Korrekturosteotomie ist die Morbidität der Hemi-Epiphysiodese gering [1, 2, 9] und kann technisch einfach und reproduzierbar mittels einer 3,5 mm- oder 4,5 mm-Schraube bzw. mit Staples und – in den letzten Jahren wachsender Beliebtheit – 8-plate (Fa. Orthofix) durchgeführt werden. In einer Nachuntersuchungsserie von Stevens et al. zeigte sich nach medialer Epiphysiodese weder die Überkorrektur mit Ausbildung eines symptomatischen OSG-Varus noch ein vorzeitiger Fugenschluß [1]. Wie in Fall 1 und 2 beschrieben, sind diese beiden Eingriffe auch zur Kombination geeignet (Abb. 3, 7), vergleichbare Darstellungen finden sich jedoch in der Literatur nicht. In Fall 1 wurde die Indikation zur Kombination beider Verfahren aus folgenden Gründen gestellt: Bei deutlicher Valgus-Deformität und ausgeprägter Nekrosezone in den zentralen lateralen und anterolateralen Bereichen der Gelenkfläche mit Mitbeteiligung der anterolateralen Wachstumsfuge ist eine sofortige varisierende Korrektur notwendig zur

  • 1) Wiederherstellung einer physiologischen Lasteinwirkung auf die distale Tibia, zur
  • 2) dadurch sofort erzielbaren Entlastung des betroffenen nekrotischen Areals mit
  • 3) Möglichkeit zur Ausheilung der Nekrose selbst.

Der Meinung der Autoren nach kann die isolierte Hemi-Epiphysiodese ohne weitere Maßnahmen die o.g. Therapieziele nicht erfüllen, da sie als wachstumslenkender Eingriff nur eine voranschreitende Korrektur ermöglicht. Außerdem war in Fall 1 der Patient mit 15 Jahren nur für das „guided growth“-Verfahren bereits zu alt. Dennoch wurde die Hemi-Epiphysiodese als additive Maßnahme vor generell zu erwartendem Fugenschluss zum temporären Verschließen der anterolateralen Fuge bewusst hinzugefügt. Bei gleichzeitig bestehender relativer Verkürzung der Fibula – wie in 2 der 3 Fälle – kann diese mittels Einbringen eines Beckenkammspans verlängert werden, um ihre Funktion als lateraler Stabilisator wieder zu gewinnen und um die tibiale Korrekturosteotomie in ihrer Wirkung zu unterstützen. In Fall 3 wird auf die supramalleoläre Korrekturosteotomie aufgrund deutlicher Beschwerdebesserung bei gleichzeitig bildgebend anzunehmender Konsolidierung des nekrotischen Prozesses und fehlender Progredienz der OSG-Valgus-Deformität verzichtet und die mediale Hemi-Epiphysiodese zur Wachstumslenkung durchgeführt.

Im Gegensatz zu Fall 1 und 2 besteht in Fall 3 diesmal eine relative Überlänge der Fibula, die zum Schutz des tibialen Wachstums ebenfalls mittels Schrauben-Epiphysiodese in ihrem Wachstum gebremst wird. Über den weiteren kurzfristigen postoperativen Verlauf kann aufgrund des erst kürzlich durchgeführten Eingriffs noch nicht berichtet werden. In Fall 1 wurde im Verlauf die 20° Außenrotationsfehlstellung der Tibia erst nach gelungener operativer Korrektur der Frontalebene klinisch offensichtlich. Ob eine vermehrte Unterschenkelaußenrotation auch kausal eine Rolle im Sinne rotationsbedingt vermehrt einwirkender Scherkräfte auf die anterolateralen Epiphysen- und Fugenanteile spielt, kann nicht beurteilt werden, ist in der Literatur jedenfalls nicht geläufig. In Fall 2 kam es im weiteren Verlauf zu einem deutlichen korrekturbedürftigen Rezidiv der OSG-Valgus-Deformität (Abb. 8 a-b), die retrospektiv auf eine definitive Schädigung der anterolateralen Fugenanteile mit Wachstumsstillstand ähnlich wie bei der Entwicklung eines knöchernen „bar“ schließen lässt. In Rezidivfällen eines OSG-Valgus wird generell die Re-Hemi-Epiphyseodese empfohlen [2], in unserem Fall muss das genaue Procedere allerdings erst festgelegt werden.

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