Übersichtsarbeiten - OUP 03/2017

Therapieoptionen bei chronischen Schmerzsyndromen der Wirbelsäule

Tugrul Kocak1, Michael Kraus1, Heiko Reichel1, Jörg Winckelmann2, Sebastian Weckbach1

Zusammenfassung: Bei der konservativen Behandlung chronischer Schmerzsyndrome der Wirbelsäule können nicht-medikamentöse, medikamentöse und invasive Therapieformen zur Anwendung kommen. Unter den in
dieser Arbeit dargestellten Therapiemöglichkeiten scheint die aktivierende Bewegungstherapie langfristig den besten
Behandlungserfolg aufzuweisen. Bei therapierefraktären Verläufen und Vorliegen von komplexen Krankheitsprozessen empfiehlt sich die Einleitung einer interdisziplinären multimodalen Schmerztherapie, die sich in einer Vielzahl von
Studien effektiver als Routinebehandlungen erwiesen hat.
Allerdings muss auf die einheitliche Umsetzung der definierten Programminhalte geachtet werden.

Schlüsselwörter: Multimodale Schmerztherapie, konservative Therapie, Schmerzsyndrom, chronischer Rückenschmerz

Zitierweise
Kocak T, Kraus M, Reichel H, Winckelmann J, Weckbach S: Therapieoptionen bei chronischen Schmerzsyndromen der Wirbelsäule.
OUP 2017; 3: 142–146 DOI 10.3238/oup.2017.0142–0146

Summary: For conservative treatment of chronic pain syndromes of the spine non-medicamentous, medicamentous, and invasive therapy methods can be applied. Among the therapy possibilities described in this publication, the activating movement therapy seems to show the best treatment success. In therapy refractory cases and existence of complex disease processes, initiating of an interdisciplinary multimodal pain therapy is recommended, which is proven more effective than routine treatment in a lot of studies. However, consistent implementation of the defined program contents should be observed.

Keywords: multimodal pain therapy, conservative treatment, pain syndrome, chronic low back pain

Citation
Kocak T, Kraus M, Reichel H, Winckelmann J, Weckbach S: Therapy options for chronic pain syndromes of the spine.
OUP 2017; 3: 142–146 DOI 10.3238/oup.2017.0142–0146

Einleitung

Etwa 80 % aller Menschen in den Industrienationen klagen mindestens einmal in ihrem Leben über eine Episode mit signifikanten Rückenschmerzen, die in den USA jährliche Kosten von über 50 Milliarden Dollar verursachen [1]. Durch eine Rückenschmerzstudie in der deutschen Erwachsenenpopulation bei über 9000 Befragten wurde ermittelt, dass die Stichtagprävalenz von Rückenschmerzen 37,1 %, die Jahresprävalenz 76,0 % und die Lebenszeitprävalenz 85,5 % betragen [2]. Zu den bedeutsamsten Folgen von Rückenschmerzen zählt eine verminderte Leistungsfähigkeit im Beruf und damit der Arbeitsausfall. Sowohl bei AOK-Pflichtmitgliedern im Jahr 2010 [3] als auch bei BARMER GEK-Mitgliedern im Jahr 2009 [4] wiesen Patienten mit Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M54) die längsten Arbeitsunfähigkeitstage auf. Aus Untersuchungen des Robert Koch-Instituts aus den Jahren 2003 und 2009 geht hervor, dass Frauen in der deutschen Bevölkerung häufiger über Rückenschmerzen klagen als Männer, bei beiden Geschlechtern jedoch eine lineare Zunahme der Häufigkeit chronischer Rückenschmerzen besteht [5].

Die Volkskrankheit Rückenschmerz betrifft zu 70–80 % die Lendenwirbelsäule (z.B. als Lumboischialgie), zu 20–30 % die Halswirbelsäule (z.B. als Cervicocephalgie) sowie zu 2 % die Brustwirbelsäule (z.B. als Intercostalneuralgie) und wird weiter in spezifische und unspezifische Rückenschmerzen unterteilt [6]. Hierbei klagen geschätzt 20 % der Patienten über spezifische Rückenschmerzen und 80 % der Patienten über unspezifische Rückenschmerzen [6, 7]. Ursachen des spezifischen Rückenschmerzes sind häufig Bandscheibenvorfälle, Spinalkanalstenosen sowie Spondylolisthesen und selten Frakturen, Metastasen, Infektionen oder nicht-spinale Prozesse. Bei Patienten mit unspezifischem Rückenschmerz ist hingegen eine anatomische oder neurophysiologische Ursache nicht zu identifizieren, wie z.B. bei Bewegungsmangel, einseitigen körperlichen Belastungen oder muskulären Verspannungen [8].

Gegenüber den akuten Rückenschmerzen, die bis zu 6 Wochen andauern können, gut lokalisierbar sind und eine Warnfunktion besitzen, handelt es sich bei chronischen Rückenschmerzen um ein eigenständiges Krankheitsbild mit einer Schmerzanamnese von über 12 Wochen, diffusen sowie multilokulären Schmerzpunkten und verlorener Warnfunktion [9].

Bei der Evaluierung der Diagnose und weiterer Therapieplanung kann bei Rückenschmerzpatienten das Flaggenmodell hilfreich sein. Neben akuten Risikofaktoren (red flags) wie beispielsweise neurologischen Ausfällen können Risikofaktoren einer etwaigen Chronifizierung (yellow flags) z.B. zu mehrwöchigen Arbeitsunfähigkeitszeiten führen.

Eine wichtige Therapieoption in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen der Wirbelsäule stellen multimodale Schmerztherapie-Programme dar, auf die in den folgenden Kapiteln neben weiteren in Frage kommenden Therapiebausteinen besonders eingegangen wird.

Therapieoptionen

Zur Orientierung der möglichen Therapieoptionen von chronischen Schmerzsyndromen der Wirbelsäule ist die zuletzt im Oktober 2015 bearbeitete Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Kreuzschmerz hilfreich [10]. Hierbei wird unterteilt in nicht-medikamentöse und medikamentöse Maßnahmen. Grundsätzliche Voraussetzungen hierfür sind:

Aktivierung und Motivierung der Patienten

Additive medikamentöse Therapie zur Umsetzung aktivierender Maßnahmen

Frühzeitige Erarbeitung multi- und interdisziplinärer Behandlungspläne

Individuelle Abstimmung des Behandlungsplans zwischen Arzt und Patient

Nicht-medikamentöse
Therapie

Bewegungs- und Sporttherapie

Zur Kräftigung der Muskulatur und zur Förderung der Stabilisierung spielt die Bewegungstherapie neben der allgemeinen medizinischen Versorgung und passiven Therapieanwendungen eine entscheidende Rolle in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzpatienten.

Entspannungsverfahren

Diverse Entspannungstechniken, ggf. in Kombination mit anderen Therapieverfahren im Rahmen multimodaler Programme, sollen chronische Kreuzschmerzen und die körperliche Funktionsfähigkeit positiv beeinflussen.

Ergotherapie

Ergotherapeutische Maßnahmen fokussieren sich insbesondere auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit von chronifizierten Patienten. Im Rahmen multimodaler Behandlungsprogramme können mit der Anwendung von speziellen Verfahren (z.B. work hardening) Übungen zur funktionellen Wiederherstellung, Arbeitsanpassung und -ausdauer erlernt werden.

Manuelle Therapie
(Manipulation/Mobilisation)

Manualtherapeutische Anwendungen an der Lendenwirbelsäule oder den Iliosakralgelenken können nach Ausschluss von Kontraindikationen (z.B. erhöhtes Frakturrisiko) durchgeführt werden.

Massage

Massageanwendungen können in Kombination mit der Bewegungstherapie zur Compliance der chronischen Rückenschmerzpatienten für aktivierende Maßnahmen hilfreich sein.

Verhaltenstherapie

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