Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Zervikogene Kopfschmerzen
Die Halswirbelsäule als Schlüsselorgan im Kopfschmerz-Management

Ricarda Seemann, Ueli Böhni, Hermann Locher

Zusammenfassung:
Zervikogener Kopfschmerz ist als sekundärer Kopfschmerz definiert und entsteht durch eine funktionelle oder strukturelle Störung der Halswirbelsäule. Begleitende Nackenschmerzen sind häufig, aber nicht zwingend vorhanden. Konvergenzphänomene zwischen oberer zervikaler und trigeminaler Nozizeption führen häufig zu symptomatischen Überschneidungen mit primären Kopfschmerzarten wie Migräne oder Spannungskopfschmerz, was Differentialdiagnose und Management zu einer echten Herausforderung macht.

Schlüsselwörter:
Zervikogener Kopfschmerz, zervikozephales Syndrom, zervikotrigeminale Konvergenz, segmentale Dysfunktion, Manuelle Medizin

Zitierweise:
Seemann R, Böhni U, Locher H: Zervikogene Kopfschmerzen. Die Halswirbelsäule als Schlüsselorgan im Kopfschmerz-Management
OUP 2023; 12: 100–105
DOI 10.53180/oup.2023.0100-0105

Summary: Cervicogenic cephalalgia is defined as a secondary headache caused by a functional or structural disorder of the cervical spine. Accompanying neck pain is common, but not mandatory. Convergence phenomena between upper cervical nociception and trigeminal nociception often result in symptomatic overlap with primary headache types such as migraine or tension-type headache, making differential diagnosis and management a real challenge.

Keywords: headache, cervicogenic cephalalgia, cervicocephalic syndrome, cervicotrigeminal complex, somatic dysfunction, manual medicine

Citation: Seemann R, Böhni U, Locher H: Cervicogenic cephalalgia. The cervical spine as a key to headache management
OUP 2023; 12: 100–105. DOI 10.53180/oup.2023.0100-0105

R. Seemann: Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Tettnang & Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie, Berlin

U. Böhni: Zenit, Zentrum für interdisziplinäre Therapie des Bewegungsapparates, Schaffhausen, Schweiz

H. Locher: Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Tettnang

Zervikogener Kopfschmerz in der internationalen
Klassifikation von
Kopfschmerzen ICHD-3

Kopfschmerzen sind ein häufiges und wiederkehrendes Phänomen in der Bevölkerung: In einer Befragung des Robert-Koch-Instituts gaben ca. die Hälfte der Befragten (57,5 % der Frauen und 44,4 % der Männer) an, innerhalb des vergangenen Jahres von Kopfschmerzen betroffen gewesen zu sein [1]. Aufgrund der meist kurzen Beschwerdeepisoden und vergleichsweise eher seltenen Inanspruchnahme medizinischer Leistungen gehören Kopfschmerzerkrankungen, im Gegensatz bspw. zu Rückenschmerzen, dennoch nicht zu den gängigsten Konsultationsgründen in allgemeinärztlichen oder orthopädischen Praxen [2] und die Schätzungen zur Prävalenz einzelner Kopfschmerzentitäten sind sehr variabel.

Die neueste Version der Kopfschmerzklassifikation der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (International Headache Society, IHS) von 2018 listet über 200 verschiedene Kopfschmerzarten auf [3] und unterscheidet primäre (ohne morphologisch-anatomisches Korrelat) und sekundäre Kopfschmerzformen. Einen systematischen Überblick über die Klassifikation erlaubt Abbildung 1.

Zu den primären Kopfschmerzen gehören u.a. die klassische Migräne oder der Spannungskopfschmerz. Der zervikogene Kopfschmerz ist eine sekundäre Kopfschmerzform und definiert als „Kopfschmerz, der durch eine Störung in der Halswirbelsäule und der zu ihr gehörigen Knochen-, Wirbel- und/oder Weichteilgewebe-Komponenten verursacht wird, gewöhnlich, jedoch nicht unweigerlich begleitet von Nackenschmerzen“ [3]. Nicht selten gibt es Überschneidungen zwischen den verschiedenen Kopfschmerzarten, was die Differentialdiagnose und das Management von Kopfschmerzen zu einer Herausforderung macht: Während das Vorliegen von Nackenschmerzen eines der Hauptkriterien für zervikogenen Kopfschmerz darstellt, liegen immerhin bei bis zu 68 % der Patientinnen und Patienten mit primärem Kopfschmerz ebenfalls Nackenschmerzen als Symptom vor [4, 5]. Entsprechend wird auch der erfahrene Diagnostiker immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob Nackenschmerzen nun Begleitphänomen oder Ursache von Kopfschmerzen sind oder ob ein primärer und sekundärer Kopfschmerz parallel vorliegen. Bei der Unterscheidung helfen die von der Cervicogenic Headache International Study Group (CHISG) [6] und der IHS [3] erarbeiteten Diagnosekriterien (Kasten), wobei jedoch unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden.

Einige Fragen bleiben bei den diagnostischen Kriterien für zervikogenen Kopfschmerz der IHS offen. Dazu gehört unter anderem die Überlegung, einen durch ein zerviko-myofasziales Schmerzsyndrom verursachten Kopfschmerz unter der Rubrik „Kopfschmerz vom Spannungstyp“ zu führen (bislang bzw. bis zur Klärung des Sachverhaltes wird er im Anhang der Klassifikation geführt). Aus orthopädisch-manualmedizinischer Sicht liegen myofasziale Befunde häufig kombiniert mit segmentalen Dysfunktionen und Dysbalancen der Halswirbelsäule vor und der Kopfschmerz ist damit klar zervikogener Genese. Auch Kopfschmerzen, die durch eine Radikulopathie der (oberen) HWS verursacht werden und durch Konvergenzphänomene zwischen oberer zervikaler und trigeminaler Nozizeption zu erklären sind, werden noch nicht als „zervikogen“ eingestuft, sondern ebenfalls im Anhang geführt. Die diagnostischen Kriterien für zervikogenen Kopfschmerz nach CHISG postulieren eine deutlich breitere Definition des zervikogenen Kopfschmerzes, welche zu vielen Überschneidungen z.B. mit Migräne führt. Nicht zuletzt weil aber primäre Kopfschmerzarten rein klinisch charakterisiert werden und es bislang kein bildgebendes Korrelat gibt, während degenerative, radiologisch nachweisbare Veränderungen der Halswirbelsäule schon ab der Lebensmitte häufiger werden, ist große Sorgfalt geboten mit der Diagnose „zervikogener Kopfschmerz“, um den Betroffenen keine diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten vorzuenthalten.

Neuroanatomische
Betrachtungen

Von neuroanatomischer Bedeutung für die Erklärung des zervikogenen Kopfschmerzes ist die enge Verbindung von sensiblen afferenten Fasern aus den ersten 3 zervikalen Segmenten (Nacken, Hirnhäute der hinteren Schädelgrube) mit schmerzhaften trigeminalen Afferenzen aus Gesichtsbereich und Hirnhäuten der vorderen Schädelgrube. Diese konvergieren im sog. trigeminozervikalen Komplex im Hirnstamm und dem oberen Zervikalmark auf aufsteigende Bahnen zum Thalamus (Abb. 2). Die zugrundeliegenden Mechanismen ähneln also trigeminusbasierten primären und sekundären Kopfschmerzen, was einen Teil der typischen halbseitigen Schmerzen und der Ausstrahlung von okzipital nach frontal erklärt. Entsprechend können hochzervikale strukturelle oder funktionelle Störungen zu Kopfschmerzen führen; umgekehrt können aber auch primäre Kopfschmerzen wie Migräne oder Spannungskopfschmerz mit hochzervikalen Symptomen und Nackenschmerzen einhergehen, was die Differentialdiagnose zur Herausforderung macht. Zusätzlich können die rezeptiven Felder trigeminaler Neurone zugleich intra- und extrakranial vorkommen; eine schmerzhafte Reizung von myofaszialen Strukturen extrakranial kann also eine meningeale Reizung intrakranial mit konsekutiven Kopfschmerzen auslösen und umgekehrt.

Diagnostik und Therapie des zervikogenen
Kopfschmerzes

Anamnese, Untersuchung und bildgebende Verfahren

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