Übersichtsarbeiten - OUP 03/2023

Zervikogene Kopfschmerzen
Die Halswirbelsäule als Schlüsselorgan im Kopfschmerz-Management

Aus der eingehenden Kopfschmerzanamnese, welche insbesondere Dauer und Häufigkeit der Episoden sowie die Charakteristik des Kopfschmerzes abfragt, können oft bereits Hinweise auf das Vorliegen eines zervikogenen Kopfschmerzes oder einer zervikogenen Komponente abgeleitet werden. Nicht selten können die Patientinnen und Patienten sehr genau lokalisieren von wo aus der Schmerz sich in die Kopfregion ausbreitet, z.B. aus dem oberen Nackenbereich.

Die körperliche Untersuchung umfasst nach der orientierenden neurologischen Untersuchung zum Ausschluss akuter neurologischer Pathologien die orientierende globale Bewegungsprüfung der HWS mit Rotation, Seitneigungsprüfung, Reklination und Inklination (Kinn-Jugulum-Abstand). Daran anschließend wird die Halswirbelsäule einer subtilen segmentalen manualmedizinischen Diagnostik unterzogen [8, 9]. Hierbei werden segmentale Dysfunktionen im Sinne nozireaktiv veränderter Muskelspannungsmuster und deren funktionelles Verhalten überprüft. Ziel ist eine Aussage darüber, ob eine reversible oder akut nicht reversible Dysfunktion von Wirbelgelenken oder Wirbelsäulensegmenten vorliegt, welche einer manuellen Intervention zugänglich ist. Abbildung 3a illustriert die neurophysiologischen Vorgänge, die einer segmentalen Dysfunktion zugrunde liegen.

Bildgebende Verfahren schließen sich immer dann an, wenn Hinweise auf relevante strukturelle Veränderungen bestehen. Ein konventionelles Röntgenbild der HWS sollte regelmäßig Bestandteil der Diagnostik sein, insbesondere wenn die Beschwerden schon länger andauern. Es erlaubt das Einordnen der Untersuchungsbefunde in Bezug auf bereits vorhandene degenerative Veränderungen und ermöglicht bei Fehlen von Kontraindikationen die direkte Einleitung therapeutischer Maßnahmen, ggfs. auch unter Nutzen manipulativer Techniken der Manuellen Medizin.

Therapie und multimodales Management

Kann die Diagnose „zervikogener Kopfschmerz“ gestellt werden, wird unter Berücksichtigung der Differentialtherapie möglicher parallel bestehender primärer Kopfschmerzformen ein therapeutischer Plan erstellt. Oft kann beim ersten Arzt-Patienten-Kontakt bereits eine manualmedizinische Intervention erfolgen. Es hat sich folgende therapeutische Hierarchie bewährt, welche in ihren Einzelkomponenten teils parallel eingeleitet werden kann, deren Reihenfolge jedoch einzuhalten ist [10]:

  • 1. Adäquate Analgesie (medikamentös, ggfs. Infiltrationen)
  • 2. Beseitigung von Nozigeneratoren (funktionell und strukturell)
  • 3. Beseitigung von segmentaler Dysfunktion einschließlich myofaszialer Befunde
  • 4. Verbesserung muskulärer Dysbalancen, Training von Koordination und Stabilität
  • 5. Eigenaktivitäten zielgerichtet steuern, problemorientiertes Selbstmanagement der Patientin/des Patienten fördern.

Die Therapie chronisch-rezidivierender Kopfschmerzen sollte interdisziplinär und interprofessionell gestaltet werden und multimodal ausgerichtet sein. Im Falle zervikogener Kopfschmerzen sind interventionelle Techniken wie Nervenblockaden und Gelenkinfiltrationen diagnostisch sinnvoll und eventuell (kurzfristig) therapeutisch zur Linderung einsetzbar. Orale nicht-Opioide/NSAR sollten ebenfalls keine Dauertherapie darstellen, können aber insbesondere in der o.g. therapeutischen Hierarchie zum Rückbau von Sensibilisierungsvorgängen notwendig sein. Für Muskelrelaxantien, Antidepressiva und Antiepileptika gibt es keine validen Studiendaten, ihr Einsatz ist jedoch nach individueller Abwägung durchaus versuchsweise möglich. Bei zervikogenen Kopfschmerzen ist die Manuelle Therapie der Massage überlegen und der medikamentösen Therapie gleichwertig [11, 12]. Mobilisierende und manipulative Techniken der Manuellen Therapie sind auch bei primären Kopfschmerzen wie Migräne und Spannungskopfschmerz wirksam [13]. Manuelle Therapie ermöglicht eine direkte Kontaktaufnahme mit der Patientin/dem Patienten und ist im Rahmen der multimodalen Therapie von Kopfschmerzen häufig ein für die Patientin/den Patienten greifbares, unmittelbar zur Linderung beitragendes Instrument, welches auch im längerfristigen Kopfschmerzmanagement seriell (z.B. in Abständen von mehreren Wochen) ärztlich einsetzbar ist. Abbildung 3b illustriert die Möglichkeiten der propriozeptiven Einflussnahme auf die Schmerzverarbeitung über den Tractus spinothalamicus. Ziel manueller Therapieverfahren ist die Aktivierung inhibitorischer Afferenzen auf das spinothalamische Projektionsneuron über GABAerge Interneurone. Techniken der Manualtherapie umfassen mobilisierende Techniken und Muskeltechniken wie den Hand-Glisson, das suboccipital release zur Detonisierung der Nackenmuskulatur, die latero-laterale Traktionsmobilisation und Strain-Counterstrain-Techniken kombiniert mit postisometrischer Relaxation. Zusätzlich können bei geeigneter Indikation Manipulationstechniken zur Anwendung kommen.

Fallbeispiele

Kasuistik: 76-jährige Patientin mit Kopfschmerzen nach Sturz vor mehreren Wochen

Anamnese: Eine 76-jährige pensionierte Sportlehrerin stellte sich mit Nacken- und Kopfschmerzen vor. Vor 6 Wochen war sie zu Hause gestürzt und hatte direkt im Anschluss über Nackenschmerzen geklagt, eine Woche später waren Kopfschmerzen dazugekommen.

Bei der klinischen Untersuchung imponierte eine globale Einschränkung der HWS-Rotation mit rechts/links 10/0/10° sowie palpatorisch eine starke Irritation von C1–C3 ohne freie Richtung.

Die konventionelle Röntgendiagnostik zeigte eine ausgeprägte atlantodentale Arthrose und Spondylarthrosen atlantoaxial sowie C2/3 (Abb. 4).

Diagnose und Therapie: In Zusammenschau der klinischen und bildgebenden Befunde wurde die Diagnose „traumatisch aktivierte Arthrosen im Kopfgelenksbereich mit konsekutiven zervikogenen Kopfschmerzen“ gestellt. Es erfolgten manuelle Traktionsmobilisierungen seriell über mehrere Sitzungen unter initialer NSAR-Gabe. Nach 6 Wochen war die Patientin beschwerdefrei. Die Beweglichkeit war mit rechts/links 50/0/50° deutlich gebessert.

Kommentar: Degenerative Veränderungen im Bereich der Kopfgelenke können manchmal über Jahrzehnte asymptomatisch bleiben um dann bei habituellen äußeren Anlässen therapieresistent symptomatisch zu werden. Es liegen periphere Sensibilisierungen der Nozizeptoren mit Anzeichen spinaler Sensibilisierung und zervikokranialen Konvergenzreaktionen vor. Dies führt zu nozireaktiven Hypomobilitäten, die wiederum der manuellen und myofaszialen Therapie unter vorüberhegendem NSAR Schutz zugänglich sind.

Kasuistik: 58-jährige Patientin mit Kopfschmerzen und Schwindel seit über einem Jahr

Anamnese: Eine 58-jährige Verwaltungsfachfrau stellte sich mit seit über einem Jahr bestehenden Kopfschmerzen und Schwindelanfällen vor. Diese hätten nach einem Sommerurlaub angefangen, wo sie viel geschwommen sei. Anamnestisch berichtete sie auf Nachfrage von einem Sturz vom Baum im 12. Lebensjahr, in dessen Folge sie 1 Jahr lang „mit Schiefhals herumgelaufen“ sei.

Klinisch zeigte sich eine rechtsbetonte globale Rotationseinschränkung mit rechts/links 30/0/40° sowie eine deutliche Irritation im Bereich C1–C3 linksbetont. Eine freie Richtung war nicht zu ermitteln, durch tiefe Palpation im Bereich C2 waren ausstrahlende Schmerzen in die linke Gesichts-und Kopfhälfte auslösbar.

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