Arzt und Recht - OUP 07-08/2012

Zweigpraxis und Konkurrenzschutz

Rechtsanwalt Dr. C. Osmialowski, Karlsruhe

Einleitung

Die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung erfolgt für den Ort der Niederlassung (Vertragsarztsitz). § 24 der Zulassungsverordnung-Ärzte (Ärzte-ZV) schreibt vor, dass der Vertragsarzt dort seine Sprechstunde halten muss. Jedoch räumt Abs. 3 dieser Regelung auch die Möglichkeit ein, außerhalb des Vertragsarztsitzes an weiteren Orten vertragsärztlich tätig zu werden („Zweigpraxis“).

Durch das zum 1.1.2012 in Kraft getretene GKV-Versorgungsstrukturgesetz wurden die Möglichkeiten erleichtert, in einer Zweigpraxis vertragsärztlich tätig zu werden. Bisher war eine Zweigpraxisgenehmigung von der Kassenärztlichen Vereinigung nur dann zu erlangen, wenn die ordnungsgemäße Versorgung der Versicherten am Vertragsarztsitz gar nicht beeinträchtigt wurde. Durch einen Zusatz in § 24 Abs. 3 Ziffer 2 Ärzte-ZV ist nun klargestellt worden, dass geringfügige Beeinträchtigungen für die Versorgung am Ort des Vertragsarztsitzes unbeachtlich sind, wenn sie durch die Verbesserung der Versorgung am Ort der Zweigpraxis aufgewogen werden. Darüber hinaus wurde klargestellt, dass die in der Zweigpraxis angebotenen Leistungen nicht auch in ähnlicher Weise am Hauptsitz der Praxis angeboten werden müssen und nicht sämtliche Fachgebiete der in der Zweigpraxis tätigen Ärzte auch am Hauptsitz der Vertragsarztpraxis vertreten sein müssen.

Diese Änderungen lassen erwarten, dass vermehrt Zweigpraxen gegründet werden. Vor diesem Hintergrund ist von besonderer Bedeutung, wie die Konkurrenz von Vertragsärzten und Zweigpraxen rechtlich zu lösen ist. Unter dem Aspekt des Drittschutzes könnten 2 Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) besondere Bedeutung (wieder)erlangen, die im Folgenden dargestellt werden1:

BSG-Urteil vom 28.10.2009 Abwehr von Konkurrenten

In seinem Urteil vom 28.10.2009 stellte das BSG klar, dass Vertragsärzte nicht berechtigt sind, die einem anderen Vertragsarzt erteilte Genehmigung zum Betrieb einer Zweigpraxis an einem anderen Standort anzufechten.

Zum Sachverhalt

Die Klägerin ist eine Gemeinschaftspraxis, in der 2 Fachärzte für Orthopädie und ein Arzt für rehabilitative Medizin in R. (Planungsbereich R.) vertragsärztlich tätig sind. Der Planungsbereich ist wegen Überversorgung für Fachärzte für Orthopädie gesperrt. Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KV) erteilte den beigeladenen Orthopäden in Berufsausübungsgemeinschaft (Praxissitz in S.) antragsgemäß die Genehmigung zum Betrieb einer Zweigpraxis in R. Widerspruch, Klage und Berufung der Klägerin gegen diese Bescheide blieben erfolglos.

Das Landessozialgericht hat im Berufungsurteil ausgeführt, die Klägerin sei nicht berechtigt, im Wege der defensiven Konkurrentenklage die Zweigpraxisgenehmigungen anzufechten, da die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung für das Vorliegen einer Anfechtungsberechtigung aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Mit ihrer Revision rügte die Klägerin die Verletzung von Bundesrecht. Ihre Anfechtungsberechtigung ergebe sich unmittelbar aus § 24 Abs. 3 der Ärzte-ZV, da dieser Regelung ein Gebot der Rücksichtnahme auf die Interessen der am Ort zugelassenen Ärzte zu entnehmen sei.

Aus den Gründen

Die Revision der Klägerin ist nach Auffassung des BSG nicht begründet. Sie sei nicht berechtigt, die den Beigeladenen erteilten Zweigpraxisgenehmigungen anzufechten. Eine derartige Anfechtungsberechtigung stehe Vertragsärzten, die ihre Praxis an dem Ort oder in dem räumlichen Umfeld betreiben, in dem die anderen Ärzte ihre Zweigpraxis eröffnen wollen, nicht zu.

Voraussetzung einer Anfechtungsberechtigung

Eine Anfechtungsberechtigung eines Vertragsarztes bestehe nur dann, wenn

1. der Kläger und der Konkurrent im selben räumlichen Bereich die gleichen Leistungen anbieten und

2. dem Konkurrenten die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung eröffnet oder erweitert wird und nicht nur ein weiterer Leistungsbereich genehmigt wird, sowie

3. der dem Konkurrenten eingeräumte Status gegenüber demjenigen des Anfechtenden nachrangig ist. Letzteres ist der Fall, wenn die Einräumung des Status an den Konkurrenten vom Vorliegen eines Versorgungsbedarfs abhängt, der von den bereits zugelassenen Ärzten nicht abgedeckt wird.

Das BVerfG (BVerfG, Beschluss vom 23.4.2009 – 1 BvR 3405/08 – GesR 2009, 376) habe hieran anknüpfend ausgeführt, dass eine Verwerfung der Konkurrenzverhältnisse dann in Frage steht, wenn den bereits zum Markt zugelassenen Leistungserbringern ein gesetzlicher Vorrang gegenüber den auf den Markt drängenden Konkurrenten eingeräumt ist.

Erfüllung der Voraussetzungen

Gleiche Leistungen im selben räumlichen Bereich (1.)

Von den genannten Voraussetzungen erfüllt sei diejenige, dass die Klägerin und die mit ihr konkurrierenden Beigeladenen im selben räumlichen Bereich die gleichen Leistungen anbieten. Für die Anfechtungsberechtigung müsse ein faktisches Konkurrenzverhältnis vorliegen, durch das plausibel wird, dass der bereits zugelassene Arzt eine nicht nur geringfügige Schmälerung seiner Erwerbsmöglichkeiten zu befürchten hat. Dementsprechend bedürfe es der Überprüfung und Feststellung, dass es in den Leistungsspektren und Einzugsbereichen vom anfechtenden und begünstigten Arzt ins Gewicht fallende Überschneidungen gibt.

Im Regelfall sei zunächst die Darlegung des anfechtenden Arztes erforderlich, welche Leistungen er anbietet und wie viele Patienten und welcher prozentuale Anteil seiner Patienten aus dem Einzugsbereich des dem Konkurrenten zugedachten Praxissitzes kommen. Habe er dies substantiiert vorgetragen, so obliege es der zur Entscheidung berufenen Behörde, ihrerseits tätig zu werden und die erforderlichen weiteren Informationen über das (voraussichtliche) Leistungsspektrum und den (voraussichtlichen) Patientenkreis des Konkurrenten zu erheben. Näherer Darlegungen und Feststellungen zu den Leistungsspektren vom anfechtenden und konkurrierenden Arzt bedürfe es indessen dann nicht, wenn das Vorliegen ins Gewicht fallender Überschneidungen ohne Weiteres auf der Hand liegt. Dies sei etwa dann der Fall, wenn die Praxen der beiden Ärzte in derselben Stadt gelegen sind – jedenfalls soweit es sich nicht um eine so weitläufige handelt, wie es sehr große Städte sein können – und wenn beide Ärzte in einem eng umgrenzten Fachgebiet tätig sind. In solchen Fällen eines eng umgrenzten Tätigkeitsbereichs seien im Regelfall sowohl nähere Darlegungen des Drittanfechtenden als auch weitere Ermittlungen der zur Entscheidung berufenen Behörde zur Frage gleicher Leistungsspektren der Konkurrenten entbehrlich.

Ausgehend von diesen Grundsätzen sei danach vorliegend eine räumliche Überschneidung der Einzugsbereiche ohne Weiteres zu bejahen, da die Beigeladenen ihre Filialtätigkeit am Niederlassungsort der Klägerin ausüben wollen. Nichts anderes gelte letztlich für eine (fachliche) Überschneidung der Leistungsspektren. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob auch bei Orthopäden (zumindest im Regelfall) ein – die Darlegungsanforderungen reduzierendes – ausreichend eng umgrenztes Fachgebiet anzunehmen wäre. Allerdings bestehe eine gewisse Vermutung dafür, dass alle Orthopäden mehr oder weniger die gesamte Bandbreite ihres Fachgebiets abdecken, weil der Grad bzw. das Ausmaß der Spezialisierung bei Orthopäden – selbst im Vergleich solcher mit und ohne Schwerpunkt – nicht besonders ausgeprägt sein dürfte. Denn die Darlegungsanforderungen dürften nicht überspannt werden. Es genüge, wenn – wie vorliegend – ein Kläger unwidersprochen vorträgt, dass es sich sowohl bei seiner wie auch der konkurrierenden Praxis um solche mit durchschnittlichem allgemeinorthopädischem Leistungsspektrum handelt. Für ein reales Konkurrenzverhältnis zwischen der Klägerin und den Beigeladenen spreche zudem, dass es sich um im ländlichen Bereich angesiedelte fachärztliche Praxen handelt und dieser Umstand zu der Annahme berechtigt, dass der von den Praxen notwendigerweise abzudeckende allgemeinorthopädische Behandlungsbedarf – anders als bei Praxen in größeren Städten mit besserer Verkehrsanbindung – einer ausgeprägten Spezialisierung entgegensteht.

Eröffnung/Erweiterung der Teilnahme des Konkurrenten (2.)

Nicht erfüllt werde hingegen die Voraussetzung, dass durch eine Zweigpraxisgenehmigung dem Konkurrenten die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung eröffnet (oder zumindest erweitert) wird.

Im Falle einer Zweigpraxisgenehmigung bestehe gegenüber den bislang entschiedenen Fällen, in denen die durch eine Ermächtigung bzw. Sonderbedarfszulassung bewirkte Öffnung des Zugangs zur vertragsärztlichen Versorgung in Frage stand, die Besonderheit, dass der Konkurrent bereits über einen – durch die Zulassung an seinem Vertragsarztsitz vermittelten – Status verfügt, ihm der Zugang zur vertragsärztlichen Versorgung also bereits grundsätzlich eröffnet ist. Daher ließe sich die Erfüllung des Merkmals der Teilnahmeeröffnung allenfalls unter dem Gesichtspunkt einer Erweiterung der Teilnahme begründen. Das Merkmal einer Erweiterung der Teilnahmemöglichkeit setze voraus, dass die Erweiterung auf einer Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen beruht, also nicht allein faktische Folge einer geänderten Situation – wie etwa die Eröffnung einer die Verkehrsanbindung der Praxis deutlich verbessernden U-Bahn-Haltestelle in Praxisnähe – sei.

Eine Zweigpraxisgenehmigung führe jedoch zu keiner rechtlichen Erweiterung des Kreises der Patienten, die ein Vertragsarzt behandeln darf. Zwar sei die Zulassung auf den jeweiligen Planungsbereich bezogen und werde für den Ort der Niederlassung als Arzt (Vertragsarztsitz) erteilt (§ 95 Abs. 1 Satz 7 SGB V, § 24 Abs. 1 Ärzte-ZV); zudem sei der Vertragsarzt gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 Ärzte-ZV verpflichtet, seine Sprechstunde am Vertragsarztsitz zu halten. Damit resultiere aus der Zulassung jedoch allein eine grundsätzliche Beschränkung des Tätigkeitsortes im Sinne einer Bindung der Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit an den Vertragsarztsitz. Eine Beschränkung des Kreises der möglichen Patienten – etwa auf solche, die am Praxissitz wohnen oder arbeiten – sei damit nicht verbunden. Das Recht der Versicherten auf freie Arztwahl (§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V) sei nicht eingeschränkt; vielmehr stehe es ihnen frei, Ärzte auch außerhalb ihres Wohn- oder Beschäftigungsortes in Anspruch zu nehmen. Dass Versicherte nach § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB V etwaige Mehrkosten zu tragen haben, wenn sie nicht den nächsterreichbaren Vertragsarzt in Anspruch nehmen, führe zu keiner rechtlichen Beschränkung des Behandlerkreises. Spiegelbildlich zum Wahlrecht der Versicherten seien die Vertragsärzte nicht gehindert, alle Versicherten, die sie als Behandler gewählt haben, auch dann zu behandeln, wenn diese von auswärts kommen.

Erst recht könne dem Vertragsarztrecht bzw. dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung kein Grundsatz der Art entnommen werden, dass dem bereits vor Ort tätigen Vertragsarzt kraft seiner Zulassung ein „Erstzugriffsrecht“ auf die dort (bzw. im Planungsbereich) wohnenden oder arbeitenden gesetzlich krankenversicherten Patienten zusteht. Soweit die Klägerin auf ein solches „Erstzugriffsrecht“ abhebt, beschreibe sie damit eine feste Patienten-Arzt-Zuordnung, wie sie faktisch unter der – vom BVerfG als verfassungswidrig beurteilten (vgl. Kassenarzturteil des BVerfG vom 23.3.1960 – 1 BvR 216/51 – BVerfGE 11, 30 = SozR Nr. 15 zu § 368a RVO) Geltung einer Zulassung nach Verhältniszahlen bestanden haben mag. Solche Verhältnisse bestünden jedoch nicht mehr. Potenzielle Patienten einer Zweigpraxis seien rechtlich nicht gehindert, den Filialarzt schon vor Erteilung einer Zweigpraxisgenehmigung an seinem Stammsitz in Anspruch zu nehmen, etwa weil er einen besonders guten Ruf hat oder der Stammsitz verkehrsgünstig gelegen ist. Ebenso sei umgekehrt kein Versicherter verpflichtet, den nunmehr an seinem Wohn- oder Beschäftigungsort partiell praktizierenden Filialarzt in Anspruch zu nehmen. Die Zweigpraxisgenehmigung bewirke somit keine rechtliche Erweiterung des Kreises der für eine Behandlung in Frage kommenden Versicherten, sondern allein eine faktische Verbesserung des Marktzugangs.

Das Vorliegen einer Erweiterung der Teilnahme könne allenfalls insoweit erwogen werden, als aufgrund der Zweigpraxisgenehmigung die strikte Bindung an den Vertragsarztsitz entfällt, mithin der Kreis der Orte, an denen der Vertragsarzt zulässigerweise seine Tätigkeit entfalten darf, erweitert wird (wie dies auch durch die Definition der „Zweigpraxis“ als „genehmigter weiterer Tätigkeitsort des Vertragsarztes oder Nebenbetriebsstätte eines Medizinischen Versorgungszentrums“ in § 1a Nr. 19 Bundesmantelvertrag-Ärzte deutlich wird). Dieser Umstand allein reiche jedoch nicht aus, um das Merkmal einer Teilnahmeeröffnung bzw. -erweiterung zu erfüllen.

Nach der Rechtsprechung des Senats kommt es entscheidend darauf an, ob das in Rede stehende Recht mit einer Statusgewährung verbunden ist, der im Sinne der Stufentheorie des BVerfG besondere Grundrechtsrelevanz zukommt. Eine Zweigpraxisgenehmigung führe jedoch nicht zu einer Statusgewährung in diesem Sinne, denn die eigentliche Statusgewährung wird durch die Zulassung vermittelt. Die Zweigpraxisgenehmigung sei akzessorisch und untrennbar mit dem Zulassungsstatus verbunden und entfalle mit dem Ende der Zulassung.

Die üblicherweise mit einer Übertragung von Kompetenzen auf die Zulassungsgremien verbundenen Gesichtspunkte seien im Falle einer Zweigpraxisgenehmigung nicht gegeben. Den von Zulassungsgremien zu treffenden Entscheidungen sei gemeinsam, dass sie statusbegründenden bzw. -beendenden Charakter hätten und dass durch sie der Kreis der an der vertragsärztlichen Versorgung beteiligten Personen und Institutionen sowie die Ausübungsformen der vertragsärztlichen Tätigkeit festgelegt würden. Diese Gesichtspunkte träfen für die Genehmigung zur Abhaltung von Sprechstunden außerhalb des Praxissitzes nicht zu, weil dadurch der Kreis der Vertragsärzte nicht erweitert und der Status des Vertragsarztes nicht berührt werde. Dies gilt auch für Zweigpraxisgenehmigungen nach neuem Recht, die im Regelfall – wenn Stammsitz und Zweigpraxis im Bezirk derselben KV liegen – ebenfalls nicht von den Zulassungsgremien, sondern von den KVen erteilt werden.

Nachrang des Konkurrenten (3.)

Ebenfalls nicht erfüllt werde die dritte Voraussetzung, dass der dem Konkurrenten eingeräumte Status gegenüber dem Status des Anfechtenden nachrangig ist.

Im Falle einer Zweigpraxisgenehmigung bestehe gegenüber den bislang entschiedenen Fällen (Ermächtigungen, Sonderbedarfszulassungen) die Besonderheit, dass der Konkurrent bereits über einen – durch die Zulassung an seinem Vertragsarztsitz vermittelten – Status verfügt, ihm der Zugang zur vertragsärztlichen Versorgung mithin auch ohne die Genehmigung bereits eröffnet ist. Daher sei nicht der aus der Zulassung resultierende Status zur Gegenüberstellung geeignet. Vielmehr bedürfe es der Prüfung, ob die durch diese Genehmigung eingeräumte Rechtsposition gegenüber derjenigen der am Ort der beabsichtigten Zweigpraxis zugelassenen Vertragsärzte nachrangig ist.

Dies sei zu verneinen. Ein etwaiges Vorrang-Nachrang-Verhältnis müsse sich dabei wegen des damit verbundenen Eingriffes in die grundsätzlich bestehende Wettbewerbsfreiheit aus dem Gesetz selbst ergeben. Maßstab für die Frage des Nachrangs sei der Umstand, ob der konkurrierende Status nur bei Vorliegen eines noch bestehenden Versorgungsbedarfs erteilt wird und die Erteilung somit im allgemeinen Interesse an einer ordnungsgemäßen und lückenlosen Versorgung erfolgt.

In § 24 Abs. 3 Satz 1 Ärzte-ZV in der Fassung des zum 1.1.2007 in Kraft getretenen Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes vom 22.12.2006 (BGBl I 3439), der die Voraussetzungen für die Erteilung einer Zweigpraxisgenehmigung normiert, finde sich keine gleichwertige Aussage. Im Gegensatz zu Ermächtigungen und Sonderbedarfszulassungen erfordere die Erteilung der Zweigpraxisgenehmigung nicht zwingend das Bestehen einer ausgleichsbedürftigen Versorgungslücke, sondern lediglich eine „Verbesserung“ der Versorgung. Unabhängig davon, was konkret unter einer „Verbesserung“ der Versorgung zu verstehen ist, sei dieser Begriff jedenfalls nicht in dem Sinne auszulegen, dass er eine – den Anforderungen an Ermächtigungen und Sonderbedarfszulassungen vergleichbare – Bedarfsprüfung erfordert. Damit sei zugleich kein Raum für die Annahme eines Vorrangs der bereits vor Ort niedergelassenen Vertragsärzte.

Zwar erscheine es denkbar, dass die Bedarfsplanung im Wege der Gründung von Zweigpraxen unterlaufen werden kann. Ebenso mögen weiterhin Gründe dafür sprechen, dass die (frühere) Bindung der Genehmigung einer Zweigpraxis an ein bestehendes Versorgungsdefizit geeignet war, gerade im ländlichen Raum die Existenz kleiner Praxen zu sichern. Hieraus lasse sich aber nur der Schluss ziehen, dass der Gesetzgeber diese Gesichtspunkte gegenüber anderen zurückgestellt hat; dies sei von der Rechtsprechung hinzunehmen.

Keine Willkür

Eine Anfechtungsberechtigung der Klägerin ergebe sich schließlich auch nicht unter Willkürgesichtspunkten, denn die Beklagte (KV) habe jedenfalls nicht willkürlich gehandelt.

Der Maßstab für die Beurteilung behördlicher Entscheidungen sei den Grundsätzen zu entnehmen, die das BVerfG entwickelt und im Rahmen der Kontrolle gerichtlicher Entscheidungen näher ausgeformt hat. Gerichtliche Entscheidungen seien willkürlich, wenn sie unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen. Das sei anhand objektiver Kriterien festzustellen. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein mache eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn gravierende Rechtsverstöße vorliegen und diese den Kläger schwer beeinträchtigen.

Von einer krassen Missdeutung könne jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt. Diesen Anforderungen genügen die von der Beklagten erteilten Genehmigungen jedenfalls.

BSG-Urteil vom 17.08.2011 Vorgehen gegen Konkurrenten

Das BSG stellte in einem Urteil vom 17.08.2011 des Weiteren klar, dass die ärztliche Tätigkeit in einer Zweigpraxis Grundlage für die Anfechtung von Sonderbedarfszulassungen der Konkurrenten sein kann.

Zum Sachverhalt

Der Rechtsstreit betrifft die Drittanfechtung einer Sonderbedarfszulassung. Die Klägerin ist eine Berufsausübungsgemeinschaft aus 4 Fachärzten. Sie betreut Patienten an ihrem Hauptsitz und in ihrer mehr als 30 km entfernten Zweigpraxis.

In der Nähe dieser Zweigpraxis besteht eine Praxis derselben Fachrichtung des Dr. H.. Die Entfernung zur Zweigpraxis der Klägerin beträgt ca. 6 km. Dr. H. und der zu 7. beigeladene Dr. L. kamen überein, dass dieser als Partner in die Praxis eintreten solle. Antragsgemäß sicherte die zu 5. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KV) der künftigen, aus Dr. H. und Dr. L. bestehenden Gemeinschaftspraxis die Erteilung eines Versorgungsauftrages zu. Der Zulassungsausschuss erteilte Dr. L. gemäß § 24 (bzw. bis 31.3.2007: Nr. 24) Buchst. e Nr. 2 der Bedarfsplanungs-Richtlinie-Ärzte (BedarfsplRL) eine Sonderbedarfszulassung.

Die Klägerin erhob gegen die Erteilung der Sonderbedarfszulassung Widerspruch, den der beklagte Berufungsausschuss als unzulässig zurückwies. Auch mit ihrer Klage gegen die Sonderbedarfszulassung beim Sozialgericht ist die Klägerin erfolglos geblieben.

Aus den Gründen

Die Revision der Klägerin hat ebenfalls keinen Erfolg. Ihr steht nach Auffassung des BSG zwar die Berechtigung zur (Dritt-)Anfechtung der Sonderbedarfszulassung zu. Deren Erteilung sei aber rechtlich nicht zu beanstanden.

Betroffenheit eigener Rechte auch bei Zweigpraxis

Eine Betroffenheit der Klägerin in eigenen Rechten scheide nicht deshalb aus, weil Dr. L. an einem Ort außerhalb ihrer Versorgungsregion von höchstens 30 km praktiziert. In dieser Weise nur auf die Stammpraxis abzustellen, berücksichtige nicht die Möglichkeit, Zweigpraxen auch außerhalb der Versorgungsregion zu betreiben, dass Zweigpraxen generell als Bedarfsdeckung im Verhältnis zu Sonderbedarfszulassungsbegehren zu berücksichtigen sind und deshalb auch als Ausgangspunkt für Konkurrentenabwehrklagen in Betracht kommen.

Nachrangigkeit der Sonderbedarfszulassung

Die Sonderbedarfszulassung, die Dr. L. erhalten hat, sei gegenüber dem Zulassungsstatus der Klägerin nachrangig. Sonderbedarfszulassungen dürfen nur erteilt werden, wenn der Versorgungsbedarf nicht durch die bereits zugelassenen Ärzte gedeckt wird. Dies ergebe deren Vorrang vor den eine Zulassung erst anstrebenden Ärzten. Deshalb bestehe ein grundsätzlicher Vorrang der Klägerin mit ihrer Zweigpraxis gegenüber der Sonderbedarfszulassung des Dr. L..

Der Anfechtungsberechtigung der Klägerin stehe nicht entgegen, dass diese ihre gegen die Sonderbedarfszulassung gerichtete Drittanfechtung nicht auf freie Kapazitäten an ihrem Hauptsitz in der mehr als 30 km entfernten Stadt M. stützt, sondern darauf, dass sie in ihrer Zweigpraxis noch freie Behandlungskapazitäten habe; sie macht geltend, sie könne hier den gesamten Versorgungsbedarf befriedigen, den Dr. H. durch die Hereinnahme des Dr. L. in seine Praxis decken wolle. Dies reicht nach Auffassung des BSG für die Anfechtungsberechtigung aus, denn der gemäß § 24 Abs. 3 Ärzte-ZV genehmigte Betrieb von Zweigpraxen sei bei der Beurteilung, ob vorhandene Versorgungsangebote den Bedarf decken können, ebenso wie Angebote von Hauptpraxen zu berücksichtigen: Insoweit liege eine tatsächliche Bedarfsdeckung vor, die eine Sonderbedarfszulassung ausschließen kann. Hiervon könne der Betreiber einer genehmigten Zweigpraxis berechtigterweise geltend machen, dass aufgrund seines Leistungsangebotes für eine zusätzliche Sonderbedarfszulassung kein Bedarf besteht. Der Betreiber einer Zweigpraxis sei mithin grundsätzlich berechtigt, einen Bescheid anzufechten, durch den einem anderen Arzt eine Sonderbedarfszulassung erteilt wird.

Dies stehe nicht im Widerspruch dazu, dass der Senat – gleichsam umgekehrt – Vertragsärzte nicht als berechtigt angesehen hat, die Genehmigung einer Zweigpraxis anzufechten (Hinweis des Verfassers: siehe oben BSG-Urteil vom 28.10.2009). Diese Rechtsprechung beruhe darauf, dass eine solche Genehmigung keine Versorgungslücke voraussetzt, also nicht bedarfsabhängig ist. Die Erteilung einer Sonderbedarfszulassung setze dagegen das Vorliegen einer Versorgungslücke voraus und könne daher – bei Erbringung gleicher Leistungen im selben räumlichen Bereich – durch Dritte angefochten werden.

Fazit

Die Gesamtschau der zum 1.1.2012 in Kraft getretenen Neuregelung zur Gründung von Zweigpraxen und der voranstehend dargestellten Rechtsprechung des BSG ergibt eine Stärkung der Position von Zweigpraxisgründern bzw. –inhabern. Zweigpraxen haben weiter an Attraktivität gewonnen, da ihre Gründungsvoraussetzungen vereinfacht wurden und niedergelassene Vertragsärzte sich somit die Vorteile einer Zweigpraxis (Erweiterung von Patientenstamm und Einzugsgebiet) auf einfacherem Wege als bisher zu Nutzen machen können. Diese Position kann nach der Rechtsprechung des BSG auch wirksam verteidigt werden.

Ob die Kassenärztlichen Vereinigungen die vom Gesetzgeber eingeräumten Möglichkeiten ohne Auseinandersetzungen im Widerspruchsverfahren oder vor dem Sozialgericht akzeptieren und ob es infolgedessen vermehrt zu Auseinandersetzungen mit Konkurrenten kommt, ist derzeit nicht absehbar. Jedenfalls bergen die neue Gesetzeslage und die BSG-Rechtsprechung für Gründer und Inhaber von Zweigpraxen Rechte, die für rechtliche Auseinandersetzungen mit Konkurrenten erhebliche Bedeutung haben.

Korrespondenzadresse

RA Dr. Christoph Osmialowski

Kanzlei für ArztRecht

Fiduciastraße 2

76227 Karlsruhe

E-Mail: kanzlei@arztrecht.org

Internet: www.arztrecht.org

Fussnoten

Darstellung reduziert auf den Aspekt der Drittanfechtungsberechtigung

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