Übersichtsarbeiten - OUP 09/2015

Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem

Christoph Maier1, Jörn Altenscheidt1, Martin Kramer1

Zusammenfassung: Die Wiederherstellung der körperlichen Funktion ist das wichtigste Ziel der Rückenschmerztherapie. Allerdings ist es bis heute nur sehr schwer möglich, Parameter wie die lumbale Segmentbeweglichkeit oder -geschwindigkeit zu messen. Vorgestellt wird ein neuartiges, nichtinvasives, alltagstaugliches Messsystem (Epionics SPINE), mit dem die lumbale Beweglichkeit verlässlich und ausreichend valide während einer standardisierten Kurzchoreographie oder über einen längeren Zeitraum erfasst werden kann. Dieses Verfahren ist therapiesensitiv, da sich sowohl Veränderungen der segmentalen Geschwindigkeit als auch langfristige Bewegungsmaße (24 Stunden) dokumentieren lassen, wie anhand von Fallberichten gezeigt wird.
Ein besonderer Vorteil dieses Systems ist die Möglichkeit zur eindrücklichen Visualisierung von Therapiefortschritten,
wodurch es ein wichtiger Baustein in der interprofessionellen Kommunikation, aber auch in der Edukation und Motivationsförderung des Patienten selbst ist.

Schlüsselwörter: Rückenschmerz, Bewegungsanalyse, lumbale Bewegungsmaße

Zitierweise
Maier C, Altenscheidt J, Kramer M. Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem. OUP 2015; 9: 418–425 DOI 10.3238/oup.2015.0418–0425

Summary: The restoration of the physical function is the most important aim of treatment for low back pain since solitary pain relief does not have a sustained long term effect. However, so far it is hardly possible to measure outcome parameters of treatment for low back pain like lumbar range of movement or segmental velocity in an objective way. Presented will be a new noninvasive assessment system (Epionics SPINE) which allows combined assessment of the lordose angle and the velocity of the segmental movement in different directions. This assessment is reliable and valid using standardized short time choreography and can also be used for long term assessment (24 hours). Using a reference data base for each patient, the progress after treatment can be visualized and used for the education of the patients and for the communication between the pain physicians and physiotherapists.

Keywords: low back pain, assessment range of lumbar motion

Citation
Maier C, Altenscheidt J, Kramer M. Non-invasive assessment of the lumbar spine motion and segmental velocities with Epionics SPINE. OUP 2015; 9: 418–425 DOI 10.3238/oup.2015.0418–0425

Einleitung

Chronische Rückenschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden über die Patienten sowohl in orthopädischen als auch in schmerzmedizinischen Einrichtungen klagen [1, 2, 3, 4]. In vielen Fällen finden sich jedoch weder ein somatisches klinisches Korrelat noch ein Befund in der Bildgebung, die spezifisch die vorgetragenen Beschwerden und Bewegungseinschränkungen zu erklären vermögen [5, 6, 7, 3]. Eine Therapie, die nur auf Schmerzlinderung abzielt, ist nicht nachhaltig wirksam, daher ist für den längerfristigen Erfolg die funktionelle Wiederherstellung das zentrale therapeutische Ziel [8, 9]. Um dieses zu erreichen, wäre die Dokumentation der Alltagsbeweglichkeit des Rückens zu Beginn sowie während und nach der Therapie sowohl im Einzelfall als auch zur Qualitätssicherung in einer Praxis oder Klinik notwendig und wünschenswert. Dieses ist beim Rückenschmerz aber eine bislang ungelöste Herausforderung, sofern man sich nicht nur auf Fragebögen und Schmerzskalen zur Selbsteinschätzung beschränken will [10].

Für eine objektive und reliable Dokumentation der lumbalen Rückenbeweglichkeit stehen außer in spezialisierten Zentren wenige diagnostische Verfahren zur Verfügung, die es erlauben, das Ausmaß einer Bewegungsstörung (ob schmerzbedingt oder schmerzunabhängig) so verlässlich zu dokumentieren, wie es bei Bewegungseinschränkungen von Gelenken an den Extremitäten möglich ist. Übliche Messgrößen für die Rücken- bzw. Wirbelsäulenbeweglichkeit sind z.B. das Schober-Maß, das Ott-Maß oder der Finger-Bodenabstand, die aber wie Facettenprovokationstestungen nur eingeschränkt nützlich und valide sind [6, 11, 10, 2]. Realitätsnähere komplexere Testungen von Bewegungsabläufen wie der Sock- oder Piletest sind zeitaufwendig und nur bei standardisierter Durchführung brauchbar, da die Inter-Rater-Reliabilität problematisch ist [Übersicht bei 5, 2, 10]. Insgesamt haben klinische Untersuchungsverfahren daher keine hohe Spezifität, woraus eine erhöhte Gefahr falsch positiver Diagnosen resultiert. Die Veränderungssensitivität klinischer Tests ist noch weniger untersucht, sodass Aussagen zur Therapieeffektivität häufig lediglich auf der Beobachtung der Therapeuten und den Aussagen der Betroffenen beruhen.

Die Beweglichkeit und die Dynamik speziell der unteren Rückenabschnitte kann zwar mit speziellen Methoden quantifiziert werden, diese Verfahren sind aber kostenaufwendig und erzeugen oftmals durch die Durchführung eine artifizielle Situation. Daher hängen die Ergebnisse entscheidend von der Motivation des Untersuchten ab.

Aus diesen Gründen könnten neue, nicht an spezielle Geräte gebundene Untersuchungsmethoden eine größere klinische Bedeutung erlangen. In der Bochumer Schmerzklinik setzen wir seit 4 Jahren bei Patienten mit einem physiotherapeutischen Schwerpunkt in der Therapie den Rückensensor der Fa. Epionics (Epionics SPINE) ein, zunächst für wissenschaftliche Projekte, inzwischen jedoch auch in der klinischen Routine, besonders für die Therapieverlaufskontrolle und zur Edukation von Patienten mit Rückenschmerzen.

Funktionsweise

Der ca. 120 g schwere Rückensensor der Firma Epionics (Epionics SPINE) ist CE-zertifiziert, die Einstufung nach dem Medizinproduktegesetz und 93/42/ EWG erfolgt in Risikoklasse IIa.

Die Bewegungsdaten werden anhand zweier flexibler Kunststoffstreifen erfasst, die standardisiert ca. 5 cm links und rechts der Lendenwirbelsäule in Höhe von Spina iliaca posterior superior am Rücken mithilfe spezieller Hohlpflaster befestigt werden (Abb. 1). In den Pflastern folgen diese Streifen der Rückenbewegung des Patienten. Der obere Pol variiert in seiner Lage in Abhängigkeit von der jeweiligen Körperlänge des Probanden, d.h. die Sensoren spiegeln nicht die Lage einzelner Wirbelsegmente wieder. Ein Messstreifen enthält 12 gleich lange, biegesensitive Sensoren [12, 13]. Sie messen die Radien der Rückenoberfläche und können über die Formel

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5