Übersichtsarbeiten - OUP 09/2015

Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem

Allen mit Oberflächensensoren arbeitenden Systemen gemeinsam ist der Nachteil, der auch für das vorgestellte System gilt, dass bei den Bewegungen stets die Veränderung der äußeren Weichteile, und nicht der Wirbelsäule, gemessen wird, was insbesondere bei übergewichtigen Patienten naturgemäß die Aussage verfälschen kann [13, 14]. Bei allen Messsystemen ist zudem die Übertragung einzelner Messwerte auf bestimmte anatomische Landmarken nur eingeschränkt möglich. Wie schon in der Methodik beschrieben, ist auch beim Epionics SPINE System lediglich der untere Messpunkt anatomisch fixiert, der obere ist abhängig von der Körpergröße des Probanden und kann somit bei Th 8 oder deutlich höher liegen. Schon deshalb sind vermutlich alle diese Systeme nicht geeignet, eine topische Diagnostik bestimmter Störungen zu ermöglichen oder hierfür gar die Bildgebung zu ersetzen.

Selbstverständlich gibt es eine Reihe von Patienten, bei denen dieses System kaum zum Einsatz kommen kann: Hierzu zählen insbesondere Patienten mit einer langstreckigen Versteifung der Wirbelsäule oder Patienten, die nicht einmal eine minimale Choreographie aus medizinischen oder sonstigen Gründen durchführen können. Der Einsatz dieses Systems bei immobilisierten Patienten ist bislang nicht erprobt, wäre aber sicherlich denkbar.

Ein großer Vorteil des Epionics SPINE Systems ist aber die für die übrigen Patienten wenig belastende Anwendbarkeit, das geringe Gewicht sowie, wie oben beschrieben, die Möglichkeit zur gleichzeitigen Erfassung der ROM und der dazugehörigen Geschwindigkeit. Die Bewegungsgeschwindigkeit ist vermutlich der für die diagnostische Diskrimination zwischen Patienten und Gesunden entscheidende Messparameter, da bei den Bewegungsmaßen auch bei Verwendung dieses Systems die Überlappung zwischen Menschen mit und ohne Rückenschmerzen größer ist [16]. Ähnliches gilt bekanntlich auch für klinische Provokationstests (Übersicht bei [6]) und Testbatterien [10, 2]. Diese Möglichkeit zur differenzierten Abbildung von Veränderungen der segmentalen Geschwindigkeit bei den einzelnen Bewegungsrichtungen einerseits und sich erst langsam einstellenden Änderungen der ROM-Werte andererseits ist ein großer Vorteil dieses Systems, wie der im Fallbericht 1 dargestellte Verlauf zeigt. In der Regel bessern sich zuerst die Geschwindigkeiten, also die Dynamik der Bewegung (z.B. nach einem Opioidentzug oder umgekehrt nach Einleitung einer suffizienten Medikation), während vergrößerte Bewegungsausmaße sich erst als Folge einer mehrwöchigen bis mehrmonatigen Trainingstherapie nachweisbar einstellen. Die hierbei zu beobachtenden residualen Einschränkungen (s. Abb. 3, 4 und 5) erlauben die Planung einer individuellen Therapieoptimierung oder sind eben Ausdruck der strukturell nicht mehr behebbaren Folgen der Vortherapie wie die Versteifung im Fall 2 und der Nervenschaden in Fall 1 mit daraus resultierender Limitierung der Lateralflexion durch den kompensatorisch verkürzten Muskel (Abb. 5-B).

Aber die Möglichkeit zur konkreten Visualisierung und Differenzierung therapiebedingter Veränderungen der Rückenbeweglichkeit, die besonders zur Patientenedukation und -motivation herangezogen werden kann, war eine der entscheidenden Gründe, für die Etablierung dieses Systems bei uns in der klinischen Praxis. Inzwischen ist dieses Messsystem daher ein wichtiger Baustein in unserem multimodalen Therapiekonzept.

Interessenkonflikt: C.M. ist seit 2 Jahren im Advisory Board der Fa. Epionics tätig und hat hierfür Fahrtkostenerstattungen erhalten. J.A. hat Honorare für Schulungen am Epionics SPINE System erhalten. M.K. hat ein Honorar für einen Fortbildungsvortrag erhalten, in dem er das System der Fa. Epionics vorstellte.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Christoph Maier

Abt. für Schmerzmedizin

Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH

Bürkle-de-la-Camp-Platz 1

44789 Bochum

christoph.maier@rub.de

Literatur

1. Schmidt CO, Raspe H, Pfingsten M. et al. Back pain in the German adult population: prevalence, severity, and sociodemographic correlates in a multiregional survey. Spine 2007; 32: 2005–2011

2. Pfingsten M, Hildebrandt J, Müller G. Funktionsdiagnostik in der Praxis. In: Hildebrandt J, Müller G, Pfingsten M (Hrsg.) Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule. München: Elsevier 2010; 210–219

3. Andersson GB. Epidemiological features of chronic low-back pain. Lancet 1999; 354: 581–585

4. Frettlöh J, Maier C, Gockel H, Zenz M. Hüppe M. Characterization of chronic pain patients in German pain centers: core data from more than 10.000 patients. Schmerz 2009; 23: 576–591

5. Müller G, Strube J. Anamnese und klinische Untersuchung. In: Hildebrandt J, Müller G, Pfingsten M (Hrsg.) Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule. München: Elsevier, 2010: 188–210

6. Mainka T, Lemburg SP, Heyer CM, Altenscheidt J, Nicolas V, Maier C. Association between clinical signs assessed by manual segmental examination and findings of the lumbar facet joints on magnetic resonance scans in subjects with and without current low back pain: a prospective, single-blind study. Pain 2013; 154: 1886–95

7. Boos N, Rieder R, Schade V, Spratt KF, Semmer N, Aebi M. 1995 Volvo Award in clinical sciences. The diagnostic accuracy of magnetic resonance imaging, work perception, and psychosocial factors in identifying symptomatic disc herniations. Spine 1995; 20: 2613–2625

8. Airaksinen O, Brox JI, Cedraschi C et al. COST B13 Working Group on Guidelines for Chronic Low Back Pain. Chapter 4. European guidelines for the management of chronic nonspecific low back pain. Eur Spine J. 2006; Mar; 15 Suppl 2: 192–300

9. Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/nvl-007.html

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5