Übersichtsarbeiten - OUP 09/2015

Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem

Eine 78-jährige Patientin klagte seit 3 Jahren über persistierende LWS- und Kreuzschmerzen, zusätzlich über stärkste Schmerzen am rechten Trochanter mit Ausstrahlung in den Oberschenkel. Wegen chronischer Bursitis war 2 Jahre zuvor eine Bursektomie erfolgt. Medikamentös lag ein Tilidin-Fehlgebrauch mit bis zu 600 mg/d als Tropfen vor, zusätzlich nahm sie Ibuprofen bei Bedarf trotz bekannter teilkompensierter Niereninsuffizienz. Auch hier lagen belastende psychosoziale Faktoren vor, zudem bestand ein langjähriger Alkoholkonsum mit daraus resultierender Hepatopathie. In der klinischen Untersuchung fand sich ein Klopfschmerz LWK 3–5 und ein druckschmerzhafter M. quadratus lumborum rechts. Die Rotationsbewegungen waren stark eingeschränkt, die Lateralflexion nach links fast aufgehoben (vgl. Abb. 5). Der Menell-Test war rechts positiv bei einem Beckenhochstand von 2 cm ohne Beinlängendifferenz. Der Finger-Boden-Abstand betrug dennoch fast 0 cm. Beim Gehen bestand rechts ein positives Trendelenburg-Zeichen. Neurophysiologisch war eine inkomplette Läsion des N. gluteus superior nachweisbar, im MRT zeigte sich eine Denervierung des M. gluteus medius (Abb. 6). 3 Wochen nach multimodaler Therapie verminderte sich nach dem Opioidentzug der Rückenschmerz um mehr als 70 %, in Ruhe war sie fast schmerzfrei. Die Bewegungsanalyse vor Entlassung (Abb. 5-B) zeigte fast normale Bewegungsumfänge bei Extension, Flexion, Rotation und rechtsseitiger Lateralflexion bei normaler Geschwindigkeit in den Bewegungen bis auf eine persistierende Einschränkung der linksseitigen Lateralflexion, die durch die bestehende Verkürzung des M. quadratus lumborum unschwer erklärbar ist. Der weitere Verlauf war wechselnd, insgesamt konnte aber in den folgenden 16 Monaten ohne Opioide eine ausreichende häusliche Mobilität erreicht werden.

Diskussion

Radiologische Untersuchungen (Röntgen, CT) sind aus naheliegenden Gründen ungeeignet für wiederholte Messungen der Beweglichkeit der lumbalen Rückensegmente. Daher wurden in den letzten Jahren eine Reihe von strahlungsfreien Messverfahren entwickelt. Die meisten Verfahren, die wie das Epionics SPINE System gleichzeitig die Messung von ROM-Veränderung und der Geschwindigkeit erlauben, erfordern jedoch erhebliche höhere technologische Voraussetzungen, die einen Routineeinsatz oder Messungen unter Alltagsbewegungen unmöglich machen [18, 19, 20, 21, 22]. Andere Systeme, wie das Spinal Mouse System, können die Lordosewinkel nur in bestimmten Positionen messen [23]. Alternativ wurde anderenorts auch die Oberflächen-EMG-Analytik weiter entwickelt, die wichtige Aussagen zur Rekrutierungsdynamik einzelner Muskelgruppen im Verlauf standardisierter Bewegungen erlaubt, aber keine zur lumbalen ROM [24].

Es sei aber nicht verschwiegen, dass das hier vorgestellte Sensorsystem bislang wissenschaftlich erst in Ansätzen untersucht wurde. Die erste Publikation aus dem Jahre 2010 prüfte in einem kleinen Kollektiv die Genauigkeit und Wiederholbarkeit der Winkelmessungen. Die Intraklassen-Korrelationskoeffizienten (Intraclass correlation coefficient, ICC) waren mit > 0,98 sehr gut [12]. In weiteren Arbeiten der gleichen Arbeitsgruppe aus der Charité Berlin wurden in einer großen Fallgruppe von 429 asymptomatischen Probanden zum einen die mit diesem System gefundenen Normwerte für den Lordosewinkel und die Bewegungsmaße in der Sagittalebene mit klinischen Untersuchungsbefunden (Ott und Schober) sowie mit Daten aus der Literatur verglichen [13]. Zum anderen erfolgte erstmals eine Analyse der Geschwindigkeiten der Segmente bei Flexion und Extension [14]. Bei den Gesunden erwiesen sich erwartungsgemäß das Alter und in geringerem Maße das Geschlecht als relevante Einflussfaktoren für die lumbale Bewegungsgeschwindigkeit. Im höheren Alter reduzieren sich bei Gesunden aber die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Auch eine andere Arbeitsgruppe benutzte das Epionics SPINE System für eine Untersuchung bei über 300 asymptomatischen gesunden Frauen und Männern in einem Altersbereich zwischen 20 und 75 Jahren. Auch sie bestätigten, wie ebenfalls eine weitere Arbeitsgruppe, welche die vorgestellte Choreographie einsetzte [16], die hohe Reliabilität und Genauigkeit dieses Systems. Sie konnten aber zeigen, dass eine 20%ige Verminderung der Lordose im Alter ein „normaler biologischer Prozess ist“ [25]. Erst eine Arbeit zeigte, dass die Messungen der Veränderung des Lordosewinkels mit der spinalen Gewichtsbelastung korreliert, eine für die Arbeitsmedizin wichtige Voraussetzung für den Einsatz solcher Messsysteme [26]. Die Veränderungssensitivität des Epionics Systems wurde nach unserer Kenntnis bisher erst einmal untersucht. Bei 30 Patienten mit pathologischen Kompressionswirbelfrakturen und anschließender Ballonkyphoplastie konnten die Autoren erwartungsgemäß in einer nichtkontrollierten Studie sowohl 2 Tage als auch 12 Wochen nach der Operation eine generelle Verbesserung nachweisen, wobei die Sensorwerte am ersten Tag mit radiologischen Kontrolluntersuchungen relativ gut korrelierten [27].

Die Göttinger Arbeitsgruppe um Frau Falla benutzte die große Datenmenge, die das Epionics Messsystem liefert, für eine neuartige statistische Analyse, in der die Nichtzufälligkeit bestimmter Muster analysiert wird [28]. Hier zeigte sich bemerkenswerterweise, dass Schmerzpatienten sich im Vergleich zu Gesunden durch eine geringere (zufällige) Variabilität auszeichnen. Dieses könnte auf die unterschiedliche Rekrutierung von Muskeln bei beginnendem Schmerz unter Bewegung zurückzuführen sein, wie kürzlich mittels einer neuartigen EMG-Analyse demonstriert wurde [24]. Diese Arbeiten zeigen zukünftige Optionen für die Verwendung des Epionics Systems, da hierdurch komplexere statistische Auswertungen möglich sind, als bei der Bestimmung weniger Endpunkte einer Bewegung. Dieses System bietet zudem die Möglichkeit, über längere Zeiträume die Häufigkeit von Bewegungen zu messen. Aufgrund des geringen Gewichts und der hohen Speicherkapazität ist eine problemlose Aufnahme, wie vor kurzem gezeigt, auch über 24 Stunden machbar und aussagekräftig [15]. Die Autoren maßen bei über 200 asymptomatischen Probanden beispielsweise die Frequenz von Winkeländerungen der lumbalen Lordose über 24 Stunden und fanden hier eine deutliche Altersabhängigkeit, aber überraschenderweise auch, dass Frauen eine deutlich höhere Beweglichkeit aufweisen. Diese Studie illustrierte zudem den insgesamt geringen Bereich der rückenbeweglichen Aktivitäten und liefert somit wichtige Daten, um zukünftig Langzeitmessungen auch bei Patienten zu machen und diese auch für die Analyse der zugrundeliegenden Störungen zu nutzen wie auch für die Bewertung von Therapien.

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