Übersichtsarbeiten - OUP 09/2015

Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem

Christoph Maier1, Jörn Altenscheidt1, Martin Kramer1

Zusammenfassung: Die Wiederherstellung der körperlichen Funktion ist das wichtigste Ziel der Rückenschmerztherapie. Allerdings ist es bis heute nur sehr schwer möglich, Parameter wie die lumbale Segmentbeweglichkeit oder -geschwindigkeit zu messen. Vorgestellt wird ein neuartiges, nichtinvasives, alltagstaugliches Messsystem (Epionics SPINE), mit dem die lumbale Beweglichkeit verlässlich und ausreichend valide während einer standardisierten Kurzchoreographie oder über einen längeren Zeitraum erfasst werden kann. Dieses Verfahren ist therapiesensitiv, da sich sowohl Veränderungen der segmentalen Geschwindigkeit als auch langfristige Bewegungsmaße (24 Stunden) dokumentieren lassen, wie anhand von Fallberichten gezeigt wird.
Ein besonderer Vorteil dieses Systems ist die Möglichkeit zur eindrücklichen Visualisierung von Therapiefortschritten,
wodurch es ein wichtiger Baustein in der interprofessionellen Kommunikation, aber auch in der Edukation und Motivationsförderung des Patienten selbst ist.

Schlüsselwörter: Rückenschmerz, Bewegungsanalyse, lumbale Bewegungsmaße

Zitierweise
Maier C, Altenscheidt J, Kramer M. Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem. OUP 2015; 9: 418–425 DOI 10.3238/oup.2015.0418–0425

Summary: The restoration of the physical function is the most important aim of treatment for low back pain since solitary pain relief does not have a sustained long term effect. However, so far it is hardly possible to measure outcome parameters of treatment for low back pain like lumbar range of movement or segmental velocity in an objective way. Presented will be a new noninvasive assessment system (Epionics SPINE) which allows combined assessment of the lordose angle and the velocity of the segmental movement in different directions. This assessment is reliable and valid using standardized short time choreography and can also be used for long term assessment (24 hours). Using a reference data base for each patient, the progress after treatment can be visualized and used for the education of the patients and for the communication between the pain physicians and physiotherapists.

Keywords: low back pain, assessment range of lumbar motion

Citation
Maier C, Altenscheidt J, Kramer M. Non-invasive assessment of the lumbar spine motion and segmental velocities with Epionics SPINE. OUP 2015; 9: 418–425 DOI 10.3238/oup.2015.0418–0425

Einleitung

Chronische Rückenschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden über die Patienten sowohl in orthopädischen als auch in schmerzmedizinischen Einrichtungen klagen [1, 2, 3, 4]. In vielen Fällen finden sich jedoch weder ein somatisches klinisches Korrelat noch ein Befund in der Bildgebung, die spezifisch die vorgetragenen Beschwerden und Bewegungseinschränkungen zu erklären vermögen [5, 6, 7, 3]. Eine Therapie, die nur auf Schmerzlinderung abzielt, ist nicht nachhaltig wirksam, daher ist für den längerfristigen Erfolg die funktionelle Wiederherstellung das zentrale therapeutische Ziel [8, 9]. Um dieses zu erreichen, wäre die Dokumentation der Alltagsbeweglichkeit des Rückens zu Beginn sowie während und nach der Therapie sowohl im Einzelfall als auch zur Qualitätssicherung in einer Praxis oder Klinik notwendig und wünschenswert. Dieses ist beim Rückenschmerz aber eine bislang ungelöste Herausforderung, sofern man sich nicht nur auf Fragebögen und Schmerzskalen zur Selbsteinschätzung beschränken will [10].

Für eine objektive und reliable Dokumentation der lumbalen Rückenbeweglichkeit stehen außer in spezialisierten Zentren wenige diagnostische Verfahren zur Verfügung, die es erlauben, das Ausmaß einer Bewegungsstörung (ob schmerzbedingt oder schmerzunabhängig) so verlässlich zu dokumentieren, wie es bei Bewegungseinschränkungen von Gelenken an den Extremitäten möglich ist. Übliche Messgrößen für die Rücken- bzw. Wirbelsäulenbeweglichkeit sind z.B. das Schober-Maß, das Ott-Maß oder der Finger-Bodenabstand, die aber wie Facettenprovokationstestungen nur eingeschränkt nützlich und valide sind [6, 11, 10, 2]. Realitätsnähere komplexere Testungen von Bewegungsabläufen wie der Sock- oder Piletest sind zeitaufwendig und nur bei standardisierter Durchführung brauchbar, da die Inter-Rater-Reliabilität problematisch ist [Übersicht bei 5, 2, 10]. Insgesamt haben klinische Untersuchungsverfahren daher keine hohe Spezifität, woraus eine erhöhte Gefahr falsch positiver Diagnosen resultiert. Die Veränderungssensitivität klinischer Tests ist noch weniger untersucht, sodass Aussagen zur Therapieeffektivität häufig lediglich auf der Beobachtung der Therapeuten und den Aussagen der Betroffenen beruhen.

Die Beweglichkeit und die Dynamik speziell der unteren Rückenabschnitte kann zwar mit speziellen Methoden quantifiziert werden, diese Verfahren sind aber kostenaufwendig und erzeugen oftmals durch die Durchführung eine artifizielle Situation. Daher hängen die Ergebnisse entscheidend von der Motivation des Untersuchten ab.

Aus diesen Gründen könnten neue, nicht an spezielle Geräte gebundene Untersuchungsmethoden eine größere klinische Bedeutung erlangen. In der Bochumer Schmerzklinik setzen wir seit 4 Jahren bei Patienten mit einem physiotherapeutischen Schwerpunkt in der Therapie den Rückensensor der Fa. Epionics (Epionics SPINE) ein, zunächst für wissenschaftliche Projekte, inzwischen jedoch auch in der klinischen Routine, besonders für die Therapieverlaufskontrolle und zur Edukation von Patienten mit Rückenschmerzen.

Funktionsweise

Der ca. 120 g schwere Rückensensor der Firma Epionics (Epionics SPINE) ist CE-zertifiziert, die Einstufung nach dem Medizinproduktegesetz und 93/42/ EWG erfolgt in Risikoklasse IIa.

Die Bewegungsdaten werden anhand zweier flexibler Kunststoffstreifen erfasst, die standardisiert ca. 5 cm links und rechts der Lendenwirbelsäule in Höhe von Spina iliaca posterior superior am Rücken mithilfe spezieller Hohlpflaster befestigt werden (Abb. 1). In den Pflastern folgen diese Streifen der Rückenbewegung des Patienten. Der obere Pol variiert in seiner Lage in Abhängigkeit von der jeweiligen Körperlänge des Probanden, d.h. die Sensoren spiegeln nicht die Lage einzelner Wirbelsegmente wieder. Ein Messstreifen enthält 12 gleich lange, biegesensitive Sensoren [12, 13]. Sie messen die Radien der Rückenoberfläche und können über die Formel

in Winkelgrad umgerechnet werden. Darin wird der Radius von der Rückenkrümmung vorgegeben. Die Bogenlänge entspricht der Länge der biegesensitiven Messzone (= 2,5 cm). Im Fokus der Messung steht die Lendenlordose bis zum Lordose-Kyphose-Übergang. Dazu werden alle Messzonen bis zum automatisch ermittelten Übergang aufsummiert. Zusätzlich enthalten die Messstreifen je einen 3-achsigen Beschleunigungssensor am oberen und unteren Ende (Abb. 1). Diese liefern Daten über die Neigung der Sensorstreifen im Gravitationsfeld der Erde. Dadurch wird neben der Erfassung der Lendenlordose auch eine Messung der Beckenneigung in der Sagittalebene sowie der Seitneigung in der Frontalebene möglich. Für die Beckenneigung werden dazu die Messsignale der X-Achse und der Z-Achse der unteren Beschleunigungssensoren mittels der Formel:

umgerechnet. Kompensatorische Ausgleichsbewegungen des Beckens können so dokumentiert werden (13, 14, 15, 16).

Messwerterfassung

Alle Messdaten werden 50-mal pro Sekunde erfasst, womit neben der nur räumlichen auch eine ausreichend hohe zeitliche Auflösung gewährleistet ist, sodass neben der Berechnung der Bewegungswinkel hinaus über die erste und zweite Ableitung auch die Bestimmung der Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung als dynamische Parameter möglich ist. Hieraus können weitere abgeleitete Parameter wie z.B. Maximalgeschwindigkeit bei verschiedenen Bewegungsrichtungen berechnet werden. Die Bewegungsdaten werden über eine Bluetooth-Verbindung an einen PC übertragen und dort zusammen mit den Patientendaten gespeichert.

Ablauf der Messung und
Darstellung der Ergebnisse

Die Messung erfolgt im Rahmen einer 20-minütigen Choreographie mit standardisierten Vorgaben. Sie enthält Übungen, die 3-mal wiederholt werden, für 4 Bewegungsrichtungen (Flexion, Extension, beidseitige Rotation und Lateralflexion) im Stehen und zum Teil auch im Sitzen sowie Mischbewegungen wie den Sock- und den Piletest [5, 17], also klinische Tests, die gut validiert sind und vor allem typische Alltagsbewegungen repräsentieren (Abb. 2 C1–2, Abb. 3).

Die Anwendersoftware analysiert die Datensätze nach geschlechtsspezifischen Referenzdaten für derzeit 3 Altersgruppen (18–35, 36–50 Jahre und älter (teilweise publiziert in [14])). Die beigefügte Software gibt für alle o.g. Bewegungsrichtungen im Sitzen und Stehen jeweils die Maße für Winkelgrade und Geschwindigkeiten in einer umfangreichen, auf Wunsch auch komprimierbaren Übersicht heraus (Beispiel in Abb. 3). Für die Zusammenfassung hat sich hierbei, vor allem für die Information des Probanden selbst, die „Spinnendarstellung“ bewährt, die beide Parameter für jeweils 6 Bewegungsrichtungen übersichtlich darstellt (Abb. 4-B; Abb. 5-A). Diese Ausgabeform hat sich besonders bewährt, weil sie durch eine Farbkodierung die Zuordnung zu sicher pathologischen Werten (rotes Zentrum; Abb. 4-A), zu Übergangswerten (grau dargestellt) oder zu Normwerten (grün) sichtbar macht, d.h. zu einem Wert innerhalb des oberen 75 %-Konfidenzintervalls der jeweiligen Altersgruppe. Diese Darstellungsform (vgl. Abb. 4 und Abb. 5) hat sich als hilfreich sowohl für die Kommunikation zwischen allen beteiligten Therapeuten (Ärzten, Physiotherapeuten und Psychologen) als auch für die Edukation und Motivationsförderung der Patienten selbst erwiesen, wie die beiden folgenden Fallberichte unterstreichen sollen.

Fallberichte

Fallbericht 1

Der 48-jährige Mann stellt sich vor mit einem seit 5 Jahren bestehenden, vorwiegend lokal betontem Rückenschmerz, der nach einer Laminektomie L5/S1 sowie einer kurz darauf erfolgten Spondylodese L5/S1 vor 5 Jahren persistierte. Die Schmerzintensität war sehr hoch (NRS bis 7 (0...11)) mit Verstärkung bei Rotationsbewegungen. Das Gangbild war verlangsamt, der Finger-Boden-Abstand betrug 46 cm. Es bestand beidseits eine hochgradig eingeschränkte Rotations- und Lateralisationsbeweglickeit. Neurologisch war er weitgehend unauffällig bis auf einen ASR-Verlust beidseits (Polyneuropathie). Diverse Vorbehandlungen waren ohne Ergebnis, darunter Facettenblockaden, PRT und diverse Opioide. Die aktuelle Medikation bestand aus Tramadol (600–800 mg täglich), Gabapentin, NSAR und Antidepressiva. Die psycho-soziale Situation war weitgehend desolat. Wegen 4-jähriger Arbeitslosigkeit war er seit 2 Jahren ausgesteuert, ein Rentenantrag wurde aber noch nicht gestellt. Psychologisch war sein Umgang mit dem Schmerz hilflos bis katastrophisierend, verstärkt durch „fachärztliche“ Hinweise, dass man sich nach einer Spondylodese möglichst wenig bewegen dürfe. Bei der klinischen und apparativen Eingangsuntersuchung fand sich eine durch ausgeprägte Ängstlichkeit noch akzentuierte weitgehende Aufhebung der Beweglichkeit der LWS in allen Ebenen (sowohl bei einfachen wie gemischten Bewegungen (Abb. 3 und 4-A)). Nach Beginn einer multimodalen Therapie mit intensiver Psycho-Edukation und Krisenintervention, Opioid-Entzug und schrittweisem Aufbau eines Übungsprogramms zeichnete sich innerhalb von 14 Tagen eine Normalisierung seiner lumbalen Bewegungsmaße und -geschwindigkeiten bei nach wie vor stark eingeschränkter Extension und Lateralflexion ab (Abb. 3 und 4-B). Nach der stationären Entlassung begann er eine Psychotherapie und nahm an einem ambulanten Quotentraining teil mit schrittweiser Steigerung der Leistungsvorgaben in einer Gruppen- und sportmedizinisch angeleiteten Gerätetherapie. Bis auf eine Restmedikation von 60 mg Duloxetin zur Behandlung seiner Polyneuropathieschmerzen und einer Bedarfsmedikation mit Metamizol konnte die Medikation vollständig abgesetzt werden, die Intensität der verbleibenden Schmerzen lag zuletzt bei NRS 2–3. Bei der Spine-Messung 2 Monate später zeigten sich kohärent zur Klinik altersnormale Bewegungsausmaße und segmentale Geschwindigkeiten bis auf die bleibenden Einschränkungen bei der Flexion und Extension, die sich aus der lumbosakralen Spondylodese erklären. Follow-up: Nach 12 Monaten ist es zu einer geringen Verschlechterung gekommen, zur Prävention eines weiteren Rückschlags ist eine erneute stationäre Therapie vorgesehen.

Fallbericht 2

Eine 78-jährige Patientin klagte seit 3 Jahren über persistierende LWS- und Kreuzschmerzen, zusätzlich über stärkste Schmerzen am rechten Trochanter mit Ausstrahlung in den Oberschenkel. Wegen chronischer Bursitis war 2 Jahre zuvor eine Bursektomie erfolgt. Medikamentös lag ein Tilidin-Fehlgebrauch mit bis zu 600 mg/d als Tropfen vor, zusätzlich nahm sie Ibuprofen bei Bedarf trotz bekannter teilkompensierter Niereninsuffizienz. Auch hier lagen belastende psychosoziale Faktoren vor, zudem bestand ein langjähriger Alkoholkonsum mit daraus resultierender Hepatopathie. In der klinischen Untersuchung fand sich ein Klopfschmerz LWK 3–5 und ein druckschmerzhafter M. quadratus lumborum rechts. Die Rotationsbewegungen waren stark eingeschränkt, die Lateralflexion nach links fast aufgehoben (vgl. Abb. 5). Der Menell-Test war rechts positiv bei einem Beckenhochstand von 2 cm ohne Beinlängendifferenz. Der Finger-Boden-Abstand betrug dennoch fast 0 cm. Beim Gehen bestand rechts ein positives Trendelenburg-Zeichen. Neurophysiologisch war eine inkomplette Läsion des N. gluteus superior nachweisbar, im MRT zeigte sich eine Denervierung des M. gluteus medius (Abb. 6). 3 Wochen nach multimodaler Therapie verminderte sich nach dem Opioidentzug der Rückenschmerz um mehr als 70 %, in Ruhe war sie fast schmerzfrei. Die Bewegungsanalyse vor Entlassung (Abb. 5-B) zeigte fast normale Bewegungsumfänge bei Extension, Flexion, Rotation und rechtsseitiger Lateralflexion bei normaler Geschwindigkeit in den Bewegungen bis auf eine persistierende Einschränkung der linksseitigen Lateralflexion, die durch die bestehende Verkürzung des M. quadratus lumborum unschwer erklärbar ist. Der weitere Verlauf war wechselnd, insgesamt konnte aber in den folgenden 16 Monaten ohne Opioide eine ausreichende häusliche Mobilität erreicht werden.

Diskussion

Radiologische Untersuchungen (Röntgen, CT) sind aus naheliegenden Gründen ungeeignet für wiederholte Messungen der Beweglichkeit der lumbalen Rückensegmente. Daher wurden in den letzten Jahren eine Reihe von strahlungsfreien Messverfahren entwickelt. Die meisten Verfahren, die wie das Epionics SPINE System gleichzeitig die Messung von ROM-Veränderung und der Geschwindigkeit erlauben, erfordern jedoch erhebliche höhere technologische Voraussetzungen, die einen Routineeinsatz oder Messungen unter Alltagsbewegungen unmöglich machen [18, 19, 20, 21, 22]. Andere Systeme, wie das Spinal Mouse System, können die Lordosewinkel nur in bestimmten Positionen messen [23]. Alternativ wurde anderenorts auch die Oberflächen-EMG-Analytik weiter entwickelt, die wichtige Aussagen zur Rekrutierungsdynamik einzelner Muskelgruppen im Verlauf standardisierter Bewegungen erlaubt, aber keine zur lumbalen ROM [24].

Es sei aber nicht verschwiegen, dass das hier vorgestellte Sensorsystem bislang wissenschaftlich erst in Ansätzen untersucht wurde. Die erste Publikation aus dem Jahre 2010 prüfte in einem kleinen Kollektiv die Genauigkeit und Wiederholbarkeit der Winkelmessungen. Die Intraklassen-Korrelationskoeffizienten (Intraclass correlation coefficient, ICC) waren mit > 0,98 sehr gut [12]. In weiteren Arbeiten der gleichen Arbeitsgruppe aus der Charité Berlin wurden in einer großen Fallgruppe von 429 asymptomatischen Probanden zum einen die mit diesem System gefundenen Normwerte für den Lordosewinkel und die Bewegungsmaße in der Sagittalebene mit klinischen Untersuchungsbefunden (Ott und Schober) sowie mit Daten aus der Literatur verglichen [13]. Zum anderen erfolgte erstmals eine Analyse der Geschwindigkeiten der Segmente bei Flexion und Extension [14]. Bei den Gesunden erwiesen sich erwartungsgemäß das Alter und in geringerem Maße das Geschlecht als relevante Einflussfaktoren für die lumbale Bewegungsgeschwindigkeit. Im höheren Alter reduzieren sich bei Gesunden aber die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Auch eine andere Arbeitsgruppe benutzte das Epionics SPINE System für eine Untersuchung bei über 300 asymptomatischen gesunden Frauen und Männern in einem Altersbereich zwischen 20 und 75 Jahren. Auch sie bestätigten, wie ebenfalls eine weitere Arbeitsgruppe, welche die vorgestellte Choreographie einsetzte [16], die hohe Reliabilität und Genauigkeit dieses Systems. Sie konnten aber zeigen, dass eine 20%ige Verminderung der Lordose im Alter ein „normaler biologischer Prozess ist“ [25]. Erst eine Arbeit zeigte, dass die Messungen der Veränderung des Lordosewinkels mit der spinalen Gewichtsbelastung korreliert, eine für die Arbeitsmedizin wichtige Voraussetzung für den Einsatz solcher Messsysteme [26]. Die Veränderungssensitivität des Epionics Systems wurde nach unserer Kenntnis bisher erst einmal untersucht. Bei 30 Patienten mit pathologischen Kompressionswirbelfrakturen und anschließender Ballonkyphoplastie konnten die Autoren erwartungsgemäß in einer nichtkontrollierten Studie sowohl 2 Tage als auch 12 Wochen nach der Operation eine generelle Verbesserung nachweisen, wobei die Sensorwerte am ersten Tag mit radiologischen Kontrolluntersuchungen relativ gut korrelierten [27].

Die Göttinger Arbeitsgruppe um Frau Falla benutzte die große Datenmenge, die das Epionics Messsystem liefert, für eine neuartige statistische Analyse, in der die Nichtzufälligkeit bestimmter Muster analysiert wird [28]. Hier zeigte sich bemerkenswerterweise, dass Schmerzpatienten sich im Vergleich zu Gesunden durch eine geringere (zufällige) Variabilität auszeichnen. Dieses könnte auf die unterschiedliche Rekrutierung von Muskeln bei beginnendem Schmerz unter Bewegung zurückzuführen sein, wie kürzlich mittels einer neuartigen EMG-Analyse demonstriert wurde [24]. Diese Arbeiten zeigen zukünftige Optionen für die Verwendung des Epionics Systems, da hierdurch komplexere statistische Auswertungen möglich sind, als bei der Bestimmung weniger Endpunkte einer Bewegung. Dieses System bietet zudem die Möglichkeit, über längere Zeiträume die Häufigkeit von Bewegungen zu messen. Aufgrund des geringen Gewichts und der hohen Speicherkapazität ist eine problemlose Aufnahme, wie vor kurzem gezeigt, auch über 24 Stunden machbar und aussagekräftig [15]. Die Autoren maßen bei über 200 asymptomatischen Probanden beispielsweise die Frequenz von Winkeländerungen der lumbalen Lordose über 24 Stunden und fanden hier eine deutliche Altersabhängigkeit, aber überraschenderweise auch, dass Frauen eine deutlich höhere Beweglichkeit aufweisen. Diese Studie illustrierte zudem den insgesamt geringen Bereich der rückenbeweglichen Aktivitäten und liefert somit wichtige Daten, um zukünftig Langzeitmessungen auch bei Patienten zu machen und diese auch für die Analyse der zugrundeliegenden Störungen zu nutzen wie auch für die Bewertung von Therapien.

Allen mit Oberflächensensoren arbeitenden Systemen gemeinsam ist der Nachteil, der auch für das vorgestellte System gilt, dass bei den Bewegungen stets die Veränderung der äußeren Weichteile, und nicht der Wirbelsäule, gemessen wird, was insbesondere bei übergewichtigen Patienten naturgemäß die Aussage verfälschen kann [13, 14]. Bei allen Messsystemen ist zudem die Übertragung einzelner Messwerte auf bestimmte anatomische Landmarken nur eingeschränkt möglich. Wie schon in der Methodik beschrieben, ist auch beim Epionics SPINE System lediglich der untere Messpunkt anatomisch fixiert, der obere ist abhängig von der Körpergröße des Probanden und kann somit bei Th 8 oder deutlich höher liegen. Schon deshalb sind vermutlich alle diese Systeme nicht geeignet, eine topische Diagnostik bestimmter Störungen zu ermöglichen oder hierfür gar die Bildgebung zu ersetzen.

Selbstverständlich gibt es eine Reihe von Patienten, bei denen dieses System kaum zum Einsatz kommen kann: Hierzu zählen insbesondere Patienten mit einer langstreckigen Versteifung der Wirbelsäule oder Patienten, die nicht einmal eine minimale Choreographie aus medizinischen oder sonstigen Gründen durchführen können. Der Einsatz dieses Systems bei immobilisierten Patienten ist bislang nicht erprobt, wäre aber sicherlich denkbar.

Ein großer Vorteil des Epionics SPINE Systems ist aber die für die übrigen Patienten wenig belastende Anwendbarkeit, das geringe Gewicht sowie, wie oben beschrieben, die Möglichkeit zur gleichzeitigen Erfassung der ROM und der dazugehörigen Geschwindigkeit. Die Bewegungsgeschwindigkeit ist vermutlich der für die diagnostische Diskrimination zwischen Patienten und Gesunden entscheidende Messparameter, da bei den Bewegungsmaßen auch bei Verwendung dieses Systems die Überlappung zwischen Menschen mit und ohne Rückenschmerzen größer ist [16]. Ähnliches gilt bekanntlich auch für klinische Provokationstests (Übersicht bei [6]) und Testbatterien [10, 2]. Diese Möglichkeit zur differenzierten Abbildung von Veränderungen der segmentalen Geschwindigkeit bei den einzelnen Bewegungsrichtungen einerseits und sich erst langsam einstellenden Änderungen der ROM-Werte andererseits ist ein großer Vorteil dieses Systems, wie der im Fallbericht 1 dargestellte Verlauf zeigt. In der Regel bessern sich zuerst die Geschwindigkeiten, also die Dynamik der Bewegung (z.B. nach einem Opioidentzug oder umgekehrt nach Einleitung einer suffizienten Medikation), während vergrößerte Bewegungsausmaße sich erst als Folge einer mehrwöchigen bis mehrmonatigen Trainingstherapie nachweisbar einstellen. Die hierbei zu beobachtenden residualen Einschränkungen (s. Abb. 3, 4 und 5) erlauben die Planung einer individuellen Therapieoptimierung oder sind eben Ausdruck der strukturell nicht mehr behebbaren Folgen der Vortherapie wie die Versteifung im Fall 2 und der Nervenschaden in Fall 1 mit daraus resultierender Limitierung der Lateralflexion durch den kompensatorisch verkürzten Muskel (Abb. 5-B).

Aber die Möglichkeit zur konkreten Visualisierung und Differenzierung therapiebedingter Veränderungen der Rückenbeweglichkeit, die besonders zur Patientenedukation und -motivation herangezogen werden kann, war eine der entscheidenden Gründe, für die Etablierung dieses Systems bei uns in der klinischen Praxis. Inzwischen ist dieses Messsystem daher ein wichtiger Baustein in unserem multimodalen Therapiekonzept.

Interessenkonflikt: C.M. ist seit 2 Jahren im Advisory Board der Fa. Epionics tätig und hat hierfür Fahrtkostenerstattungen erhalten. J.A. hat Honorare für Schulungen am Epionics SPINE System erhalten. M.K. hat ein Honorar für einen Fortbildungsvortrag erhalten, in dem er das System der Fa. Epionics vorstellte.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Christoph Maier

Abt. für Schmerzmedizin

Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH

Bürkle-de-la-Camp-Platz 1

44789 Bochum

christoph.maier@rub.de

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Fussnoten

1 Abteilung für Schmerzmedizin, Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum Bergmannsheil GmbH, Ruhr-Universität Bochum

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