Übersichtsarbeiten - OUP 09/2015

Messung der lumbalen Rückenbeweglichkeit unter Alltagsbedingungen – Epionics SPINE Messsystem

in Winkelgrad umgerechnet werden. Darin wird der Radius von der Rückenkrümmung vorgegeben. Die Bogenlänge entspricht der Länge der biegesensitiven Messzone (= 2,5 cm). Im Fokus der Messung steht die Lendenlordose bis zum Lordose-Kyphose-Übergang. Dazu werden alle Messzonen bis zum automatisch ermittelten Übergang aufsummiert. Zusätzlich enthalten die Messstreifen je einen 3-achsigen Beschleunigungssensor am oberen und unteren Ende (Abb. 1). Diese liefern Daten über die Neigung der Sensorstreifen im Gravitationsfeld der Erde. Dadurch wird neben der Erfassung der Lendenlordose auch eine Messung der Beckenneigung in der Sagittalebene sowie der Seitneigung in der Frontalebene möglich. Für die Beckenneigung werden dazu die Messsignale der X-Achse und der Z-Achse der unteren Beschleunigungssensoren mittels der Formel:

umgerechnet. Kompensatorische Ausgleichsbewegungen des Beckens können so dokumentiert werden (13, 14, 15, 16).

Messwerterfassung

Alle Messdaten werden 50-mal pro Sekunde erfasst, womit neben der nur räumlichen auch eine ausreichend hohe zeitliche Auflösung gewährleistet ist, sodass neben der Berechnung der Bewegungswinkel hinaus über die erste und zweite Ableitung auch die Bestimmung der Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung als dynamische Parameter möglich ist. Hieraus können weitere abgeleitete Parameter wie z.B. Maximalgeschwindigkeit bei verschiedenen Bewegungsrichtungen berechnet werden. Die Bewegungsdaten werden über eine Bluetooth-Verbindung an einen PC übertragen und dort zusammen mit den Patientendaten gespeichert.

Ablauf der Messung und
Darstellung der Ergebnisse

Die Messung erfolgt im Rahmen einer 20-minütigen Choreographie mit standardisierten Vorgaben. Sie enthält Übungen, die 3-mal wiederholt werden, für 4 Bewegungsrichtungen (Flexion, Extension, beidseitige Rotation und Lateralflexion) im Stehen und zum Teil auch im Sitzen sowie Mischbewegungen wie den Sock- und den Piletest [5, 17], also klinische Tests, die gut validiert sind und vor allem typische Alltagsbewegungen repräsentieren (Abb. 2 C1–2, Abb. 3).

Die Anwendersoftware analysiert die Datensätze nach geschlechtsspezifischen Referenzdaten für derzeit 3 Altersgruppen (18–35, 36–50 Jahre und älter (teilweise publiziert in [14])). Die beigefügte Software gibt für alle o.g. Bewegungsrichtungen im Sitzen und Stehen jeweils die Maße für Winkelgrade und Geschwindigkeiten in einer umfangreichen, auf Wunsch auch komprimierbaren Übersicht heraus (Beispiel in Abb. 3). Für die Zusammenfassung hat sich hierbei, vor allem für die Information des Probanden selbst, die „Spinnendarstellung“ bewährt, die beide Parameter für jeweils 6 Bewegungsrichtungen übersichtlich darstellt (Abb. 4-B; Abb. 5-A). Diese Ausgabeform hat sich besonders bewährt, weil sie durch eine Farbkodierung die Zuordnung zu sicher pathologischen Werten (rotes Zentrum; Abb. 4-A), zu Übergangswerten (grau dargestellt) oder zu Normwerten (grün) sichtbar macht, d.h. zu einem Wert innerhalb des oberen 75 %-Konfidenzintervalls der jeweiligen Altersgruppe. Diese Darstellungsform (vgl. Abb. 4 und Abb. 5) hat sich als hilfreich sowohl für die Kommunikation zwischen allen beteiligten Therapeuten (Ärzten, Physiotherapeuten und Psychologen) als auch für die Edukation und Motivationsförderung der Patienten selbst erwiesen, wie die beiden folgenden Fallberichte unterstreichen sollen.

Fallberichte

Fallbericht 1

Der 48-jährige Mann stellt sich vor mit einem seit 5 Jahren bestehenden, vorwiegend lokal betontem Rückenschmerz, der nach einer Laminektomie L5/S1 sowie einer kurz darauf erfolgten Spondylodese L5/S1 vor 5 Jahren persistierte. Die Schmerzintensität war sehr hoch (NRS bis 7 (0...11)) mit Verstärkung bei Rotationsbewegungen. Das Gangbild war verlangsamt, der Finger-Boden-Abstand betrug 46 cm. Es bestand beidseits eine hochgradig eingeschränkte Rotations- und Lateralisationsbeweglickeit. Neurologisch war er weitgehend unauffällig bis auf einen ASR-Verlust beidseits (Polyneuropathie). Diverse Vorbehandlungen waren ohne Ergebnis, darunter Facettenblockaden, PRT und diverse Opioide. Die aktuelle Medikation bestand aus Tramadol (600–800 mg täglich), Gabapentin, NSAR und Antidepressiva. Die psycho-soziale Situation war weitgehend desolat. Wegen 4-jähriger Arbeitslosigkeit war er seit 2 Jahren ausgesteuert, ein Rentenantrag wurde aber noch nicht gestellt. Psychologisch war sein Umgang mit dem Schmerz hilflos bis katastrophisierend, verstärkt durch „fachärztliche“ Hinweise, dass man sich nach einer Spondylodese möglichst wenig bewegen dürfe. Bei der klinischen und apparativen Eingangsuntersuchung fand sich eine durch ausgeprägte Ängstlichkeit noch akzentuierte weitgehende Aufhebung der Beweglichkeit der LWS in allen Ebenen (sowohl bei einfachen wie gemischten Bewegungen (Abb. 3 und 4-A)). Nach Beginn einer multimodalen Therapie mit intensiver Psycho-Edukation und Krisenintervention, Opioid-Entzug und schrittweisem Aufbau eines Übungsprogramms zeichnete sich innerhalb von 14 Tagen eine Normalisierung seiner lumbalen Bewegungsmaße und -geschwindigkeiten bei nach wie vor stark eingeschränkter Extension und Lateralflexion ab (Abb. 3 und 4-B). Nach der stationären Entlassung begann er eine Psychotherapie und nahm an einem ambulanten Quotentraining teil mit schrittweiser Steigerung der Leistungsvorgaben in einer Gruppen- und sportmedizinisch angeleiteten Gerätetherapie. Bis auf eine Restmedikation von 60 mg Duloxetin zur Behandlung seiner Polyneuropathieschmerzen und einer Bedarfsmedikation mit Metamizol konnte die Medikation vollständig abgesetzt werden, die Intensität der verbleibenden Schmerzen lag zuletzt bei NRS 2–3. Bei der Spine-Messung 2 Monate später zeigten sich kohärent zur Klinik altersnormale Bewegungsausmaße und segmentale Geschwindigkeiten bis auf die bleibenden Einschränkungen bei der Flexion und Extension, die sich aus der lumbosakralen Spondylodese erklären. Follow-up: Nach 12 Monaten ist es zu einer geringen Verschlechterung gekommen, zur Prävention eines weiteren Rückschlags ist eine erneute stationäre Therapie vorgesehen.

Fallbericht 2

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