Arzt und Recht - OUP 12/2013

Beratung vor Regress – Widerspruch gegen Beratung?

Rechtsanwalt Dr. Christoph Osmialowski, Fachanwalt für Medizinrecht, Karlsruhe

Einleitung

Seit dem 01.01.2012 gilt gemäß dem durch das Versorgungsstrukturgesetz neu eingefügten § 106 Abs. 5e SGB V die Regel „Beratung vor Regress“. Bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens für Arznei- und Heilmittelverordnungen um mehr als 25 % darf zunächst von den Prüfeinrichtungen lediglich eine Beratung verhängt werden. Ein Regress darf hingegen erst bei einer darauffolgenden Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % und auch erst für den Prüfzeitraum (Richtgrößenprüfung: in der Regel das Kalenderjahr) festgesetzt werden, der auf die Beratung folgt. Wird demnach beispielsweise für das Jahr 2009 im Widerspruchsverfahren vor dem Beschwerdeausschuss durch Widerspruchsbescheid eine Beratung (in der Regel als Anlage zum Widerspruchsbescheid) festgesetzt und erteilt, dem Vertragsarzt aber erst im Jahr 2012 zugestellt, kann ein Regress erst für das darauffolgende Jahr 2013 bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % festgesetzt werden.

Diese Regelung hat bereits dazu geführt (und wird auch in Zukunft dazu führen), dass vermehrt Beratungen festgesetzt und erteilt werden. Allein deshalb drängt sich umso mehr die Frage auf, in welchen Fällen auch gegen eine Beratung, die ja keine „finanziellen Schmerzen“ verursacht, Widerspruch eingelegt werden sollte. Die im Folgenden dargestellten Entscheidungen des Bundessozialgerichts verdeutlichen die Rechtslage. Die zweite Entscheidung soll hierbei darauf aufmerksam machen, dass nunmehr unter Umständen auch Verfahrenskosten bereits im Widerspruchsverfahren in die Überlegungen einzubeziehen sind.

BSG, Urteil vom 05.06.2013, Az. B 6 KA 40/12 R

Zum Sachverhalt

Die aus 2 Fachärzten bestehende Gemeinschaftspraxis wendete sich gegen die Festsetzung einer Beratung im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung aufgrund von Richtgrößen für das Jahr 2006.

Die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkasse setzte mit Bescheid gegen die Gemeinschaftspraxis wegen Überschreitung der Richtgröße der Fachärzte einen Regress in Höhe von 2.789,37 € fest. Ihre Verordnungskosten hätten im Jahr 2006 einschließlich Sprechstundenbedarf brutto 767.142,29 € betragen bei einem Richtgrößenvolumen von 502.227,56 €. Eine Summe in Höhe von 126.745,27 € brachte die Prüfungsstelle in Abzug, weil sie Verordnungen für Indikationsgebiete betrafen, die als Praxisbesonderheiten in der Prüfungsvereinbarung festgelegt waren. Weitere 7.900,76 € zog die Prüfungsstelle für Mehraufwendungen für einen erhöhten Anteil an speziellen Patienten (6,8 % gegenüber 1,3 % in der Vergleichsgruppe) ab.

Soweit die Gemeinschaftspraxis sich darauf berufen habe, dass sie eine Vielzahl von Pflegeheimpatienten behandele, habe sie weder zu den von ihr namentlich benannten 20 Patienten, die Verordnungskosten von mehr als 2.000,00 € verursacht hätten, noch zu den 200 pauschal angegebenen Pflegeheimpatienten Angaben zu Indikation, Diagnose, Name der Versicherten, Krankenkassenversichertennummer, verordneten Arzneimitteln sowie Menge und Quartalskosten der Einzelmedikamente gemacht. Soweit der durchschnittliche Rentneranteil der Fachgruppe um 25 % überschritten sei, sei dies mit der höheren Richtgröße für Rentner berücksichtigt worden. Es verbleibe eine Überschreitung der gewichteten Richtgröße von 25,92 %.

Auf den Widerspruch der Gemeinschaftspraxis, zu dessen Begründung sie erneut auf die Praxisbesonderheit „Heimbetreuung“ verwies, hob der beklagte Beschwerdeausschuss mit Bescheid den Regress auf und setzte eine Beratung fest. Er führte unter anderem aus, Pflegeheimpatienten könnten wegen einer aufwendigen Betreuung eine Besonderheit darstellen. Es verbleibe eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens von 20,93 %, sodass eine Beratung festzusetzen sei.

Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage abgewiesen.

Zur Begründung ihrer Sprungrevision trägt die Gemeinschaftspraxis vor, der Umfang der ihr auferlegten Darlegungspflichten sei rechtswidrig.

Aus den Gründen

Die zulässige Sprungrevision der Gemeinschaftspraxis ist nach Auffassung des Bundessozialgerichts unbegründet.

Die Gemeinschaftspraxis sei durch den angefochtenen Bescheid zwar formell beschwert im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG und damit klagebefugt. Sie erstrebe die Beseitigung einer in ihre Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme, die sie als rechtswidrig beanstandet.

Ein nachteiliges Einwirken auf die Rechtssphäre der Klägerin fehle nicht etwa deshalb, weil der angefochtene Bescheid keine materielle Ausgleichspflicht festsetzt, sondern nur eine immaterielle Maßnahme der „Beratung“. Auch bei der Beratung nach § 106 Abs. 1a i.V.m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V handele es sich nach der gesetzlichen Konzeption um eine Sanktion im Falle der Überschreitung des Richtgrößenvolumens. Das Sozialgericht habe zu Recht darauf hingewiesen, dass Richtgrößen nach der Intention des Gesetzgebers eine Steuerungsfunktion zukommt und dies im Wortlaut des § 84 Abs. 6 Satz 3 SGB V zum Ausdruck kommt. Danach leiten die Richtgrößen den Vertragsarzt bei seinen Entscheidungen über die Verordnung von Leistungen nach § 31 SGB V nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Die Steuerungsfunktion werde über die Wirtschaftlichkeitsprüfungen abgesichert (vgl. BT-Drucks. 12/3608 S. 100 zu Nummer 56 <§ 106> zu Buchst. f). Wie jede Maßnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung ziele auch die Beratung nach § 106 Abs. 1a i.V.m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V letztlich auf eine Verhaltensänderung.

Die konkrete Ausgestaltung der Maßnahme stehe im Ermessen der Prüfgremien (vgl. BT-Drucks. 14/6309 S. 11 zu Nummer 4 <§ 106> zu Buchst. b), soweit die Partner der Gesamtverträge keine Bestimmungen in den Prüfungsvereinbarungen treffen. Dem Sinn und Zweck der Maßnahme dürfte am ehesten ein persönliches Beratungsgespräch gerecht werden, wie es nach den Angaben der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung in Sachsen von den Prüfgremien auch regelmäßig durchgeführt wird.

Unabhängig von der Art ihrer Ausgestaltung erfolge mit der Festsetzung einer Beratung jedenfalls eine Beurteilung des Verordnungsverhaltens des Vertragsarztes. Die Prüfgremien träfen die Feststellung, dass eine Überschreitung der Richtgrößen nicht durch Praxisbesonderheiten begründet, das Verordnungsverhalten des Vertragsarztes mithin unwirtschaftlich war. Der Vertragsarzt müsse sich der Maßnahme der „Beratung“ unterziehen, auch wenn diese unter Umständen nur in der Kenntnisnahme des Festsetzungsbescheides besteht. Der damit verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit begründe eine Beschwerde der Gemeinschaftspraxis.

Für die Zeit ab dem 01.01.2012 komme hinzu, dass nach der Einfügung von § 106 Abs. 5e SGB V durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz (vom 22.12. 2011 – BGBl I 2983) die Festsetzung einer Beratung für einen vorhergehenden Prüfzeitraum Voraussetzung für die Festsetzung eines Regresses ist. Schließlich sei auch nicht ausgeschlossen, dass die Beratung als Maßnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung für die rechtlichen Voraussetzungen in anderen Verfahren, etwa in einem Disziplinarverfahren oder auch einem Zulassungsentziehungsverfahren, eine Rolle spielen kann.

Art und Umfang der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten durch den Beschwerdeausschuss seien nicht zu beanstanden. Ebenso wie bei der Prüfung nach Durchschnittswerten bestehe auch bei einer Richtgrößenprüfung ein Beurteilungsspielraum der Prüfgremien, soweit es um die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten geht (vgl. BSG SozR 4–2500 § 84 Nr. 2 RdNr. 38; BSG, Urteil vom 02.11.2005, Az. B 6 KA 63/04 R = ArztR 2006, 246). Der Begriff der Praxisbesonderheiten ist hier nicht anders zu verstehen als im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (vgl. BSG SozR 4–2500 § 84 Nr. 2 RdNr. 38; BSG, Urteil vom 22.06.2005, Az. B 6 KA 80/03 R = ArztR 2006, 162; Clemens in Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 36 RdNr. 123 Fn. 129). Praxisbesonderheiten sind anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf der Patientenklientel und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen werden (BSG, Urteil vom 22.06.2005, Az. B 6 KA 80/03 R = ArztR 2006, 162). Regelmäßig nicht zielführend ist der Hinweis auf schwere und kostenintensive Erkrankungen, weil sich solche Fälle in jeder Praxis finden (vgl. BSG SozR 4–2500 § 84 Nr. 2 RdNr. 38; Clemens a.a.O., RdNr. 63).

Praxisbesonderheiten ermittele nach § 106 Abs. 5a Satz 8 SGB V i.d.F. des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007 (BGBl I 378) die Prüfungsstelle grundsätzlich auf Antrag des Arztes, auch durch Vergleich mit den Diagnosen und Verordnungen in einzelnen Anwendungsbereichen der entsprechenden Fachgruppe. Die Ermittlungen des Beschwerdeausschusses genügten unabhängig davon jedenfalls den von der Rechtsprechung hierzu allgemein entwickelten Grundsätzen:

Danach seien die Prüfgremien zu Ermittlungen von Amts wegen hinsichtlich solcher Umstände verpflichtet, die typischerweise innerhalb der Fachgruppe unterschiedlich und daher augenfällig sind (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2012, Az. B 6 KA 17/11 R = ArztR 2012, 305). Den von der Gemeinschaftspraxis als Besonderheit geltend gemachten Umständen sei der Beschwerdeausschuss hinreichend nachgegangen. Er habe mit Hilfe eines Diagnosevergleichs einen Mehraufwand berücksichtigt. Bezüglich der von der Gemeinschaftspraxis namentlich benannten Patienten habe der Beschwerdeausschuss nach eingehender Überprüfung Kosten als Praxisbesonderheiten anerkannt. Im Übrigen habe er einen Vergleich der 30 häufigsten Diagnosen in der Fachgruppe angestellt und lediglich bei den Besuchsleistungen geringfügige Überschreitungen der Gemeinschaftspraxis in Relation zur Fachgruppe festgestellt. Hieraus habe er beurteilungsfehlerfrei geschlossen, dass eine besondere Klientel, die einen Mehraufwand im Verordnungsbereich erforderlich mache, nicht ersichtlich sei.

Rechtsfehlerfrei habe der Beschwerdeausschuss angenommen, dass die Betreuung von Pflegeheimbewohnern eine Praxisbesonderheit darstellen kann, wenn nachweisbar ein erhöhter Behandlungsbedarf besteht. Ein solcher ergebe sich aber nicht per se aus dem Umstand, dass ein Patient in einem Pflegeheim wohnt. Weder die Pflegebedürftigkeit noch die spezielle Wohnsituation ließen ohne Weiteres auf erhöhte Verordnungskosten schließen. Der Beschwerdeausschuss habe im Rahmen seiner Amtsermittlung mögliche Besonderheiten in diesem Zusammenhang untersucht und berücksichtigt. Er habe erhöhte Kosten für Wundbehandlungen bei Pflegebedürftigen erwogen, aber nicht feststellen können. Ein Vergleich der Diagnosehäufigkeiten mit der Fachgruppe zeigte keine signifikanten Besonderheiten. Weitere Ermittlungen von Amts wegen musste der Beschwerdeausschuss nicht anstellen. Entgegen der Auffassung der Gemeinschaftspraxis sei der Beschwerdeausschuss nicht verpflichtet gewesen, die Verordnungskosten für die einzelnen von der Gemeinschaftspraxis behandelten Pflegeheimbewohner zu ermitteln. Dies dürfte ihm schon deshalb nicht möglich gewesen sein, weil ihm nach §§ 296 ff. SGB V Adressen von Versicherten für die arztbezogenen Prüfungen nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 SGB V regelmäßig nicht übermittelt werden.

Etwaige Mehraufwendungen für die Betreuung von Pflegeheimpatienten hätte vielmehr die Gemeinschaftspraxis konkret darlegen müssen. Die Darlegungs- und Feststellungslast für besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende atypische Umstände wie Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen obliege dem Arzt (BSG, Urteil vom 27.06.2001, Az. B 6 KA 43/00 R = ArztR 2002,133). Es bestehe insofern in der Wirtschaftlichkeitsprüfung ein gewisses Spannungsfeld zwischen der nach § 20 Abs 1 SGB X bestehenden Verpflichtung der Prüfgremien, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, und der besonderen Mitwirkungspflicht des geprüften Arztes, die über die allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 21 Abs. 2 SGB X hinausgeht (vgl. BSG SozR 4–2500 § 106 Nr. 35 RdNr. 40 m.w.N.). Grundsätzlich sei es Angelegenheit des Vertragsarztes, die für ihn günstigen Tatsachen so genau wie möglich anzugeben und zu belegen, vor allem, wenn sie allein ihm bekannt sind oder nur durch seine Mithilfe aufgeklärt werden können (vgl. BSG a.a.O. m.w.N.). Der Arzt sei gehalten, solche Umstände im Prüfungsverfahren, also spätestens gegenüber dem Beschwerdeausschuss, geltend zu machen, die sich aus der Atypik seiner Praxis ergeben, aus seiner Sicht auf der Hand liegen und den Prüfgremien nicht ohne Weiteres an Hand der Verordnungsdaten und der Honorarabrechnung bekannt sind oder sein müssen (BSG a.a.O. RdNr. 42).

Die Gemeinschaftspraxis habe hier zwar auf die Betreuung von Versicherten in Pflegeheimen hingewiesen, aber nicht dargelegt, inwiefern der Verordnungsbedarf bei Pflegeheimbewohnern wesentlich anders sein soll als bei – typischerweise ebenfalls älteren – Rentnern, deren erhöhter Bedarf durch die besonderen Richtgrößen für diese Gruppe bereits berücksichtigt war. Abgesehen von der namentlichen Nennung von 20 Patienten, davon 17 Pflegeheimbewohnern, mit besonderem Verordnungsaufwand (insgesamt nach Angaben der Gemeinschaftspraxis 70.802,00 €) gegenüber dem Prüfungsausschuss habe sie sich im gesamten Verfahren auf den pauschalen Hinweis auf die Betreuung von Pflegeheimbewohnern beschränkt, ohne auch nur ein konkretes Beispiel für die Notwendigkeit besonders aufwendiger Verordnungen zu nennen. Ungeachtet dessen, dass im Revisionsverfahren neuer Sachvortrag nicht berücksichtigt werden kann, § 163 SGG, beziehe sich die im Revisionsverfahren vorgelegte Liste auf Bewohner eines Seniorenheims, nicht eines Pflegeheims, und belege lediglich das hohe Alter der Patienten. Auch insofern behaupte die Gemeinschaftspraxis lediglich einen überdurchschnittlichen Verordnungsaufwand, ohne diesen näher zu begründen (vgl. dazu BSG, Beschluss vom 15.08.2012, Az. B 6 KA 101/11 B, RdNr. 9). Anhand ihrer Behandlungsdokumentationen wäre für sie aber mit vertretbarem Aufwand nachvollziehbar gewesen, welche Verordnungen für welche Patienten aufgrund welcher Diagnosen ausgestellt wurden. Für 20 Patienten habe sie entsprechende Aufstellungen vorgelegt, die auch näher geprüft und berücksichtigt worden sind. Es sei nicht ersichtlich, dass ihr weiterer Vortrag unzumutbar gewesen wäre.

Der Beschwerdeausschuss habe zu Recht als Maßnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine Beratung festgesetzt. Beratungen der Vertragsärzte nach § 106 Abs. 1a SGB V auf der Grundlage von Übersichten über die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum verordneten Leistungen über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung würden nach § 106 Abs. 5a Satz 1 SGB V durchgeführt, wenn das Verordnungsvolumen eines Arztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 % übersteigt und die Prüfgremien nicht davon ausgehen, dass die Überschreitung in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 % habe der Vertragsarzt nach § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V nach Feststellung durch die Prüfgremien den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten. Da nach Abzug der anerkannten Praxisbesonderheiten hier eine Überschreitung des Richtgrößenvolumens um 20,93 % verblieb, hätten die Voraussetzungen für die Festsetzung einer Beratung vorgelegen.

BSG, Urteil vom 06.02.2013, Az. B 6 KA 2/12 R; Gebühr für erfolglosen Widerspruch

Zum Sachverhalt

Die Ärztin wendet sich gegen die Festsetzung einer Gebühr in Höhe von 100,00 € für einen von ihr ohne Erfolg erhobenen Widerspruch.

Die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid zurück. Der Verfügungssatz zu II lautete: „Für dieses Widerspruchsverfahren wird eine Gebühr in Höhe von 100,00 € festgesetzt.“ Zur Begründung bezog sich die KÄV auf ihre Gebührenordnung, die für erfolglose Widerspruchsverfahren Gebühren in dieser Höhe vorsehe.

Gegen diese Gebührenfestsetzung hat die Ärztin bei dem Sozialgericht erfolglos Klage erhoben. Das Landessozialgericht hat die Berufung mit Urteil zurückgewiesen. Die Gebührensatzung sei formell und materiell rechtmäßig.

Hiergegen wendet sich die Ärztin mit ihrer Revision.

Aus den Gründen

Die Revision der Ärztin hat nach dem Urteil des Bundessozialgerichts keinen Erfolg. Die Festsetzung einer Gebühr in Höhe von 100,00 € für das erfolglos durchgeführte Widerspruchsverfahren ist rechtmäßig.

Grundlage für die Erhebung der Gebühr sei § 1 Abs. 1 Buchstabe b der Gebührenordnung der KÄV. Danach würden Gebühren gemäß § 24 Abs. 3 der Satzung erhoben für Widerspruchsverfahren nach § 4 Abs 6 der Satzung, soweit sie nicht erfolgreich sind. § 24 Abs. 3 der Satzung bestimmt, dass die KÄV für besonders aufwendige Verwaltungstätigkeiten und für Widerspruchsverfahren, soweit sie nicht erfolgreich sind, auch Gebühren erheben kann. Die Gebührensätze seien nach dem Verwaltungsaufwand (Kostendeckungsprinzip) zu bemessen. Das Nähere regele die Gebührenordnung, die von der Vertreterversammlung zu beschließen ist. Das Landessozialgericht habe rechtsfehlerfrei der Formulierung „kann“ in § 24 Abs. 3 Satz 1 der Satzung eine Ermächtigung entnommen.

Das Landessozialgericht habe auch zu Recht entschieden, dass die Kostenregelung nicht gegen Bundesrecht verstößt. § 64 SGB X stehe der Erhebung der Gebühr nicht entgegen. Zwar werden nach dieser Vorschrift für das Verfahren bei den Behörden nach diesem Gesetzbuch keine Gebühren und Auslagen erhoben. Behörden in diesem Sinne seien auch die KÄVen nach § 77 SGB V (vgl. zur Anwendung des SGB X auch im vertragsärztlichen Zulassungsrecht BSG, Urteil vom 06.05.2009, Az. B 6 KA 7/08 R = ArztR 2010, 22; zur Wirtschaftlichkeitsprüfung vgl. BSG SozR 3–1300 § 63 Nr. 10 S. 33). Die Vorschrift gelte insbesondere auch für Widerspruchsverfahren (BT-Drucks. 8/2034 S. 36 zu § 62). Abweichungen von den Kostenregelungen des SGB X seien den KÄVen damit grundsätzlich nicht gestattet (vgl. zu § 63 SGB X BS, Urteil vom 31.05.2006, Az. B 6 KA 78/04 R = ArztR 2007, 106).

Die Auferlegung von Kosten in begrenztem Umfang für den Fall eines erfolglosen Widerspruchs sei durch § 64 SGB X jedoch nicht ausgeschlossen. Nach § 37 Satz 1 SGB I gelte das Erste und Zehnte Buch Sozialgesetzbuch nur, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt. Anderweitige Regelungen im Sinne von § 37 Satz 1 Halbsatz 1 SGB I könnten unmittelbar gesetzliche Regelungen sein, aber auch untergesetzliche Regelungen aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigungsnorm, die Bestandteil der besonderen Teile des SGB ist (vgl. BSG, Urteil vom 31.05.2006, Az. B 6 KA 78/04 R = ArztR 2007, 106).

Eine ausdrückliche abweichende Regelung finde sich für das Vertragsarztrecht etwa in § 98 Abs. 2 Nr. 4 SGB V. Für das Zulassungsrecht – für das ungeachtet der Regelungen in §§ 36 ff Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) auch das SGB X gilt – bestimmt § 98 Abs. 2 Nr. 4 SGB V, dass die Zulassungsverordnungen Vorschriften „über die Verfahrensgebühren unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufwandes und der Bedeutung der Angelegenheit für den Gebührenschuldner sowie über die Verteilung der Kosten der Ausschüsse auf die beteiligten Verbände“ enthalten müssen. Hierauf beruhende Gebührenregelungen enthalten § 46 Ärzte-ZV und § 46 Zahnärzte-ZV.

Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der Kostenfreiheit auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung hat der Senat für das Verwaltungsverfahren bei Disziplinarmaßnahmen bejaht (BSG, Urteil vom 28.08.1996, Az. 6 BKa 22/96; bestätigt mit Beschluss vom 28.06.2000, Az. B 6 KA 1/00 B; ebenso Hencke, in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Stand Januar 2012, § 81 SGB V RdNr. 7 und 45; Hess a.a.O., § 81 SGB V RdNr. 12), für das ebenfalls grundsätzlich das SGB X gilt (BSG, Beschluss vom 09.12.2004, Az. B 6 KA 70/04 B).

Rechtsgrundlage für die hier streitige Kostenregelung für das Widerspruchsverfahren sei § 81 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V. Danach muss die Satzung der KÄV insbesondere Bestimmungen über Aufbringung und Verwaltung der Mittel enthalten. In dieser Regelung sieht der Senat in ständiger Rechtsprechung die Ermächtigungsgrundlage für Vorschriften über die „Festsetzung von Verwaltungskosten“ (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 17.08.2011, Az. B 6 KA 2/11 R = ArztR 2012, 107). Da die Vorschrift keine näheren Vorgaben für die Ausgestaltung der Erhebung von Beiträgen durch die KÄVen macht, seien Art und Weise der Einnahmenerhebung dem Gestaltungsspielraum des Satzungsgebers überlassen, der dabei die allgemeinen Grundsätze des Beitragsrechts sowie den Gleichheitssatz zu beachten hat (BSG, Urteil vom 17.08.2011, Az. B 6 KA 2/11 R = ArztR 2012, 107). Die Verwaltungskostenbeiträge habe der Senat als Gegenleistung für Vorteile angesehen, die das Mitglied aus der Zugehörigkeit zu einer Körperschaft oder aus einer besonderen Tätigkeit dieser Körperschaft zieht oder potentiell ziehen kann (a.a.O. RdNr. 17 ff.).

Der Umstand, dass jeder Vertragsarzt mit seinem Verwaltungskostenbeitrag die allgemeine Tätigkeit der KÄV wie etwa die Honorarabrechnung bereits finanziert, schließe nicht aus, dass für besondere Tätigkeiten, die vom Vertragsarzt veranlasst werden und erhöhten Aufwand und Kosten verursachen, Gebühren erhoben werden. Aus der allgemeinen Finanzierungsregelung des § 81 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V könne vielmehr auch die Berechtigung zur Erhebung von Gebühren abgeleitet werden (ebenso Feddern, in: juris-PK SGB X, 2013, § 64 RdNr. 24 unter Hinweis auf die hier angefochtene Entscheidung; vgl. auch Schiller, Erhebung von Beiträgen und Gebühren durch die Kassenärztlichen Vereinigungen, MedR 2004, 348, 351; sowie LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 01.09.2004, Az. L 5 KA 1529/03 = MedR 2005, 483, 484 zu einer Pfändungsgebühr). Der in dieser Vorschrift verwendete Begriff der „Mittel“ begrenze schon vom Wortsinn die KÄV nicht auf die Erhebung von Beiträgen.

Auch die Höhe der Gebühr sei nicht zu beanstanden. Die KÄVen müssten im Rahmen der ihnen zukommenden Satzungsautonomie die für das öffentliche Beitrags- und Gebührenrecht geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe, insbesondere das Äquivalenzprinzip, beachten. Letzteres erfordere, dass zwischen der Höhe des Beitrags und dem Nutzen des Beitragspflichtigen ein Zusammenhang besteht. Hierfür genüge, dass die Beitragshöhe nicht in einem groben Missverhältnis zu den Vorteilen steht, die der Beitrag abgelten soll (BSG, Urteil vom 17.08.2011, Az. B 6 KA 2/11 R = ArztR 2012, 107). Ein solches Missverhältnis sei bei der Gebühr in Höhe von 100,00 € ausgeschlossen. Es sei davon auszugehen, dass die verwaltungstechnische und inhaltliche Bearbeitung eines Widerspruchs bei einer zulässig typisierenden Betrachtung einen finanziellen Aufwand der Behörde weit oberhalb dieses Betrages verursacht. Aus diesem Grund sei auch ein Verstoß gegen das Kostendeckungsprinzip nicht gegeben. Angesichts der moderaten Höhe der Verfahrensgebühr sei nicht ersichtlich, dass ihre Erhebung über die Deckung des für das Widerspruchsverfahren erforderlichen Verwaltungsaufwandes hinaus in unzulässiger Weise der Finanzierung allgemeiner Aufgaben der KÄV dient. Gebühren der hier streitigen Art dürften die Finanzierung der KÄV durch umsatzbezogene Verwaltungskostenbeiträge aller Vertragsärzte lediglich für besondere Aufgabenbereiche ergänzen, aber nicht im originären Aufgabenbereich ersetzen. Für Letzteres fehle es hier schon im Hinblick auf die Relation zwischen den gesamten Verwaltungskosten der Beklagten (nach dem Rechenschaftsbericht für das Geschäftsjahr 2010 mehr als 150 Mio. €) und dem potentiellen Aufkommen durch die Widerspruchsgebühr an jedem Anhaltspunkt. Das dürfte angesichts des besonderen Aufwandes im Übrigen auch gelten, soweit die Satzung für erfolglose Widerspruchsverfahren, in denen Qualitätsprüfungen anhand von Unterlagen durchzuführen sind, erhöhte Gebühren vorsieht.

Fazit

Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts zeigen, dass grundsätzlich auch gegen die (zunächst) festgesetzte Beratung Widerspruch und Klage statthaft sind, da auch die Beratung ohne „finanziellen Schmerz“ den Vertragsarzt in seinen Rechten verletzen kann. Hierbei spielt wie in jedem Rechtsbehelfsverfahren über Wirtschaftlichkeitsprüfung die Darlegungslast des Vertragsarztes insbesondere hinsichtlich Praxisbesonderheiten eine ganz wesentliche Rolle, da insofern der im Übrigen im Sozialrecht geltende Amtsermittlungsgrundsatz eingeschränkt ist. Der Vertragsarzt sollte demnach nur dann Widerspruch einlegen, wenn er die für ihn günstigen Umstände (in der Regel Praxisbesonderheiten), die zur Minderung/Beseitigung des Regresses/der Beratung führen können, auch beweisen kann. Darüber hinaus sollte nunmehr vor Einlegung des Widerspruchs geprüft werden, ob nach der Gebührenordnung der jeweils zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung des Bundeslandes eine Gebühr (auch) für den erfolglosen Widerspruch zu zahlen ist.

Gegebenenfalls kann der schriftlichen Beratung schon mit dem Argument erfolgreich entgegengetreten werden, dass das Bundessozialgericht das persönliche Beratungsgespräch für am günstigsten hält. Ob durch die Feststellung im Widerspruchs-/Klageverfahren, dass eine erteilte Beratung (auch darüber hinaus) zu Unrecht erfolgt ist, dazu führt, dass nach wie vor gemäß § 106 Abs. 5e SGB V ein „Freiversuch“ für eine Beratung vor Regress verbleibt, ist offen. Da der Gesetzestext insofern nicht eindeutig ist und eine höchstrichterliche Klärung noch nicht vorliegt, ist es vertretbar, bei Vorliegen der entsprechenden Nachweise im Widerspruchsverfahren gegen die erstmalige Überschreitung der Richtgrößenvolumen um mehr als 25 % bzw. die verhängte Beratung vorzugehen, um die Gefahr eines Regresses ggf. auf den Prüfzeitraum nach der ersten rechtmäßig verhängten Beratung zu „verschieben“.

Korrespondenzadresse

RA Dr. Christoph Osmialowski

Kanzlei für ArztRecht

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