Arzt und Recht - OUP 12/2013

Beratung vor Regress – Widerspruch gegen Beratung?

Unabhängig von der Art ihrer Ausgestaltung erfolge mit der Festsetzung einer Beratung jedenfalls eine Beurteilung des Verordnungsverhaltens des Vertragsarztes. Die Prüfgremien träfen die Feststellung, dass eine Überschreitung der Richtgrößen nicht durch Praxisbesonderheiten begründet, das Verordnungsverhalten des Vertragsarztes mithin unwirtschaftlich war. Der Vertragsarzt müsse sich der Maßnahme der „Beratung“ unterziehen, auch wenn diese unter Umständen nur in der Kenntnisnahme des Festsetzungsbescheides besteht. Der damit verbundene Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit begründe eine Beschwerde der Gemeinschaftspraxis.

Für die Zeit ab dem 01.01.2012 komme hinzu, dass nach der Einfügung von § 106 Abs. 5e SGB V durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz (vom 22.12. 2011 – BGBl I 2983) die Festsetzung einer Beratung für einen vorhergehenden Prüfzeitraum Voraussetzung für die Festsetzung eines Regresses ist. Schließlich sei auch nicht ausgeschlossen, dass die Beratung als Maßnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung für die rechtlichen Voraussetzungen in anderen Verfahren, etwa in einem Disziplinarverfahren oder auch einem Zulassungsentziehungsverfahren, eine Rolle spielen kann.

Art und Umfang der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten durch den Beschwerdeausschuss seien nicht zu beanstanden. Ebenso wie bei der Prüfung nach Durchschnittswerten bestehe auch bei einer Richtgrößenprüfung ein Beurteilungsspielraum der Prüfgremien, soweit es um die Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten geht (vgl. BSG SozR 4–2500 § 84 Nr. 2 RdNr. 38; BSG, Urteil vom 02.11.2005, Az. B 6 KA 63/04 R = ArztR 2006, 246). Der Begriff der Praxisbesonderheiten ist hier nicht anders zu verstehen als im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (vgl. BSG SozR 4–2500 § 84 Nr. 2 RdNr. 38; BSG, Urteil vom 22.06.2005, Az. B 6 KA 80/03 R = ArztR 2006, 162; Clemens in Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 36 RdNr. 123 Fn. 129). Praxisbesonderheiten sind anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf der Patientenklientel und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen werden (BSG, Urteil vom 22.06.2005, Az. B 6 KA 80/03 R = ArztR 2006, 162). Regelmäßig nicht zielführend ist der Hinweis auf schwere und kostenintensive Erkrankungen, weil sich solche Fälle in jeder Praxis finden (vgl. BSG SozR 4–2500 § 84 Nr. 2 RdNr. 38; Clemens a.a.O., RdNr. 63).

Praxisbesonderheiten ermittele nach § 106 Abs. 5a Satz 8 SGB V i.d.F. des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007 (BGBl I 378) die Prüfungsstelle grundsätzlich auf Antrag des Arztes, auch durch Vergleich mit den Diagnosen und Verordnungen in einzelnen Anwendungsbereichen der entsprechenden Fachgruppe. Die Ermittlungen des Beschwerdeausschusses genügten unabhängig davon jedenfalls den von der Rechtsprechung hierzu allgemein entwickelten Grundsätzen:

Danach seien die Prüfgremien zu Ermittlungen von Amts wegen hinsichtlich solcher Umstände verpflichtet, die typischerweise innerhalb der Fachgruppe unterschiedlich und daher augenfällig sind (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2012, Az. B 6 KA 17/11 R = ArztR 2012, 305). Den von der Gemeinschaftspraxis als Besonderheit geltend gemachten Umständen sei der Beschwerdeausschuss hinreichend nachgegangen. Er habe mit Hilfe eines Diagnosevergleichs einen Mehraufwand berücksichtigt. Bezüglich der von der Gemeinschaftspraxis namentlich benannten Patienten habe der Beschwerdeausschuss nach eingehender Überprüfung Kosten als Praxisbesonderheiten anerkannt. Im Übrigen habe er einen Vergleich der 30 häufigsten Diagnosen in der Fachgruppe angestellt und lediglich bei den Besuchsleistungen geringfügige Überschreitungen der Gemeinschaftspraxis in Relation zur Fachgruppe festgestellt. Hieraus habe er beurteilungsfehlerfrei geschlossen, dass eine besondere Klientel, die einen Mehraufwand im Verordnungsbereich erforderlich mache, nicht ersichtlich sei.

Rechtsfehlerfrei habe der Beschwerdeausschuss angenommen, dass die Betreuung von Pflegeheimbewohnern eine Praxisbesonderheit darstellen kann, wenn nachweisbar ein erhöhter Behandlungsbedarf besteht. Ein solcher ergebe sich aber nicht per se aus dem Umstand, dass ein Patient in einem Pflegeheim wohnt. Weder die Pflegebedürftigkeit noch die spezielle Wohnsituation ließen ohne Weiteres auf erhöhte Verordnungskosten schließen. Der Beschwerdeausschuss habe im Rahmen seiner Amtsermittlung mögliche Besonderheiten in diesem Zusammenhang untersucht und berücksichtigt. Er habe erhöhte Kosten für Wundbehandlungen bei Pflegebedürftigen erwogen, aber nicht feststellen können. Ein Vergleich der Diagnosehäufigkeiten mit der Fachgruppe zeigte keine signifikanten Besonderheiten. Weitere Ermittlungen von Amts wegen musste der Beschwerdeausschuss nicht anstellen. Entgegen der Auffassung der Gemeinschaftspraxis sei der Beschwerdeausschuss nicht verpflichtet gewesen, die Verordnungskosten für die einzelnen von der Gemeinschaftspraxis behandelten Pflegeheimbewohner zu ermitteln. Dies dürfte ihm schon deshalb nicht möglich gewesen sein, weil ihm nach §§ 296 ff. SGB V Adressen von Versicherten für die arztbezogenen Prüfungen nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 SGB V regelmäßig nicht übermittelt werden.

Etwaige Mehraufwendungen für die Betreuung von Pflegeheimpatienten hätte vielmehr die Gemeinschaftspraxis konkret darlegen müssen. Die Darlegungs- und Feststellungslast für besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende atypische Umstände wie Praxisbesonderheiten und kompensierende Einsparungen obliege dem Arzt (BSG, Urteil vom 27.06.2001, Az. B 6 KA 43/00 R = ArztR 2002,133). Es bestehe insofern in der Wirtschaftlichkeitsprüfung ein gewisses Spannungsfeld zwischen der nach § 20 Abs 1 SGB X bestehenden Verpflichtung der Prüfgremien, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, und der besonderen Mitwirkungspflicht des geprüften Arztes, die über die allgemeinen Mitwirkungspflichten nach § 21 Abs. 2 SGB X hinausgeht (vgl. BSG SozR 4–2500 § 106 Nr. 35 RdNr. 40 m.w.N.). Grundsätzlich sei es Angelegenheit des Vertragsarztes, die für ihn günstigen Tatsachen so genau wie möglich anzugeben und zu belegen, vor allem, wenn sie allein ihm bekannt sind oder nur durch seine Mithilfe aufgeklärt werden können (vgl. BSG a.a.O. m.w.N.). Der Arzt sei gehalten, solche Umstände im Prüfungsverfahren, also spätestens gegenüber dem Beschwerdeausschuss, geltend zu machen, die sich aus der Atypik seiner Praxis ergeben, aus seiner Sicht auf der Hand liegen und den Prüfgremien nicht ohne Weiteres an Hand der Verordnungsdaten und der Honorarabrechnung bekannt sind oder sein müssen (BSG a.a.O. RdNr. 42).

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