Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Beuge-Spreizbehandlung
Entwicklungsdynamische Grundlagen als Basis therapeutischer ÜberlegungenResearch into developmental dynamics as a basis for therapeutic conclusions

Hans Dieter Matthiessen1

Zusammenfassung: In der vorsonografischen Ära wurden Hüftdysplasien und -luxationen leider zu spät, häufig erst bei Laufbeginn diagnostiziert. Die Folge waren frustrane manuelle Repositionsmanöver mit hohen Risiken
einer Hüftkopfnekrose oder operativer Einstellungen. Erst
Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts von Reinhard Graf empirisch durchgeführte sonografische Untersuchungen konnten den Entwicklungszustand der Hüftgelenke unmittelbar postpartal beschreiben. Entsprechend der vorliegenden Pathomorphologie (Hüfttyp) konnte ein therapeutischer Algorithmus entwickelt werden: Reposition, Retention, Nachreifung. Die Kenntnis experimentell gewonnener Befunde der Wachstumsfugenforschung in Kombination mit biomechanischen Überlegungen hat zu einem Paradigmenwechsel geführt: weg von frustranen Repositionsmanövern und hin zu möglichst frühzeitiger Wachstumslenkung („guided growth“) der Pfannendachwachstumsfuge! Nur die Beugung über 90° („human position“ nach Salter) mit leichter Abduktion von 30–45° stellt die Resultierende senkrecht auf die 3-dimensional gekrümmte Pfannendachwachstumsfuge ein, sodass die der Fuge innewohnende postpartale hohe Verknöcherungspotenz therapeutisch voll genutzt werden kann.

Schlüsselwörter: Hüftdysplasie, Hüftluxation, Reposition, Retention, Nachreifung, Pfannendachwachstumsfuge, Ossifikation, Genetik, Biomechanik, Belastung, Beanspruchung, Verknöcherungsdynamik, Verknöcherungskurven, Wachstumslenkung,
guided growth

Zitierweise
Matthiessen HD: Beuge-Spreizbehandlung.
OUP 2016; 7: 400–407 DOI 10.3238/oup.2016.0400–407

Summary: In the era prior to the introduction of sonographic check-ups, the diagnosis of hip dysplasia and -luxation was often too late, first occurring while the child was learning to walk. The only therapy was the inefficient manual
reduction manoeuver with a high risk of femoral head necrosis or surgical open reductions. Starting in the late 1970s,
Reinhard Graf initiated empirical sonographic investigations which could describe the state of development of the hip joint immediately after birth. According to the present
pathomorphology (hip type) a therapeutic algorithm could be developed: reduction, retention, secondary ossification. Knowledge of the results of experimental epiphyseal research combined with biomechanical considerations has led to a paradigm shift: away from inefficient reduction maneuver and towards „guided growth“ of the acetabular growth plate at an early stage. Only the flexion of more than 90° („human position“ according to Salter) with a slight abduction of 30–45° is able to position the resultant perpendicular to the 3-dimensional curved acetabular growth plate so that the inherent high joint ossification potential can be fully
exploited.

Keywords: hipdysplasia, hipdislocation, reposition, retention, secondary ossification, acetabular growth plate, ossification, genetic, biomechanic, load, strain, dynamic of ossification,
ossification curves, guided growth

Citation
Matthiessen HD: Flexion-abduction therapy of the hip.
OUP 2016; 7: 400–407 DOI 10.3238/oup.2016.0400–407

Einleitung und
Problemstellung

Die zum Teil frustranen Ergebnisse konservativ-manipulativer Repositions- und Retentionsmanöver (z.B. Lorenzgips) mit iatrogenen Hüftkopfnekrosen führten zu Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu Überlegungen, wie eine Reposition unter deutlicher Verringerung der Abduktion den Hüftkopf ohne wesentlichen Druck in der Primärpfanne fixieren kann, ohne erneut zu reluxieren. Das Ergebnis waren einleitende Extensionsverfahren wie z.B. die „Overhead“-Extension nach Craig zitiert bei Mau 1956 [1] über mehrere Tage oder Repositionen in maximaler Beugung von 110–120° und Abduktion von maximal 60° wie z.B. mit dem Fettweisgips [2, 3]. Nach etwa 4–6 Wochen sind die Hüftköpfe, abhängig vom Alter bei Therapiebeginn, zentriert eingestellt und stabil, sodass sich die Retentionsbehandlung mit verminderter Beugung auf 90° und Rücknahme der Abduktion auf 30–45° anschließen kann. Diese Einstellung entspricht der von Salter 1969 [4] beschriebenen „human position“, die der „fetalen“ Beuge- und Abduktionsstellung entspricht. Trotz schonender Repositionsbehandlungen mit deutlich verminderten Hüftkopfnekrosen entwickelten sich häufig bis zum Vorschulalter „Residualdysplasien“, in der Regel unter gleichzeitiger Ausbildung einer Coxa valga et antetorta.

Auch die noch bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts gepflegte Derotations-Varisations-Osteotomie konnte wegen der raschen Revalgisierung letztendlich keine ausreichend belastungsfähige Pfanne formieren, sodass sich später die Azetabuloplastiken mit sehr viel besseren Langzeitergebnissen durchgesetzt haben.

Nach Einführung der Hüftgelenksonografie seit 1980 [5] haben sich die hohen OP-Zahlen mit offenen Einstellungen und Pfannendachplastiken mehr und mehr reduziert [6, 7]. Trotz dieses großen Fortschrittes mit sehr guten Behandlungsergebnissen finden sich heute leider noch viele Kinder ohne sonografische Diagnostik. Nach einem Artikel in der Ärztezeitung vom 20.08.2015 kritisierten Experten im Vorfeld des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie, federführend Prof. Rüdiger Krauspe als Präsident des DKOU, dass immer noch 50.000–70.000 Säuglingen die Untersuchung vorenthalten werde. Zusätzliche Probleme bestehen in inadäquat durchgeführter oder fehlinterpretierter Sonografie mit zu spätem Behandlungsbeginn und/oder unzureichenden Therapiemaßnahmen oder bei Non-Respondern.

Leider hört man in den letzten Jahren aus vielerlei Diskussionen immer wieder:

dass nach Eingliederung des Kurssystems in die Weiterbildungsordnung (1988 im Fach Pädiatrie und Radiologie, 1993 im Fach Orthopädie) keine Weiterbildung in vielen Kliniken stattfindet oder nicht stattfinden kann oder im Sinne des „Bedside-teaching“ mit Potenzierung von Fehlern nicht ausreichend strukturiert weitergebildet wird. Wie sollten die aktuellen Zahlen aus der KVWL sonst anders interpretiert werden, wenn 50 % der neu zugelassenen Kollegen bereits bei der Initialprüfung keine sachgerechte Qualität liefern können?

dass in den Facharztprüfungen sonografische Hüftbilder kaum befundet werden können und Kenntnisse über therapeutische Maßnahmen in einem hohen Prozentsatz nicht vorhanden sind, obwohl diese Kenntnisse vom Chefarzt mit exakter Angabe der Mindestuntersuchungszahlen bescheinigt werden,

SEITE: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6