Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Beuge-Spreizbehandlung
Entwicklungsdynamische Grundlagen als Basis therapeutischer ÜberlegungenResearch into developmental dynamics as a basis for therapeutic conclusions

Von den kniegelenknahen Wachstumsfugen ist bekannt, dass sie bei Richtungsänderung der Resultierenden (z.B. Varus- oder Valgusstellung) eine unterschiedliche Druckverteilung aufweisen. Die Verknöcherung auf der Seite höheren Drucks ist größer, auf der Seite des niedrigeren Drucks geringer, bis erneut eine gleichmäßige Druckverteilung eingetreten ist. Sie wird dann erreicht, wenn die beanspruchende Kraft wieder senkrecht zur Resultierenden eingestellt ist. Insofern werden Fehlbelastungen mit Hilfe der enchondralen Ossifikation strukturell ausgeglichen. Die Fugen leisten eine „funktionelle Anpassung“ [26].

Die Pfannendachwachstumsfuge und die proximale Femurwachstumsfuge als „ausführende Strukturen“ der genetischen Planung für ein später belastungsfähiges Hüftgelenk stehen kräfteabhängig ebenfalls in einer Wechselbeziehung. Der gemeinsamen Richtung der Resultierenden entsprechend, stellen sie sich im rechten Winkel dazu parallel im Sinne eines integrierten Wachstums ein. Veränderungen des CCD-Winkels in valgischer Richtung, z.B. bei der Coxa valga spastica, führen infolge auftretender Scher- oder Schubkräfte zu verminderter Ossifikation besonders des lateralen Pfannendachs mit Erhöhung des AC-Winkels. Die Abflachung der knöchernen Pfanne übt ihrerseits eine zusätzliche Scherkraftwirkung auf die epiphysäre Ossifikationsfront des Hüftkopfs mit sich entwickelnder „Hüftkopf-in-Nackenlage“ aus (Abb. 2a–b).

Biomechanische Belastung und Beanspruchung
des Hüftgelenks

Die Dynamik in der Verknöcherung des hyalin-knorpelig präformierten Hüftpfannendachs wird von der „endogenen“ Planung, den anatomischen Strukturen sowie von der biologischen Antwort des wachsenden Gewebes auf „exogen“ einwirkende Kräfte von den beteiligten Wachstumsfugen gesteuert.

Zur Erläuterung der „biomechanischen“ Belastung von Neugeborenen-Hüftgelenken werden die Kräfteverhältnisse an Originalpräparaten demonstriert. Neben einer „optimalen“ Hüftreifung in der 8. Lebenswoche wird zum Vergleich eine „dezentrierte“ Hüfte im Alter von 6 Monaten vorgestellt (Abb. 3a, b und 4).

Zur Darstellung der Belastung der Pfannendachwachstumsfuge wird eine „gedachte Ebene“ (E1) in die 3-dimensional gekrümmte Wachstumsfuge gelegt. Selbst bei optimal entwickelter Neugeborenenhüfte (Abb. 3a, b), bei der die Schenkelhalsachse senkrecht auf die knöcherne Pfanneneingangsebene gerichtet ist, wird deutlich, dass das Druckmaximum der Cosinusverteilung zum Pfannenerker hin verschoben ist und auf den lateralen „weichen“ knorpeligen Pfannenerker einwirkt. Deshalb ist die Neugeborenenhüfte gegenüber exogen mechanischen Kräften sehr empfindlich, weshalb post partum die physiologische Beuge- und leichte Abduktionseinstellung unbedingt erhalten bzw. gefördert werden sollte.

Bei einem knöchern unvollständig überdachtem dysplastischen Gelenk (Abb. 4) ist das Druckmaximum der Cosinusverteilung noch weiter zum lateralen, breit übergreifenden knorpelig-weichen Pfannenerker hin verschoben, sodass sich ohne Einleitung einer biomechanischen Behandlung ein weiterer dysplastischer Verlauf bis hin zur Luxation ergibt. Bei Verknöcherungsverzögerung mit primärer Entwicklungshemmung oder sekundärer Verformung des knöchernen Pfannenerkers ergibt sich neben einer „gedachten“ Ebene (E1) eine weitere „gedachte“ Ebene“ (E2), die die laterale knöcherne, noch stärker dysplastische Überdachung kennzeichnet. Bei unveränderter Größe der Resultierenden (R) erhöht sich additiv zur Cosinusdruckverteilung die Scherkraft (SK2) im lateralen Anteil der Pfannendachwachstumsfuge erheblich gegenüber der Scherkraft (SK1).

Druck- und Scherspannungs-induzierte pathomorphologische Veränderungen vornehmlich in der Eröffnungszellzone an der metaphysären Knorpelknochengrenze führen zu einem Verknöcherungsstopp mit fortschreitender knöcherner Pfannendachabflachung. Durch einseitige Verknöcherungsverzögerung der Pfanne entwickelt sich eine Dysbalance zwischen Hüftkopf und Pfanne, sodass infolge „exogen mechanischer“ additiver Druckbelastung eine weitere Reduzierung der tragenden knöchernen Pfanne resultiert. Unter weiterer Deformierung des verformbaren knorpeligen Pfannendachs tritt die Dezentrierung des Hüftkopfs unausweichlich ein.

Verknöcherungsdynamik

Zur Darstellung der Verknöcherungsdynamik werden bisher bekannte Wachstumskurven vorgestellt (Abb. 5).

Unter der Voraussetzung eines Mindestmaßes der enchondralen Ossifikation entwickelt sich in der postpartalen Phase nach Sonometerwerten von Graf [22] eine „extrapolierte“ Reifungskurve (schlechteste Annahme, um auf jeden Fall auf der sicheren Seite zu sein), ausgehend von der Geburt mit einem Minimal-?-Wert von 50,8° bis zum 3. LM mit einem ?-Winkel von minimal 60°. Statistische Untersuchungen von Tschauner et al. (1994) [27] haben gezeigt, dass der ?-Mittelwert bei Typ-I-Hüftgelenken im 3. LM bei 64,4° liegt. Nach Parallellverschiebung ergibt sich eine „optimale“ Reifung“ mit einem ?-Wert bei der Geburt von 55,1°. Tschauner et al. [27] konnten durch retrospektive Auswertung nicht behandelter, als gesund klassifizierter Säuglinge eine „Reifungskurve“ erstellen, in der der Mittelwert spontan ausreifender unbehandelter Hüftgelenke in der 4. LW bereits 59,7° erreicht. Zwischen der 4. und 16. LW steigen die Mittelwerte nur um 4° an, danach erkennt man das typische Tschauner-Plateau mit nur minimalen Oszillationen zwischen 64° und 65 °.

Durch Integration der „extrapolierten“ Hüftreifung nach Sonometerwerten von Graf, der Reifungskurve nach Tschauner sowie eigener Verknöcherungsbeobachtungen ergibt sich für die Formdifferenzierung des Neugeborenenpfannendachs ein „exponentieller Bereich der optimalen Hüftentwicklung“ nach Matthiessen [13, 19]. Bei hoher Potenz der enchondralen Ossifikation ist die knöcherne Ausformung in den ersten 6 Lebenswochen extrem hoch, flacht bereits bis zur 12. LW ab und pendelt sich mit der 16. LW auf ein proportionales Größenwachstum von Hüftkopf und Pfanne ein. Diese Verknöcherungsfunktion wurde auch parametrisiert, um eine der Kurvensteigung entsprechende Verknöcherungsgeschwindigkeit grafisch darzustellen [13].

Präpartale Wachstumskurve

Wagner konnte 1999 [28, 29] die Entwicklung des ?-Winkels intrauterin zwischen der 20. bis 40. SSW nachweisen. Methodisch bedingt zeigt sich eine große Schwankungsbreite. Ab der 20. SSW besteht bereits eine gute Ausformung der Hüftgelenke, die um die 30. SSW eine Abnahme des ?-Winkels erkennen lässt. Nach der Wendung des Feten in die Schädellage (Spannungsentlastung des lateralen Pfannenerkers) ergibt sich eine zunehmend verbesserte Ossifikation mit Steigerung des ?-Winkels von 39° auf 59°. Mit Beginn der 36. SSW (Spannungszunahme durch Wachstum des Feten) erfolgt erneut ein Abfall des ?-Winkels auf 54°, um unmittelbar in der 4. LW nach den Werten der Tschaunerschen Reifungskurve [27] erneut einen hohen ?-Winkel von 59,7° zu erreichen.

Genetische Entwicklungs- bzw. Planungskurve

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