Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Beuge-Spreizbehandlung
Entwicklungsdynamische Grundlagen als Basis therapeutischer ÜberlegungenResearch into developmental dynamics as a basis for therapeutic conclusions

dass in den Qualitätssicherungskommissionen der KVen sehr viele Fehler registriert werden [8, 9, 10] , die eine Beurteilung des Hüfttyps nicht zulassen und gemäß § 11 Abs. 3 der Anlage V zur Konsequenz haben, dass die Genehmigung zur Durchführung und Abrechnung von Leistungen der Sonografie der Säuglingshüfte ausgesetzt werden kann,

dass bei den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern entsprechende Beschwerden zunehmen,

dass es innerhalb der DEGUM 2 Zuständigkeiten für die Sonografie der Säuglingshüfte gibt, was formell wohl nicht anders möglich ist, dass es leider aber auch unterschiedliche „Interpretationen“ aus pädiatrischer oder orthopädisch-unfallchirurgischer Sicht gibt,

dass es selbst unter Orthopäden konträre Auffassungen zur Interpretation von Bilddokumentationen und besonders zur Wahl des der Pathomorphologie entsprechenden Therapieverfahrens gibt. So findet man selbst in neuester Literatur 2016 folgendes Statement [11]:

„Durch den Säuglingsultraschall können Hüftreifungsstörungen frühzeitig erkannt und adäquat therapiert werden. In der Literatur fehlt jedoch die Empfehlung für ein einheitliches Therapieschema. Unsere Hypothese war, dass ein Großteil der Luxationen erfolgreich konservativ mittels Spreizhose therapiert werden kann und nur in einem kleinen Prozentsatz operative Eingriffe notwendig sind.“

Dass durch die Ultraschalldiagnostik Hüftdysplasien frühzeitig erkannt und therapiert werden können, ist richtig. Dass in der Literatur einheitliche Therapieempfehlungen fehlen sollen, ist falsch. Gerade die Sonografie hat die anatomische Entwicklung der Säuglingshüftgelenke exakt beschreiben können. Graf und weitere Autoren haben der Pathomorphologie entsprechend für die Repositions-, Retentions- und Nachreifungsphase einheitliche Therapieprinzipien bereits vor langer Zeit mit sehr guten Behandlungsergebnissen entwickelt und mehrfach veröffentlicht [12–24].

Persönliche Bemerkung

Eine persönliche Bemerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Seit 1984 stand mir zwar nach einem Kurs bei Prof. Reinhard Graf auf der Stolzalpe die sonografische Diagnostik zur Verfügung, die damals bekannten therapeutischen Prinzipien, die ich bei Prof. Hans-Henning Matthiaß in Münster erlernt hatte, datierten aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Was aber sollte ich mit einer postpartal erkannten Hüftluxation unternehmen? Hatte ich bis dahin doch nur Erfahrungen mit Hüftluxationen bei Kindern im ersten bzw. zweiten Lebensjahr, die offen eingestellt werden mussten, wenn konservative Repositionsmanöver keinen Erfolg zeigten. Im Weiteren folgten Derotations-Varisationsosteotomien und Azetabuloplastiken nach Salter oder Pemberton. Mit Beginn der sonografischen Ära entwickelte sich unter Kenntnis der Pathomorphologie des jeweiligen Hüftentwicklungszustands die „sonografiegesteuerte Therapie“. Insofern hat sich ein gründlicher Paradigmenwechsel vollzogen: Weg von frustranen Repositionsmanövern und hin zu möglichst frühzeitigem „guided growth“ der Pfannendachwachstumsfuge! Aber wie reponieren und retinieren, Anwendung von Spreizhosen, Bandagen oder Fettweisgips etc.? Auch in der orthopädischen Klinik Dortmund bei Prof. Dietrich Tönnis waren damals postpartale Fettweisgipse eine Seltenheit, weil es eine derartig frühe Diagnostik nicht gab und kaum Erfahrungen existierten. Im Erlernen und vorsichtigem Herantasten an die Therapie postpartaler Luxationen in ständiger Diskussion mit Prof. Tönnis und Prof. Graf haben wir sehr viel lernen können.

Das Verdienst von Reinhard Graf ist in diesem Zusammenhang besonders hoch zu würdigen. Nur die sonografische Untersuchung kann einen Hüftentwicklungszustand entsprechend der verschiedenen Hüfttypen definieren. Die biomechanische Therapie kann sofort beginnen, bevor sich eine weitere defizitäre Pfannenverknöcherung mit nachfolgender Dezentrierung bis hin zur hohen Luxation ergibt. In den früheren Jahren haben „klinische“ Untersuchungen allein nicht ausgereicht, das haben die Ergebnisse der vorsonografischen Ära mit übersehenen Hüftgelenkluxationen gezeigt. Aufwendige manuelle Repositionen mit hohem Risiko wären heute nicht mehr nötig, weil sich selbst Typ III- und Typ IV-Hüftgelenke postpartal bei noch bestehender Säuglingslaxität mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit zwanglos reponieren lassen. In meiner Tätigkeit als Konsiliararzt im St. Johannes Hospital Dortmund seit 1984 habe ich mit über 55.000 postpartalen Säuglingsuntersuchungen nur eine einzige nicht sofort reponierbare Hüfte erlebt! Erst Monate später stellte sich aufgrund weiterer Fehlbildungen eine echte „teratologische, wirklich kongenitale Hüftluxation“ heraus.

Für die Wahl therapeutischer Maßnahmen sind daher Kenntnisse zur Verknöcherungsdynamik des hyalin-präformierten Pfannendachs erforderlich, um so schnell wie möglich die nachholende Verknöcherung mit guter Hüftkopfüberdachung zu erreichen. Hierfür stellt die Pfannendachwachstumsfuge postpartal eine sehr hohe Verknöcherungspotenz zur Verfügung, die vom Therapeuten „nur biomechanisch richtig genutzt“ werden muss. Der Therapeut sollte im Sinne des
„guided growth“ biomechanisch unterstützend die korrekte Einstellung wählen.

Histologie und Funktion der Wachstumsfugen

Alle Wachstumsfugen zeigen ein gleichartiges Bauprinzip. Durch genetisch determinierte unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeiten ergeben sich species- und lokalisationstypische Unterschiede. Die relative Höhenausbildung einzelner Zonen der Fuge zeigt in Abhängigkeit von der Verknöcherungsgeschwindigkeit Veränderungen, die jedoch für eine spezifische Fuge zu einem bestimmten Zeitpunkt konstante Verhältnisse aufweist. Hierauf basiert auch die Skelettalter-Bestimmung nach Greulich und Pyle [25] (Abb. 1a–c).

Während die proximale Femurwachstumsfuge bipolar in der metaphysären und epiphysären Eröffnungszellzone eine axiale Verlängerung des Femur und des Schenkelhalses aktiviert (Abb. 1a), besteht an der Knorpel-Knochengrenze des Pfannendachs eine unipolare Wachstumsfuge (Abb. 1c), die nur in der metaphysären Primärspongiosa verknöchert. Nach distal schließt sich der spätere Gelenkknorpel und abschließend die lamina splendens an. Danach folgt der Gelenkspalt. Innerhalb einer jeden Wachstumsfuge besteht eine Eigenregulation in der Bereitstellung ausreichender Knorpelzellen durch hohe mitotische Aktivität im „Pool differenzierungsfähiger Zellen“ (Germinativzellzone) auf der epiphysären Seite einerseits und der Verknöcherungsaktivität mit Apoptose der Blasenknorpelzellen in der Eröffnungszellzone auf der metaphysären Seite andererseits. Die biomechanische Kraft als Gelenkresultierende steuert die Verknöcherungsrichtung, wobei sich die Wachstumsfuge immer rechtwinklig zur jeweils beanspruchenden Kraft einstellt. Der Druck über den Fugen ist dann nach Kummer gleichmäßig verteilt [26].

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