Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Beuge-Spreizbehandlung
Entwicklungsdynamische Grundlagen als Basis therapeutischer ÜberlegungenResearch into developmental dynamics as a basis for therapeutic conclusions

Bereits Büschelberger [30] und Fettweis [2] haben als optimale Einstellung zu Beginn der Therapie eine Beugestellung von 110–120° mit einer Abduktion von maximal 40° gefordert, weil in dieser Einstellung die „Schenkelhalsachse senkrecht auf die Pfanneneingangsebene“ gerichtet ist. Gerade diese Beugeeinstellung minimiert die Scherkraftwirkung erheblich.

Das Wort „Spreizung“, die Begriffe „Spreizhosen“ oder „breites“ Wickeln sollten daher aus dem Sprachgebrauch vollständig verschwinden, weil die notwendige Beugung mit vielen aus früheren Zeiten bekannten Spreizhosen oder -bandagen nicht erreicht werden kann.

Die von Utzschneider et al. [11] beschriebene Diskrepanz zwischen sonografischem Befund zum Behandlungsende einerseits und den im Laufalter gemessenen radiologischen Parametern andererseits mit einer vergleichsweise sehr hohen Anzahl von Residualdysplasien ist nur eine „scheinbare Diskrepanz“. Diese Ergebnisse entsprechen nicht den allgemein bekannten sehr guten Behandlungsergebnissen mit nur wenigen Residualdysplasien, wie sie unter der Voraussetzung einer nach biologischen und biomechanischen Gesichtspunkten standardisierten und der jeweiligen Pathomorphologie angepassten Therapie bekannt sind.

Warum kehren wir in eine Behandlungszeit der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit dem „Luxationshöschen nach F. Becker“ zurück, in der eine „geführte Selbstreposition“ erfolgen soll und teilweise wohl auch erfolgt ist. Die beschriebene 2-wöchige Spreizhosenbehandlung wurde dann abgebrochen, wenn keine Reposition erfolgte. Danach wurde mit „overhead extension“ für weitere 3 Wochen therapiert. Nach geschlossener Reposition folgte eine 6-wöchige Gipstherapie. Selbst unter der Prämisse einer postpartal diagnostizierten und sofort eingeleiteten Therapie wurde der Zeitbereich einer optimalen Ausnutzung der Verknöcherungsaktivität um mindestens 6 wichtige Wochen sinnlos vertan!

Natürlich wird selbst bei im Neugeborenenalter behandelten Kindern eine geringe Anzahl später eine Residualdysplasie zeigen, weshalb Tschauner [23] auch auf die Notwendigkeit weiterer Kontroll-Untersuchungen bis Wachstumsende hinweist, um gegebenenfalls das Problem mit einer Azetabuloplastik vor der Einschulung endgültig bereinigen zu können. Dies sind Kinder mit einem „endogenen“ Dysplasieverlauf, häufig kombiniert mit einer Coxa valga et antetorta, bei denen ursächlich die Anzahl der pro Zeiteinheit eröffneter Chondrone um einen individuellen „Dysplasiefaktor“ verzögert ist. Nach Behandlungsausleitung zeigt sich ein verkürztes Pfannendach bei relativ guten AC-Winkeln. Das Gleiche gilt auch für alle zu spät behandelten Dysplasien, deren knöcherne Erker ebenfalls keine ausreichende laterale Ossifikation zeigen und deren „laterales knorpeliges Pfannendach“ daher kräfteabhängig in bindegewebige Formationen transformiert wird. Eine Azetabuloplastik wird dann zur Verbesserung des Pfannendachs notwendig.

Unter der Voraussetzung, dass alle Säuglinge in der 4. und spätestens 5. LW (Screening-Zeitpunkt in der BRD) sonografisch untersucht, exakt befundet und notwendige Therapiemaßnahmen sofort eingeleitet werden, dürfte sich die Anzahl später im Leben totalendoprothetisch versorgter Patienten erheblich minimieren. Der Zeitfaktor spielt bei Diagnostik und Therapiebeginn also eine erhebliche Rolle.

Die Früchte der bisherigen Anstrengungen sind inzwischen bereits sehr gut, wir bemerken dass in unserem Land schon kaum noch: Wer sieht denn noch „Duchenne- und verkürzungshinkende“ Mädchen auf der Straße? Man begreift das erst beim Besuch in anderen Ländern, z.B. Südeuropa oder Indien!

Was bleibt zu fordern:

Eine flächendeckende sonografische Frühst-Diagnostik, möglichst bei der U2 auf der geburtshilflichen Abteilung, spätestens aber bei der U3 in der 4. und 5. LW. Wenn geburtshilfliche Abteilungen um ihre Schwangeren werben, könnte ein Screening durch versierte Orthopäden oder Kinderärzte bei der U2 einen Wettbewerbsvorteil darstellen.

Ein standardisiertes Kurssystem zum Erlernen einer standardisierten sonografischen Untersuchungstechnik nach Graf mit „Rezertifizierungen“ als Voraussetzung für die Abrechnungsberechtigung im Kassensystem.

Ein phasengerechter Einsatz biomechanisch sinnvoller „Beuge-Orthesen“ im Rahmen des therapeutischen 3-Phasen-Schemas (Reposition/Retention/Nachreifung)

Interessenkonflikt: Keine angegeben

Korrespondenzadresse

Dr. med. Hans Dieter Matthiessen

Annette-Allee 24

48149 Münster

dieter@matthiessen.eu

Literatur

1. Mau H: Techniken der amerikanischen Orthopädie. Arch Orthop Trauma Surg 1956; 48: 288–292

2. Fettweis E: Sitz-Hock-Stellungsgips bei Hüftgelenksdysplasien. Arch Orthop Trauma Surg 1968; 63: 38–51

3. Fettweis E. Hüftdysplasie: Sinnvolle Hilfen für Babyhüften. Stuttgart: Trias Verlag 2004

4. Salter RB, Kostuik J, Dallas S: Avascular necrosis of the femoral head as a complication of treatment for congenital dislocation of the hip in young children: a clinical and experimental investigation. Can J Surg 1969; 12: 44–61

5. Graf, R: The diagnosis of congenital hip-joint dislocation by the ultrasonic compound treatment. Arch Orthop Traumat Surg 1980; 97: 117–133

6. Grill F, Müller D: Results of hip ultrasonographic screening in Austria. Orthopäde 1997; 26: 25–32

7. von Kries C, Ihme N, Oberle D et al.: Effect of ultrasound screening on the rate of first operative procedures for developmental hip dysplasia in Germany. Lancet 2003; 362: 1883–1887

8. Matthiessen HD: Zur Qualitätssicherung Sonografie der Säuglingshüfte. Kinder Jugendarzt 2008; 2: 123–129

9. Tschauner Ch, Matthiessen HD: Checklisten helfen, Fehler zu vermeiden. Kinder und Jugendarzt 2012; 9: 512–515

10. Matthiessen HD, Epping B: Bessere Maßstäbe für die Qualitätskontrolle. Qualitätssicherung beim Ultraschall. Ein Interview. Z Orthop Unfall 2012; 150: 345–350

11. Utzschneider S, Chita C, Paulus AC et al.: Discrepancy between sonographic and radiographic values after ultrasound-monitoring treatment of developmental dysplasia of the hip. Arch Med Sci 2016; 12: 145–149

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