Übersichtsarbeiten - OUP 07-08/2016

Beuge-Spreizbehandlung
Entwicklungsdynamische Grundlagen als Basis therapeutischer ÜberlegungenResearch into developmental dynamics as a basis for therapeutic conclusions

So lässt sich aus den vorliegenden Daten für die reguläre Entwicklung der Hüftgelenke gedanklich eine „genetische Entwicklungs- bzw. Planungskurve“, beginnend in der 20. SSW bis zum 4. LM postpartal als Arbeitshypothese beschreiben, die eine optimale und für das spätere Leben belastungsfähige knöcherne Formgebung zum Ziel hat. 4–6 Wochen präpartal entwickelt sich eine spannungsinduzierte, „exogen“ bedingt verminderte Pfannendachverknöcherung, die unterhalb des Werts der genetischen Planungskurve liegt. Um dieses Defizit ausgleichen zu können, wird postpartal die Verknöcherungsgeschwindigkeit erheblich gesteigert (endogene Steuerung der Pfannendachwachstumsfuge nach postpartaler Spannungsentlastung), um möglichst schnell in die „geplante genetische Entwicklungskurve“ einzumünden. Diese der Pfannendachwachstumsfuge innewohnende, endogen bestimmte Verknöcherungskraft kann nur dann optimal ausgeschöpft werden, wenn die Resultierende aller Kräfte senkrecht auf die 3-dimensional geformte Wachstumsfuge und somit auf die Pfanneneingangsebene ausgerichtet ist. Nach Büschelberger zitiert bei Tönnis (1984) [30] entspricht dies einer Beugestellung von 110° bei mäßiger Abduktion von 40°. Nur so kann eine zeitgerechte optimale Ausformung vermittels enchondraler Ossifikation mit einer belastungsstabilen Hüfte erreicht werden.

Hien [31] konnte postpartal eine vorübergehende Verminderung der ?-Winkel Entwicklung darstellen, was auf eine frühzeitig erhöhte Streckhaltung beim Tragen der Kinder und bei Rückenlage mit Streckstellung der Beine erklärt werden kann. Die postpartale physiologische Beugekontraktur sollte daher so lange wie möglich beibehalten werden. Hierfür ist eine Förderung der „Beugung“ und nicht der „Abspreizung“ sinnvoll.

Biomechanische Therapie

Falls die Verknöcherungsgeschwindigkeit aus welchen Gründen auch immer postpartal verzögert ist, entwickelt sich eine Hüftdysplasie mit fortschreitender Dezentrierung (developmental dysplasia of the hip, DDH) nach Klisic [ 32] bis hin zu vollständiger Luxation. Die biomechanische Therapie besteht darin, die Richtung der Resultierenden so zu verändern, dass die Schenkelhalsachse mit ihrer Femurwachstumsfuge senkrecht auf die Pfannendachwachstumsfuge eingestellt wird, um so die Voraussetzung für ein integriertes Wachstum beider Gelenkpartner zu schaffen. Beide Wachstumsfugen stehen dann parallel zueinander. Die durch den Hüftkopfmittelpunkt verlaufende „neue Richtung“ der Resultierenden stellt sich dann senkrecht zur 3-dimensional gekrümmten Pfannendachwachstumsfuge ein. Nach Reorganisation der gestörten Eröffnungsvorgänge in der Pfannendachwachstumsfuge ist nach Therapiebeginn erst in etwa 2–3 Wochen sonografisch eine Verbesserung des ?-Winkels nachweisbar. Es folgt dann je nach Zeitpunkt des Therapiebeginns (optimal direkt postpartal) und des Ausgangsbefunds eine exponentiell sehr schnelle Nachverknöcherung mit dem Ziel, eine gute und belastungsfähige knöcherne Pfannenüberdachung schnell zu erreichen.

Verknöcherungsdynamik
dezentrierter Gelenke
unter der Therapie

De Pellegrin et al. [33, 34] haben sich in einer sehr gut dokumentierten Arbeit die Frage gestellt, ob bei der Therapie pathologischer Hüftgelenke eine ähnliche Reifungskinetik zu erwarten ist, die durch einen „exponentiellen Bereich der optimalen Hüftentwicklung“ nach Matthiessen [13] charakterisiert ist. Darüber hinaus bestand die Frage, welchen Einfluss die frühe Diagnose und der Therapiebeginn auf die Ausreifung der Hüften habe. Folgende Aussagen konnten statistisch einwandfrei dokumentiert werden und bestätigen die Wertigkeit der postpartalen hohen Verknöcherungspotenz:

die besten Ergebnisse konnten erzielt werden, wenn Diagnose und Therapiebeginn so früh wie möglich, also postpartal erfolgten,

pathologische Hüftgelenke haben unter korrekter biomechanischer Einstellung ein sehr hohes Verknöcherungspotenzial,

bei Therapiebeginn innerhalb von 11 Tagen stellten sich nach durchschnittlich 4 Monaten bei Therapieende gleiche ?-Werte wie bei primär gesunder Hüftentwicklung ein,

bei Therapiebeginn nach 6 Wochen konnten bei gleicher Therapiedauer nur ?-Werte von 58° erreicht werden, die Gelenke befanden sich noch im pathologischen IIb-Bereich.

Folgerungen und Diskussion

Nach Einführung der Säuglingssonografie nach Graf kann der postpartale Entwicklungszustand eines Hüftgelenks exakt diagnostiziert werden. Entsprechend der Typisierung der Gelenke sind bei defizitärer Entwicklung geeignete Therapiemaßnahmen konsequent und sofort erforderlich, um die postpartal sehr hohe genetisch gesteuerte Verknöcherungsgeschwindigkeit für die Therapie auszunutzen. Der Begriff „guided growth“ kann in dieser Phase, gemessen an den Erfolgen, eindrucksvoll nachempfunden werden, wenn selbst Hüftgelenke vom Typ III oder IV bis zum 3. bzw. 4. Lebensmonat voll zur Ausheilung geführt werden können.

Bei frühzeitiger sonografischer Diagnostik und der Pathomorphologie entsprechenden biomechanischen Einstellungen haben sich die Probleme veralteter Luxationen mit den katastrophalen Folgen von Repositionsmanövern mit iatrogenen Hüftkopfnekrosen erheblich minimiert. Weil die Dysplasien eher entdeckt und der konservativen Behandlung sofort zugeführt werden, konnte in Österreich die konservativ-funktionelle Behandlungsrate von 12,3 % (1981) auf 4 % (2004) erheblich vermindert werden. Auch die operativen Einstellungen konnten verringert werden. Österreich hat mit dokumentierten 0,01 % (1:10.000) die weltweit niedrigste Rate offener Repositionen, allerdings dicht gefolgt von Deutschland mit eine Rate von 0,26 Promille (2,6:10.000). [6, 7] Das Wichtigste: Die Risiken, z.B. Hüftkopfnekrosen sind so gut wie nicht mehr zu finden!

Der therapeutische Erfolg ist umso höher, je früher die Diagnostik erfolgt und je konsequenter eine geeignete biomechanische Behandlung eingeleitet wird [34]. Die Resultierende muss senkrecht auf die 3-dimensional gekrümmte dysplastische Pfannendachwachstumsfuge eingestellt werden, sodass beide Wachstumsfugen sich parallell gegenüberstehen. Diese Einstellung führt sofort zu einer Scherspannungsentlastung in der unteren Hypertrophiezellzone, sodass je nach Gewebeschädigung innerhalb einer kurzen Reorganisationszeit von 2–3 Wochen die metaphysäre Eröffnung wieder beginnen kann.

Fazit: Nur eine Beugung von mehr als 90° mit leichter Abduktion von 30–45° schafft diese erforderliche Hüfteinstellung, um die der Fuge innewohnende Verknöcherungspotenz maximal zu stimulieren. Im weiteren Verlauf sollte die Beugung und Abduktion der sich rasch verbessernden Verknöcherung entsprechend der sonografischen Diagnostik angepasst werden.

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