Übersichtsarbeiten - OUP 01/2024

Coccygodynie
Ein Überblick

Es gibt somatische Nerven und das sympathische Ganglion impar, die nozizeptive Signale übertragen, die vom Steißbein ausgehen. Der Plexus coccygeus besteht aus Fasern des 4. Sakralnervs, des 5. Sakralnervs und des Steißbeinnervs. Der Plexus coccygeus führt zum N. anococcygeus, der die über dem Steißbein liegende Haut innerviert. Die beiden sakralen sympathischen Ketten bilden am terminalen Ende das Ganglion impar. Die Lage des Ganglions impar kann variieren, liegt aber im Allgemeinen nahe der Mittellinie ventral des ersten Bandscheibenzwischenraumes [6]. Das Ganglion impar versorgt die Steißbeinregion nozizeptiv und sympathisch mit afferenter Innervation aus dem Perineum, dem distalen Rektum, dem Anus, der distalen Harnröhre und der distalen Vagina.

Biomechanisch kann das Steißbein mit den beiden Sitzbeinhöckern (Tuber ischiadicum) als Dreibein zur Stabilisierung der sitzenden Position angesehen werden [7].

Ätiologie

Die Inzidenz von Steißbeinbeschwerden wird mit 1 % angegeben, die Dunkelziffer liegt jedoch deutlich höher. Frauen, vor allem nach Schwangerschaften, sind fünfmal häufiger betroffen als Männer, Kinder dagegen sehr selten [8]. In der Literatur wird auch Adipositas als Risikofaktor beschrieben, was sich jedoch nicht mit den Erfahrungen des Autors deckt [9]. Diese soll durch die vermehrte Belastung im Sitzen erklärt werden. Dagegen soll ein schneller Gewichtsverlust ebenfalls einen Risikofaktor darstellen, da die dämpfende Wirkung von Fett im Gesäßbereich verloren geht [5].

Traumatische Genese

Gerade bei Stürzen ist das Steißbein für Verletzung prädestiniert. In der Literatur werden äußere Traumata als Ursache mit 50–65 % angegeben [10]. Typisch in der Anamnese ist die Latenz zwischen Trauma und Auftreten der Beschwerden. Am ehesten ist dies mit der „normalen“ Reaktion der Patientinnen und Patienten zu erklären, die nach einem Sturz auf das Gesäß die Beschwerden zunächst als logisch empfinden und daher seltenst unmittelbar einen Arzt aufsuchen. Erst wenn die Schmerzen nach mehreren Wochen nicht besser werden, wird der Hausarzt konsultiert. Nicht selten kommt es zunächst zu einer Besserung und die Beschwerden treten mit einer deutlichen zeitlichen Latenz erneut oder sogar schlimmer auf. Aus Sicht des Autors liegt das daran, dass es meist zu keiner Fraktur der eher weichen und kleinen knöchernen Steißbeinsegmente kommt, sondern zu einer Verletzung der rudimentären Bandscheiben und Bänder. Im Verlauf, der auch mehrere Jahre dauern kann, entwickelt sich daraus eine Instabilität, die dann zu den Beschwerden führt. Zum Vergleich kann eine Olisthese der Lendenwirbelsäule herangezogen werden, die häufig Jahrzehnte lang asymptomatisch bleibt und erst im Laufe der Jahre mit zunehmenden degenerativen Veränderungen zu Problemen führt. Dabei reicht dann das längere Sitzen auf harten Unterlagen oder Aktivitäten wie Reiten oder Fahrradfahren als Auslöser. Schon im Jahr 1950 bezeichnete Schapiro die Krankheit als „Fernsehkrankheit“, was eine wichtige Rolle der Haltungsanpassung als prädisponierender Faktor für die Coccygodynie bedeutet [11].

Als internes Trauma können auch schwere Geburten angesehen werden.

Idiopathische Genese

Viele Patientinnen und Patienten stellen sich mit Coccygodynie ohne erklärbare Ursache vor. Aus Sicht des Autors sind dabei 2 mögliche Erklärungen gegeben. Entweder liegt das Trauma so lange zurück, dass es nicht mehr erinnerlich ist und die muskuläre Stabilisierung hat die Beschwerden lange unterdrückt oder es muss der schon oben genannte Vergleich zur Olisthese herangezogen werden. Eine weitere Erklärung ist die Degeneration der rudimentären Bandscheibensegmente oder im Falle von angelegten Gelenken eine Arthrose dieser. Maigne zeigte eine positive Schmerzprovokation durch eine Diskografie bei 15 von 21 Patientinnen und Patienten [12]. Andere Studien belegten histologisch die degenerativen Veränderungen entweder i. S. einer Bandscheibendegeneration oder auch degenerative Gelenkknorpelveränderungen [13, 14].

Manche Patientinnen und Patienten entwickeln am kaudalsten Segment einen dorsalen Sporn, i. S. eines Osteophyten, der ebenfalls zu lokalen Beschwerden durch direkte Reizung des Gewebes beim Sitzen führen kann.

Seltene Ursachen

In der Literatur gibt es einige wenige Fallberichte über sehr seltene Ursachen für eine Coccygodynie. Dabei sind Tuberkulose, Chordom und Osteoidosteom zu nennen [15, 16]. Diese vereinzelten Differenzialdiagnosen sollten im Hinterkopf behalten werden.

Die typische Patientin/
der typische Patient

Anamnestische Angaben

Eine erste klinische Beschreibung der Erkrankung wurde von Thiele 1963 gegeben [17]. Er beschreibt die Patientinnen und Patienten mit scharfem Stechen oder manchmal einen schmerzenden Schmerz in den unteren Kreuzbein- oder Steißbeinsegmenten, insbesondere beim Sitzen auf ebenen und harten Oberflächen. Die Schwere der Schmerzen variiert. Aktivitäten, die zu einer erhöhten Belastung des M. levator ani führen, wie Stuhlgang und Geschlechtsverkehr, können bei solchen Patientinnen und Patienten ebenfalls zu einer Verstärkung der Symptome führen.

Aus eigener Erfahrung präsentieren sich die Patientinnen und Patienten auf dem ersten Blick zwar mit sehr unterschiedlichen Beschwerden, jedoch nach Behandlung von über 700 Patientinnen und Patienten kann durchaus ein Muster erkannt werden:

Zunächst fällt auf, dass alle Patientinnen und Patienten eine nach vorne geneigte, häufig leicht seitliche Sitzposition im Sprechzimmer einnehmen, da die nach hinten geneigte Sitzposition immer zu einer Schmerzverstärkung führt. Anamnestisch berichten alle Patientinnen und Patienten über eine „Arzt-Odyssee“ mit mehr als 3 erfolglosen Konsultationen meist über mehrere Jahre. Viele haben eine koloskopische, urologische, und gynäkologische Abklärung ohne Ergebnis hinter sich. Manche sind zudem erfolglos an einer Sinus pilonidalis operiert. Der größte Teil wird schmerztherapeutisch und psychologisch mit der Diagnose einer chronischen Schmerzstörung betreut. Durchgeführte Bildgebungen blieben ebenfalls unauffällig.

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