Übersichtsarbeiten - OUP 11/2016

Der Pararectus-Zugang – Innovation in der Azetabulumchirurgie

Marius J.B. Keel1, Andreas Thannheimer2

Zusammenfassung: Während über Jahrzehnte der ilioinguinale Zugang zur ventralen Versorgung von Azetabulumfrakturen verwendet wurde, haben aufgrund des beim alten Menschen veränderten Frakturmusters die intrapelvinen Zugänge, der modifizierte Stoppa-Zugang und der Pararectus-Zugang an Bedeutung gewonnen. Der Pararectus-Zugang verbindet die Vorteile der medialen Sicht des Stoppa- und des zweiten Fensters des ilioinguinalen Zugangs in einem Zugang. In dieser Übersichtsarbeit beschreibt der Erfinder des Zugangs die operative Technik, Vor- und Nachteile und die ersten mittelfristigen Resultate, sowie der erste internationale „Pararectus-Schüler“ seine Argumente für den Zugang.

Schlüsselwörter: Azetabulumfraktur, ilioinguinal, Pararectus, Stoppa, Seemöwenzeichen

Zitierweise
Keel MJB, Thannheimer A: Der Pararectus-Zugang – Innovation in der Azetabulumchirurgie.
OUP 2016; 11: 616–620 DOI 10.3238/oup.2016.0616–0620

Summary: During the last decades the ilioinguinal approach was the gold standard for the operative treatment of acetabular fractures involving predominantly the anterior column. Due to the new fracture patterns in elderly patients, the intrapelvic approaches, the modified Stoppa and the Pararectus approaches are becoming more popular. The Pararectus approach combines the advantages of the medial view through the modified Stoppa and the second window of ilioinguinal approach in one access. In this review article the inventor of this approach describes the operative technique, the pros and cons and the first midterm results, as well as the first international „Pararectus student“ gives his arguments for this approach.

Keywords: acetabular fracture, ilioinguinal, Pararectus, Stoppa, gull sign

Citation
Keel MJB, Thannheimer A: The Pararectus approach – innovation in acetabular surgery
OUP 2016; 11: 616–620 DOI 10.3238/oup.2016.0616–0620

Teil I von Marius Keel:
Aus der Sicht des Erfinders

Einleitung

Der Goldstandard bei der operativen Versorgung von Azetabulumfrakturen, die vor allem den vorderen Pfeiler betreffen, ist die offene Reposition und innere Fixation über den ilioinguinalen Zugang, der von Emile Letournel eingeführt wurde [1, 2]. In der Literatur werden zwischen 43–78 % anatomische Resultate anhand der postoperativen konventionellen Röntgenbilder beschrieben [1, 3–8]. In den letzten 2–3 Dekaden hat sich die Inzidenz von Azetabulumfrakturen beim alten Patienten verdoppelt. Dadurch hat sich auch das Frakturmuster geändert [9]. So werden deutlich mehr Frakturen mit Beteiligung des vorderen Pfeilers, Dislokationen der quadrilateralen Fläche und Impaktionen im Azetabulumdach beschrieben. Dies kann im Beckenübersichtsbild am Seemöwen-Zeichen („gull sign“) beobachtet werden (Abb. 1) [10]. In der großen retrospektiven Analyse von 816 Frakturen, die von Matta operativ versorgt wurden, waren das Alter > 65 Jahre und eine initiale Dislokation > 2 cm oder eine Vorderwandfraktur wichtige prädiktive Faktoren für ein späteres Versagen nach Osteosynthese mit der konsekutiven Implantation einer Hüfttotalprothese [6]. Im weiteren zeigte die Metaanalyse von Giannoudis, dass bei den typischen Altersfrakturen wie Vorderwand-, Voderpfeiler mit Hemiquerfraktur oder Zweipfeilerfrakturen mäßige oder schlechte Resultate in 30 % oder mehr zu beobachten sind [11]. Vor allem ist eine superomediale Domimpression prädiktiv für ein späteres Versagen nach Osteosynthese beim alten Patienten [10]. Zur Reposition und Fixation der medialisierten quadrilateralen Fläche haben Cole und Bohlhofner und Hirvensalo den anterioren intrapelvinen Zugang für die Azetabulumchirurgie eingeführt, der durch Stoppa in der Hernienchirurgie beschrieben wurde [2, 12–14]. In über 60–100 % der Fälle muss jedoch zur Reposition der Beckenschaufel und Fixation der Platte dorsal auch das erste Fenster des ilioinguinalen Zugangs eröffnet werden [15], obwohl die Fraktur häufig beim alten Patienten nur imkomplett bis in die Beckenschaufel frakturiert ist. In dem Sinne führt der Chirurg einen intrapelvinen Zugang und einen partiellen extrapelvinen Zugang gleichzeitig durch, doch das eigentliche Problem, die Azetabulumfraktur, liegt dazwischen. Beim Repositionsmanöver und bei der Fixation muss also ständig – wie beim ilioinguinalen Zugang – zwischen den Fenstern gewechselt werden. Aus diesen Gründen entwickelte die Beckengruppe in Bern den Pararectus-Zugang als intrapelvinen Zugang direkt über dem Gelenk [2, 16, 17]. Im Folgenden werden die operative Technik, Vor- und Nachteile und die bisher bekannten Resultate beschrieben.

Operative Technik

Die Hautinzision verläuft am lateralen Rand des M. rectus abdominis. Je nach Ausmaß des Abdomens, Frakturmuster und – falls es nötig ist das Iliosakralgelenk oder den Plexus lumbalis darzustellen – , kann die Inzisionslänge von 8–12 cm weiter nach kranial verlängert werden. Die Inzision verläuft zwischen dem medialen Drittel auf einer Hilfslinie zwischen der Symphye und der Spina iliaca anterior superior (SIAS) und dem lateralen Drittel auf der Hilfslinie zwischen SIAS und dem Nabel (Abb. 2) [16]. Nach Eröffnen der Externusaponeurose und des vorderen Rectusblatts, allenfalls auch des hinteren, falls die Inzision kranial des Nabels verlängert werden muss (Linea arcuata) werden als erste Strukturen medial das Peritoneum und nach lateral verlaufend die Vasa epigastrica inferior und der Ductus spermaticus, respektive bei der Frau das Ligamentum rotundum dargestellt (Abb. 3a). Anschließend werden das Vasa iliaca mit den begleitenden Lymphgefäßen und dem Nervus genitofemoralis als Ganzes angeschlungen (Abb. 3a). Von medial her wird nun die Corona mortis dargestellt. Dieses Gefäß kann in 80 % beobachtet werden als alleinige Vene, Arterie oder beides, und stellt eine Anastomose zwischen den Vasa iliaca externa und den Vasa obturatoria dar. Nun können die verschiedenen Fenster analog des ilioinguinalen Zugangs zwischen den wichtigen Strukturen exponiert werden. Meist ist nur das 2. Fenster zwischen dem Musculus iliopsoas und den Vasa iliaca externa, das anschließende 3. Fenster zwischen den Gefäßen und dem Samenstrang oder dem runden Ligament und medial davon das 4. Fenster nötig (Abb. 3a). Von großer Bedeutung für die Reposition und Fixation der quadrilateralen Fläche wird unterhalb der Linea terminalis, im Englischen als „pelvic brim“ beschrieben, der Musculus obturator internus abgelöst und die Vasa obturatoria und der Nervus obturatorius nach medial weggehalten (Abb. 3b). Dadurch wird das 5. Fenster entwickelt. Die Vasa obturatoria können auch ligiert werden und der Nerv dadurch separiert werden, ohne ihn nach medial wegzuhalten. Der Situs ermöglich nun die Reposition und Fixation ohne ständigen Wechsel der Fenster, vor allem auch mit Einsatz eines am Operationstisch fixierten Retraktors. Die Reposition der medialisierten quadrilateralen Fläche und des Femurkopfs gelingt mittels Zug an einer perkutan eingebrachten subtrochantären Schanzschraube mit T-Handgriff oder unter Verwendung eines Extensionstischs. Dieser vereinfacht auch beim alten Patienten mit nicht anatomisch rekonstruierbarer Azetabulumfraktur die simultane Implantation einer Hüfttotalprothese über einen anterioren minimalinvasiven Zugang (Abb. 4)

Vor- und Nachteile

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